Kulturwissenschaften und Europa 
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Anil Bhatti (New Delhi)

Kulturdiskussion in Indien

 

Ähnlich wie in Europa ist der Gebrauch des Kulturbegriffs und des Kulturarguments in Indien ein Resultat des Prozesses der Ausdifferenzierung der Moderne. In Indien steht dieser Prozess seit dem neunzehnten Jahrhundert unter dem Zeichen des Kolonialismus. Der gesellschaftspolitische Wandel führt dazu, daß bisher holistisch erfaßte Bereiche und Zusammenhänge der Lebenswelt nun gesondert zur Disposition stehen. Sie sind diskursiv vorhanden. Im Zusammenhang mit der neuen Wirklichkeit, aber auch oft gegen sie, wird Kultur der Bereich, der abgehoben von dem Bereich der materiellen Produktion von Lebensverhältnissen nun in den symbolischen Produktionsbereichen von Signifikation und Sinngebung evident wird. Sitten und Bräuche, Tradition und Religion, die darstellende Künste usw. werden entweder verteidigt oder reformiert oder sogar radikal verworfen, um eine neue Variation indischer Gleichzeitigkeit verschiedener Gesellschaftsformationen zu erreichen.

Diskussionen über "Kultur" im indischen Zusammenhang sind von der Diversität und der Gleichzeitigkeit verschiedener Gesellschaftsformationen in Indien und auch von der kolonialen und postkolonialen Situation geprägt. Es sei daran erinnert, daß wir es in Indien mit ca. 1.652 Muttersprachen, vier Sprachfamilien und zehn Schriftarten zu tun haben. Mehrere Weltreligionen (Hinduismus, Islam, Christentum, Sikhismus, Jainismus, Buddhismus), animistische Kulte, eine große Zahl von religiösen Sekten und Glaubensrichtungen sind in Indien vertreten. Die ethnische Vielfalt entspricht der subkontinentalen Größe des Landes.

Das Kulturproblem beginnt Ende des 19.Jhdts verschärft artikuliert zu werden. Die koloniale Kultur (sichtbar in der Bauweise der neuen Cantoments, d.h. Stadtteile mit vorwiegend englischer bzw. anglo-indischer Bevölkerung, die von den indischen Stadtteilen abgehoben sind), und die Hindu- und Muslim- Gesellschaftsschichten bzw. Kulturen beginnen sich in Konflikt- und Austausch-Verhältnisse neu zu gruppieren. Im Bildungsbereich gibt es zunehmend Versuche, moderne Bildungsinstitutionen aufzubauen, die die englische Sprache als Bildungsmedium übernehmen, und weiters gibt es Versuche, altindische Bildungsmodelle im Hinduismus und Islam zu bewahren. Es entsteht langsam die typische Misch- und Überlagerungsform urbaner indischer Kultur, die dann für die koloniale und postkoloniale Situation kennzeichnend ist.

Die Tatsache, daß das moderne Indien ein Resultat von zwei gleichzeitigen Kampfprozessen ist, nämlich dem Befreiungskampf gegen den Kolonialismus und dem Emanzipationskampf gegen den Feudalismus, bedeutet, daß Kulturargumente in Indien zum umstrittenen Terrain werden. Das Ganze drückt sich als Prozeß der Demokratisierung aus, wobei Erfolge und Rückschläge im Prozeß eingebaut sind.

Im engeren bürokratischen Sinn umfaßt der Kulturbegriff - wie anderswo auch - den Bereich institutionalisierter Kreativität, ihre Ausbildungsstrukturen (sowohl traditioneller Art wie auch im Rahmen moderner Kunstakademien) und deren verschiedene Formen in Tanz, Theater, Musik, Radio, Film, bildende Kunst, Literatur usw., die dann Teil ministerieller Pflege (die Museen gehören ebenfalls dazu) werden. Die Ressorts in indischen Kultusministerien sind international vergleichbar.

