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Naoji Kimura (Tokio)

Kulturbegriff in japanischer Sprache

 

Im Japanischen gibt es eine Äquivalenz für Kultur, die im sogenannten Romaji als bunka ausgesprochen und mit chinesischen Schriftzeichen als geschrieben wird. Jedes Schriftzeichen hat vom Chinesischen her seine ursprünglichen Bedeutungen, so daß als solches etwa Satz oder Schrift bedeutet, während für Änderung im allgemeinen steht. Aber die Zusammensetzung der beiden Schriftzeichen ergibt einen anderen Sinn und entspricht annähernd dem Bedeutungsgehalt von Kultur, ist sie doch in der frühen Meiji-Zeit für das Wort culture bzw. Kultur gleichsam neu geprägt worden. In der vorangegangenen Edo-Zeit bezeichnete sie die auf einem chinesischen Ausdruck beruhende kaiserliche Regierungsepoche von 1804 bis 1818. Sie stellt daher eine Art Lehnübersetzung aus dem Chinesischen dar wie so viele Neuprägungen, die man in der japanischen Sprache seit der ersten Begegnung mit europäischen Sprachen im 16. Jahrhundert ständig gebildet hat.

Dabei verwendete man für das Wort civilization bzw. Zivilisation die Zusammensetzung , deren zweites Schriftzeichen hell oder licht bedeutet, und hat sie vielfach unter dem Einfluß des deutschen Sprachgebrauchs der anderen Zusammensetzung gegenübergestellt. Es gehört ja zur Tradition der neueren deutschen Philosophie, die geistige Kultur in Gegensatz zur materiellen Zivilisation zu stellen. In einem einschlägigen Wörterbuch der japanischen Sprache werden denn auch nach der semantischen Erklärung des Stichwortes bunka folgende deutsche Wörter für die Erklärung untergeordneter Zusammensetzungen im Japanischen angeführt: Kulturstaat , Kulturwissenschaft , Kulturpädagogik , Kultursoziologie , Kulturphilosophie , Kulturkampf . Auch wenn keine deutschen Ausdrücke angegeben sind, kann man ebenfalls andere untergeordnete Stichwörter damit versehen wie Kulturgeschichte , Kulturanthropologie , Kulturgüter , Kulturwert , Kulturerbe usf. Die Bildung von Zusammensetzungen ist im Japanischen lexigraphisch ebenso leicht wie im Deutschen.

Um zu demonstrieren, wie stark der Einfluß der deutschen Kulturphilosophie auf den japanischen Begriff der Kultur war, sollen die Erklärungen der faktisch als Übersetzungswörter gekennzeichneten japanischen Stichwörter in dem oben genannten Wörterbuch in deutscher Übersetzung wiedergegeben werden. Vorausgesetzt wird freilich, daß Kultur sich vom Naturzustand unterscheidet und der Mensch sie vor allem durch das Lernen von der bestehenden Gesellschaft her sich aneignet. So macht auch der Kult mit all seinen Sitten und Bräuchen in den sog. Naturreligionen der Welt die allgemeine Kultur der Menschheit aus. Dazu kommt eine spezielle Kultur je nach Rasse, Volk, Sprache, Religion oder Nation, die dann mit verschiedenen Adjektiven bezeichnet wird wie z.B. alte japanische shintoistische Kultur.

1) Kulturwissenschaft
Im Gegensatz zur Naturwissenschaft, die zur Aufstellung von Gesetz die Allgemeinheit des Gegenstandes klarmacht, eine Wissenschaft, die die einmalige Besonderheit der Dinge beschreibt. Die Benennung nach der von Rickert vertretenen Einteilung der Wissenschaften.
2) Kulturpädagogik
Eine Pädagogik, die als Grundprinzip der Erziehung den Wert der geschichtlichen Kultur betont. Ihre Verfechter sind Dilthey, Spranger, Kerschensteiner u.a.
3) Kulturstaat
Eine Begriffsbildung im Gegensatz zum Polizeistaat. Ein Staat, der es zu seinem höchsten Ziel setzt, die Kultur zu schaffen, zu erhalten und zu entwickeln.
4) Kulturphilosophie
Im weiteren Sinne identisch mit der Philosophie des Geistes. Im engeren Sinne philosophische Betrachtungen über die Prinzipien der Kulturwissenschaft sowie des Kulturlebens. Zu ihrem Forschungsgegenstand gehören Bedeutung, Wesen, Faktoren und Strukturen der Kultur sowie deren Entwicklungsrichtungen und Gesetze.
5) Kultursoziologie
Eine Soziologie, die besonders die menschliche Kultur als Forschungsgegenstand ins Auge faßt.
6) Kulturkampf
Eine Bewegung, die nach dem Preußisch-Französischen Krieg unter Bismarck gegen die katholische Kirche geführt wurde.

Von diesen Erklärungen in japanischer Sprache erweist sich allerdings diejenige über Kulturwissenschaft als recht überholt. Denn sie wird doch heutzutage im deutschen Sprachraum meist in der Pluralform als eine disziplinäre Entsprechung für cultural studies gebraucht. Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften sind gewiß schon lange im japanischen Wortschatz als  etabliert. Aber die Kulturwissenschaft im Sinne von Gesamtwissenschaft, die alle kulturellen Erscheinungen im Unterschied zu Naturerscheinungen sinngemäß zu verstehen und wesensgemäß zu erfassen sucht, erscheint sprachlich zu vieldeutig, um eine wissenschaftliche Disziplin genannt zu werden. Im Plural scheint sie vielmehr mit dem Begriff von humanities verwandt zu sein, die in japanischer Sprache nicht als , sondern als bezeichnet werden. Das erste Schriftzeichen bedeutet dabei Mensch bzw. Menschheit, und das dritte steht generell für Wissenschaft, weil diese sonst in erster Linie die Naturwissenschaft meint. Im Japanischen würde man für cultural studies eher verwenden, wie für area studies gebraucht wird. Mit dem Wort ist die Forschung bzw. Untersuchung gleich wie die Studien bezeichnet.

Auf diese Weise wird die Kultur in Japan heute noch fast im Sinne von Bildung höher geschätzt als die Zivilisation. Aber in der Meiji-Zeit, als die japanischen Intellektuellen sich zunächst aufgrund der englischen Sprachkenntnisse der anglo-amerikanischen Welt zuwandten, haben sie sich nicht nur mit der westlichen Naturwissenschaft und Technik beschäftigt, sondern auch mit der praxisorientierten Rechts- oder Wirtschaftswissenschaft. So haben sie unter der Zivilisation gleichfalls eine Aufklärung in allen Bereichen des Gesellschaftslebens verstanden und von einem gesprochen. bedeutet dabei Öffnung, Offenheit oder Aufgeschlossensein. Deshalb ist für Kulturkritik im Japanischen nach wie vor das Wort (=Zivilisationskritik) gebräuchlich, das alle Phänomene in Gedankenwelt, Kultur, Sitten und Bräuchen, Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft usw. einbezieht. In der Welt, wo die geistigen Werte weitgehend durch die technischen Medien vermittelt und vernetzt werden, dürfte die wertende Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation nicht mehr von Bedeutung sein, wenngleich der unterschiedliche Wortgebrauch in der japanischen Sprache traditionsgemäß noch lange bestehen bleiben wird.


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