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Samira Kortantamer (Izmir) [BIO]

Der Begriff "Zivilisation" im Arabischen zur Zeit des klassischen Islams

 

Der Begriff "Zivilisation " wird in der arabischen Sprache mit zwei Wörtern wiedergegeben: "al-Hadara" und "al-Madaniyya". "Al-Hadara" kommt von "Hadar", das "sebhafte Bevölkerung, Städter (im Gegensatz zu Nomaden)" bedeutet , und "al-Madaniyya" wird von "Madina" abgeleitet, das für "die Stadt" steht. Im Mittelalter wurde noch ein drittes Wort für "Zivilisation" benutzt und zwar "al-Umran", das von "amara" kommt und die Bedeutung "bewohnen, bauen, errichten, bevölkert sein, kultiviert sein" aufweist. Wie aus dem Erwähnten zu ersehen ist, verbindet sich der Begriff "Zivilisation" im Arabischen mit der "sebhaften Bevölkerung" und "der Stadt".

Das Wort "Madina" (die Stadt) wird von einigen Wissenschaftlern des 10. Jahrhunderts auch im erweiterten Sinne verwendet. Der berühmte Philosoph , Arzt , Mathematiker und Musikologe des Mittelalters al-Farabi (gest. 950) - im Abendland als "Alpharabius" bekannt -nennt eines seiner Werke "al-Madina al-Fadila" ("die ausgezeichnete Stadt") und meint mit dem Wort "Stadt" hier "den Staat". Der von Plato stark beeinflubte al-Farabi stellt in seinem Werk seine Vorstellung eines idealen , utopischen Staates - eines Musterstaates - dar.

Im 11. Jahrhundert verwendet der Mathematiker , Historiker und Geograph al-Biruni (gest. 1050) für "Zivilisation" das Wort "Temeddun", das von "Madina" (die Stadt) abgeleitet ist. Er teilt die Welt der Zivilisation in zwei Teile, in die östliche und die westliche. Al-Birunis Auffassung nach vertreten die Chinesen, Türken (vor dem Islam) und Inder die östliche Zivilisation. Die islamische Zivilisation zählt er jedoch zur westlichen Zivilisation, da er sie für die Fortsetzung der griechischen Zivilisation hält.

Im 14. Jahrhundert beschäftigt sich der berühmte Historiker, Geschichtstheoretiker und Soziologe Ibn Chaldun (gest. 1406) mit dem Begriff "Zivilisation". In seinem weltbekannten Werk "al-Mukaddime" ("Einleitung" zur Geschichte) behandelt er die beiden Begriffe "al-Umran" und "al-Hadara". Der Begriff "al-Umran" wird vom arabischen Verb "amara" abgeleitet und hat folgende Bedeutungen: "lange leben, gedeihen, blühen, bewohnt sein, kultiviert sein, bewohnen, bauen, errichten". Ibn Chaldun verbindet den Begriff "Umran" mit dem Stadtleben, und zwar je gröber die Stadt ist - als Beispiele gibt er Bagdad, Cordoba, Kayrawan, Basra und Kufah an - umsomehr entwickeln sich dort die verschiedenen Wissenschaften und Künste.

Der Begriff "al-Hadara" wird vom arabischen Verb "hadara" abgeleitet und hat die folgenden Bedeutungen: "anwesend sein, teilnehmen, kommen, ansässig sein". Für Ibn Chaldun bedeutet der Begriff "al-Hadara" ein verfeinerter, luxuriöser Lebensstil, Wohlstand und Lebensgenub verbunden mit einer Vielfalt von verschiedenen entwickelten Künsten in den verschiedenen Bereichen des Lebens, wie Kleidung, Speisen, Möbel, Gebäude usw. Ibn Chaldun bringt auberdem die Begriffe "al-Umran" und "al-Hadara" in Beziehung zueinander, indem er behauptet, dab je gröber der "Umran" ist, desto vollkommener wird die "Hadara". Im Gegensatz zum "Badawi", dem in der Wüste lebenden Nomaden, dem Beduinen, bedeutet "Hadari" der in der Stadt ansässige , nicht nomadisierende Städter. Da sich die Zivilisation in den Städten entwickelt und dort zur Blüte kommt, beteiligt sich der Städter, der auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaften, Handwerke und Künste tätig ist, daran. Für Ibn Chaldun ist die Entstehung und Entwicklung einer Zivilisation in der Stadt möglich, wobei die Stadt / Städte für die Entwicklung eines Staates erforderlich ist /sind, sodab mit der Stärke des Staates die Zivilisation sich entwickelt und zur Blüte kommt.

Was die arabische Zivilisation angeht, so kann man sie bis in die vorislamische Zeit zurückverfolgen. Die älteste arabische Zivilisation entstand im Jemen einige Jahrhunderte vor Christus. Zur Zeit des römischen Reiches begegnen wir einigen arabischen Staaten wie z.B. dem Staat der Nabatäer östlich des Toten Meeres mit der Hauptstadt Petra und dem westlich des Euphrates liegenden Staat von Palmyra. In der folgenden Epoche , als die beiden groben Reiche, das byzantinische und das persisch-sassanidische, um die Herrschaft im Nahen Osten rangen, standen der Staat der Gassaniden in Syrien unter byzantinischem und der Staat von Hira im Irak unter sassanidischem Schutz.

