Kulturwissenschaften und Europa
Cultural Collaboratory
Stefan Alexe: Die Virtualität als Extension des menschlichen Bewußtseins
  
This sense (...) I characterize as cyborg envy (Stone)

Evolution führt zu Technologie und Technologie  verführt zu Evolution;  wenn im 18. Buch der Ilias Hephaistos von künstlichen Menschen unterstützt wird, veranschaulichen diese Verse Homers zum ersten Mal das Konzept der technologischen Erweiterung des Menschen. Das Werkzeug, ursprünglich Extension menschlicher Organe, wird durch kontinuierliche Verbesserung, durch die Evolution technologischer Kompetenz zum künstlichen Menschen erweitert, der als Doppel das Schaffen des realen Menschen unterstützt oder sogar, mit Golemsgeduld und Automatenausdauer, fortführt.

Die Natur des Menschen wird von dem Drang nach Ausdehnung bestimmt; sie erweitert sich durch Werkzeuge, die von der Ebene reiner Mechanik über die Kraft der Elektrizität bis hin zur Macht von Informations- und Kommunikationstechnologien reichen. Der Weg ins Äußere kennt seine Grenzen, und die Erdverbundenheit bleibt wie zuvor der Stolperstein im Wunsche des Menschen, die Hürden des Räumlichen und Temporalen zu überwinden. Wenn schon das Dasein des Menschen vom Da-Sein mit Hilfe von Kommunikationsmitteln ansatzweise entbunden wurde, so konnte das Physikalische, das den Menschen an einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit  fesselt, doch nicht überwunden werden - als erster Schritt zeichnet sich jedoch die Expansion in eine virtuelle Realität ab. Daß bewußtseinsimulierende Geräte jemals das Tageslicht erblicken könnten, ist eine Illusion, die von der Künstlichen Intelligenz längst als falsch akzeptiert wurde. Aber selbst in den Cyberspace einzudringen, ist für den Menschen ein Weg, der größtenteils noch offen steht.

Programme sind Werkzeuge - "Tools" -, also Extensionen des Menschen; sie sind eine Chance, ihn von der physischen Gebundenheit zu einem Hier und Jetzt zu befreien und ihn in ein Medium zu versetzen, das ihn durch Interaktivität mit den virtuellen Welten des Anderen verbinden kann. So wie die automatischen Menschen ein Werkzeug waren, die in einem bestimmten historischen Kontext die mechanische Ebene unter allen Aspekten zu verwirklichen suchten und in den Visionen der Zeit zu einer zellteilartigen Generierung von menschenartigen Automaten führten, so wird heutzutage denselben Anforderungen, nur mit den diesem geschichtlichen Zeitpunkt spezifischen Lösungen, also auf informationstechnologischer Ebene - vom eindrucksvollen Cyberspace bis zum weniger "show"-artigen, aber dennoch mächtigen Hypertext, nachgegangen.

Die eingangs erwähnte "cyborg envy" - der "Cyborgneid" - drückt eben den Wunsch des Menschen nach einem holosthetischen Erlebnis aus - dieser Begriff, der von Stone geprägt wurde, soll in der Beschreibung des Mediums hilfreich sein, in dem ein Ereignis durch verschiedene sensorische Möglichkeiten erlebbar werden kann - die Intention der Herstellung virtueller Welten ist der Versuch, digital Veränderliches durch Reize im Psychischen so erscheinen zu lassen, als sei es physisch wahr. Die virtuelle Welt ist das holosthetische Medium per se. Doch hinter dem Erlebnisdrang, der meist immer als der primäre Faktor im Diskurs über Bewußtseinserweiterung durch Cyberspace angesehen wird, befindet sich die Notwendigkeit des Kontrollierbaren. Es werden keine virtuellen Welten entstehen, die sich dem erkennenden Subjekt entziehen können, da somit Beherrschbarkeit und Produktivität in Frage stehen. Wo die Autonomie der Maschine beginnt, dort hört die virtuelle Welt auf zu sein, da absolute Holosthesia von ihren Designern immer mit dem Konzept der Beherrschbarkeit des Mediums zu verbinden ist. Ein viel kraftvolleres Instrument im Dienste der Holosthesia ist das WWW - selbst wenn es erst eine textuelle Seite der Erweiterung im Cyberspace liefert, und nicht eine bildhafte, wie VR oder das noch nicht sehr verbreitete, weil viel Bandbreite verbrauchende, VRML.