Im allgemeinsten Sinne bezeichnen Kulturbegriffe aber den symbolischen Bereich, der Sprache, Tradition, Sitte und Institutionen historisch konstituiert. Läßt man den historischen Aspekt außer Acht, wird Tradition eingefroren und politisch einsetzbar für partikularistische Zwecke. In diesem Sinne ist die indische Kulturdiskussion wesentlich eine Diskussion über die Interpretation von Nutzen und Nachteilen von Tradition Parampara und deren Artikulation als Sabhyata und Sanskriti, die z.B. im Hindi für den Kulturbereich parallel verwendet werden. Der relativ neutrale Ausdruck Sabhyata bezeichnet wie seine Entsprechungen in Europa das Moment der Kultivierung, der Verfeinerung und des Gebildeten im Gegensatz zum Ungehobelten und Grobem und Ungebildeten. Sanskriti  appelliert an die "Große Tradition", die, wie das Wort vermuten läßt, an die normative Kraft der alt-hinduistischen Tradition (verkörpert durch die klassische Sanskrit-Sprache) appelliert. Bereits die staatlich legitimierte Verwendung von Sanskriti signalisiert die Affinität zur Sanskrit-Tradition, die wiederum die Hindu-Tradition evoziert. Innerhalb der Hindu-Tradition werden aber gleichzeitig die Dalits als sogenannte Unterkaste ausgeschlossen. Das Kulturargument setzt sich als Inklusion-Exklusionsmodell durch. Moslems, Christen werden qua Moslems, Christen ausgeschlossen oder als letztlich Teil einer Hindu-Kultur (Hindutva, Hindu way of life, "Hindutum") assimiliert. Sikhs und Jains und Buddhisten gelten als Hindu-Ableger, die von der offiziellen Hindu-Tradition inkludiert werden können. Ebenso werden die nicht-sanskritischen Traditionen zum zweiten Rang relegiert.

Im multikulturellen indischen Staat führt dieser Gebrauch zur Normierung eines hegemonialen Kulturbegriffs, zur Homogenisierung und Nivellierung der Diversität, und dies wiederum führt zur Dominanz der Majorität (d.h. Hindus) im Staat. Innerhalb dieser Majorität werden dann wiederum hegemoniale Strukturen (Klasse, Kaste) gefestigt. Der Gebrauch des Kulturbegriffs signalisiert also ein umkämpftes Terrain. Man vergißt wie sehr Begriffe wie Toleranz, non-violence etc. Konstruktionen sind. Unser gegenwärtiger kultureller Handlungsbedarf wird häufig durch den Rekurs auf vermeintlich ewiggültige Traditionen sanktioniert. Es ist eine fehlerhafte Projektion von einer homogenen Hindu-Gemeinschaft im indischen Altertum zu sprechen. Vielmehr gab es verschiedene Richtungen, Sekten etc. Um die Forderungen der Gegenwart zu erfüllen, selektiert man passende Elemente aus der Vergangenheit, um eine Homogenität zu suggerieren, die historisch nicht zu belegen ist. Eher ist eine große Diversität und gesellschaftliche Komplexität und Praktiken, die sich widersprechen, aufzufinden.

Homogenisierung der Tradition bedeutet, daß Volkstraditionen ausgeschlossen sind von der Hochkultur. Sie gehören in die Reservate. Ebenfalls sind Frauen und Dalits (die sogenannten Unberührbaren) auch ausgeschlossen. Gegen Fundamentalismen jeglicher Richtung (Hindu, Moslem, Sikh und Christen) wird als Gegenbild der Säkularismus betont. Nehru hatte mit dem Bild des Palimpsests Indiens Kultur als Mischkultur positiv besetzt. Jeder Versuch, eine kulturelle Urschicht zu verdinglichen, führt zur Homogenisierung und zum Ausschluß. Im sozialen Bereich versuchte Gandhi die unteren Kasten in das System der Hindu-Kasten einzugliedern in der Form einer sozialen Aussöhnung. Aber Dalits haben den Weg zu anderen Religionen gewählt (hauptsächlich den Buddhismus), um aus dem Zwangskorsett des hinduistischen Kastensystems auszubrechen.

Die Teilung Indiens ist in der Wahrnehmung dieser Widersprüche vorprogrammiert. Auf kultureller Ebene bedeutet die Teilung die Weigerung, koloniale Befreiung als antifeudalistische und antikoloniale Bewegung aufzufassen und einen säkularen Staat in Gesamtindien zu errichten. Sowohl Hindu wie Moslem-Fundamentalismen verabsolutieren den Religionsunterschied zum Kulturunterschied und verweigern ihre Zustimmung in der Sache einer Entwicklung einer säkularen Öffentlichkeit. Das Resultat ist ein islamischer Staat Pakistan und ein formal säkularer Staat Indien, dessen Verfassung die Trennung zwischen Religion und Staat verankert. Der Widerspruch zwischen Verfassungsutopie und gesellschaftlicher Wirklichkeit ist dann der Motor der indischen Spannung im Bereich der Kultur und Politik in der Epoche postkolonialer Staatsformation. Kultur als System der Signifikation, die eine oft verwirrende Skala der Diversität umfaßt, ist dann nicht ein organisches Ganzes, das als "way of life" charakterisiert werden kann, sondern eher als "ways of struggle".


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