Im Gegensatz zu den oben genannten Randgebieten der Arabischen Halbinsel weist das Innere der Halbinsel, der Hedschas, äuberst ungünstige geographische Verhältnisse auf, die sich auf die Bildung eines Staates negativ auswirkten. In der Zeit vor dem Islam , die "Djahiliyya" genant wird, treffen wir dort auf keinen Staat, sondern auf verschiedene arabische Stämme, von denen einige in Städten wohnten - wie Mekka, Medina und Taif - andere jedoch ein Nomadenleben führten. Da das Gebiet auf der groben Handelsstrabe zwischen dem Fernen Osten und dem Mittelmeer liegt, beschäftigten sich die Araber dort schon seit Jahrhunderten mit dem Handel und spielten auf diesem Gebiet eine wichtige Rolle. Auber dem Handel nahm die Dichtung eine äuberst bedeutende Stellung bei den Arabern ein. Da dem Wort grobe Bedeutung, Wirkung und Ausstrahlung beigemessen wurde, erfreuten sich Gedichte und Rhetorik grober Beliebtheit. Sie wurden sehr gepflegt und nahmen im sozialen Leben der Araber einen äuberst wichtigen Platz ein. So entwickelte sich die arabische Sprache schon vor dem Islam zu einer Literatursprache von hohem Niveau.

Mit dem Auftreten des Islams im 7. Jahrhundert machte der Hedschas nicht nur auf religiösem sondern auch auf politischem Gebiet eine grobe Veränderung durch. Der Prophet Muhammad verkündete nicht nur eine neue Religion, sondern gründete auch den ersten Staat im Hedschas. Unter seinen Nachfolgern, den Kalifen, vergröberte sich der arabische Staat durch die Eroberungen von Ägypten, Nordafrika, Syrien, dem Irak, Persien und Mittelasien um ein Mehrfaches. Mit der Zeit verbreitete sich die islamische Religion und die arabisch Sprache, zunächst als die Sprache des Korans und allmählich auch als die Sprache der Wissenschaft - ähnlich dem Lateinischen in Europa.

Durch ihre Eroberungen stieben die Araber auf Gebiete mit alten Kulturen und Zivilisationen. In Ägypten und Syrien machten sie mit der römisch-byzantinischen , im Irak mit der persisch-sassanidischen Zivilisation Bekanntschaft. So wurden die Omayyaden mit der Hauptstadt Damaskus in den Anfängen ihrer Herrschaft auf verschiedenen Gebieten, wie z.B. des Staatswesens und der Architektur, von der byzantinischen und die Abbasiden mit der Hauptstadt Bagdad mehr von der sassanidischen Zivilisation beeinflubt.

Im Laufe der Zeit vermengten sich die verschiedenen alten Kulturen im arabischen Reich mit der arabischen Kultur, dessen stärkste Träger die arabische Sprache und die islamische Religion darstellten, und brachten allmählich eine neue Zivilisation zum Vorschein, nämlich die arabische-islamische Zivilisation. Die intensiven Übersetzungsarbeiten zur Zeit der Abbasiden , bei denen Werke verschiedener Wissenschaftszweige aus dem Griechischen, Lateinischen, Persischen, Indischen, Hebräischen, Koptischen und Assyrischen ins Arabische übersetzt wurden, bereiteten das Fundament für die muslimischen Gelehrten vor, die darauf aufbauten, ihre Forschungen trieben , neue Erkenntnisse entwickelten und zu bedeutenden Ergebnissen gelangten. Die Entwicklung in den Wissenschaften läbt sich auch in den Künsten beobachten. Die wachsende und sich etablierende islamische östliche Zivilisation vertrat mit der Zeit die islamische Welt, so wie es die westliche Zivilisation für die westliche Welt tat.

Dieser Dualismus bewegte auch die intellektuellen Araber in der Neuzeit. Durch den Imperialismus der Westmächte in den arabischen Ländern wurden die Araber noch mehr mit der westlichen Zivilisation konfrontiert und begannen sich damit auseinanderzusetzen. Sie akzeptierten den Fortschritt und die Überlegenheit des Westens auf technischen und wissenschaftlichen Gebieten und plädierten für seinen Gebrauch in den arabischen Ländern. Dabei betonten sie jedoch, dab die eigene Zivilisation nicht aufgegeben werden sollte. Diese Meinung vertreten besonders die Nationalisten, für die die eigenen nationalen, arabischen Werte in der Kultur und Zivilisation von zentraler Bedeutung sind. Jedoch die Islamisten unter den Arabern lehnen die westliche Zivilisation mit Ausnahme des technischen Bereiches ab und setzen den islamischen Aspekt in der eigenen Zivilisation über den arabischen Aspekt. Andere intellektuelle Araber, die meistens eine westliche Ausbildung genossen haben, plädieren für die Übernahme der westlichen Zivilisation auf fast allen Gebieten.

Wie aus dem obigen Text zu ersehen ist, hat sich mit der Entstehung eines arabischen Staates im 7. Jahrhundert und der Eroberung mehrerer Gebiete alter Kulturen und Zivilisationen allmählich die arabisch-islamische Zivilisation herausgebildet. So wurde der arabische Begriff für Zivilisation schon im Mittelalter von einigen groben Gelehrten der Zeit eingehend behandelt. Dabei ist zu bemerken, dab die Erklärung des Begriffes Zivilisation in Frankreich im 19. Jahrhundert eine grobe Ähnlichkeit mit derjenigen des arabischen Soziologen und Historikers des 14. Jahrhunderts, des Ibn Chaldun, aufweist. Die Konfrontation mit der westlichen Zivilisation in der Neuzeit führte zu verschiedenen Einstellungen der arabischen Intellektuellen, deren Gedanken heute noch in der arabischen Welt Anhänger finden.

 

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