Doch dieses durch Informationstechnologie immer weiter entwickeltes "medium" entpuppt sich als ein neues "meaning". Die virtuelle Welt besitzt eine digitale Ausdehnung, sei sie bildlicher oder textueller Natur. Die Identitätsbehauptung des menschlichen Geists versteht sich auch als Bewußtsein des Sich-an-einem-bestimmten-Ort-befindlichen - nur zu oft wird die Notwendigkeit von "Karten", von Orientierungshilfen im WWW hervorgehoben. Die Forderung für die Akzeptierung der geographischen Dimension des menschlichen Bewußtsein wird demzufolge erst in diesem Medium besonders hervorgehoben. Hatte man im linearen Medium (ungeachtet der holosthetischen Ebene, die ihm spezifisch war) nur einem "thread" folgen müssen, so führt das Labyrinthische des Hypertexts zu einer neuen Dimension, zur Schwerpunktbildung.

Der physikalische Raum verdichtet sich im Bewußtsein, hinter der Aufnahme durch das sensorische Interface, zu einem sich in Werte differenzierenden Raum. Bis zu einer Mythologisierung eines solchen Raums ist es meistens nur ein Schritt. So schreibt z. B. David Thomas:

This mytho-logic suggests that one of cyberspace’s more fundamental social functions is to serve as a medfium to communicate a form of gnosis, mystical knowlegde about the nature of things and how they came to be what they are.
Dies verdeutlicht jedoch nicht in erster Reihe eine mythologische, verehrende Haltung vor einem neuem Medium, dem gehuldigt wird, um sich selbst zu bejahen, sondern zuerst die Tatsache, daß mythologischer und physikalischer Raum begrifflich voneinander getrennt werden sollen, da ihre Merkmale sie voneinander ausschließen. Wie Hübner in seiner wertvollen Arbeit "Die Wahrheit des Mythos" zeigt, ist der mythische Raum nicht nur eine Summe willkürlich austauschbarer Punkte, sondern charakterisiert sich durch die absolute Lage seiner Inhalte - das heißt, daß jedes Objekt sich nicht nur durch seinen Wert, sondern den Wert seiner Lage charakterisiert. Nicht nur der Inhalt ist wichtig, sondern auch der Ort, an dem sich dieser Inhalt befindet - eine Haltung, die der Selbstfindung in der Ortlosigkeit virtueller Räume sehr wohl entspricht. Aus der Vielfalt der möglichen Orte wird ein Bild des Gesamten konstruiert, ein "thread" verfolgt, ein Sinn hergestellt: die physikalische Ausdehnung erduldet die Erweiterung von Bewußtseinsstrukturen und erlebt die Gestaltung virtueller Realitäten mit mythologischen Strukturen.

Doch die Frage bleibt offen, wie Virtualität sich als Extension des Menschen überhaupt behaupten wird. Das Wissen um das Wo-Sein, um die genaue Position in dem zu beherrschenden Raum bringt dem Menschen zwar einen Anhaltspunkt in dem er sich definieren kann, verändert jedoch zugleich, wie jede Technologie auch, das Weltbild, das er mit sich führt, und somit die Evolution, die er einschlagen wird. Letztendlich kann das Topologische nur Anfangspunkt zur Selbsterkenntnis sein und somit zur Erweiterung des Weltbildes und in das Weltbild hinein führen, und nimmt in seiner Virtualität nur eine relative Position zum Weltverständnis ein.



Literatur:
Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos, C. H. Beck, München 1985. [zurück zum Text]
Stone, Allucquere Rosanne, Will the Real Body Please Stand Up?: Boundary Stories about Virtual Cultures, Cyberspace: The First Steps, Benedikt, ed. MIT Press, Cambridge, 1991.  S. 108. [zurück zum Text]
Tomas, David, Old Rituals for a New Space: Rites de Passage and William Gibson's Cultural Model of Cyberspace, Cyberspace: The First Steps, Benedikt, ed. MIT Press, Cambridge, 1991.  p. 41, in: Mark D. Pesce: Final Amputation: Pathogenic Ontology in Cyberspace, at the Third International Conference on Cyberspace of Texas, May 1993. [zurück zum Text]
 
Stefan Alexe (Bucuresti)
 
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