Kulturwissenschaften und Europa 

oder die Realität der Virtualität 

Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften

Guram (Wachtang) Lebanidze (Tbilissi)

Abgrunddenken und Kulturidee

 

Das Thema "Kultur" scheint zum Verhängnis des heutigen Abendlandes geworden zu sein. Das Verhängnisvolle dieses Themas soll an der Einzigartigkeit der postmodernistischen Situation liegen: nach dem schon im Rahmen der Moderne geschehenen "Gottestod" ist ja auch der Mensch "gestorben", und was uns noch zur Thematisierung übrig bleibt, ist eben "Kultur" oder das, wir seit jeher krampfhaft - damit bezeichnen wollen. Und wie sollte es uns anders gelingen, in unserem gott- und menschenlos gewordenen, nur simulakrisch gestalteten Gedankenraum so lebendig scheinende Textströme zu lokalisieren? Aber - und damit möchten wir eine andere, vielleicht tiefer liegende Dimension des verhängnisvoll gewordenen Kulturthemas zu Tage treten lassen - dieses Thema scheint uns auch ein Ausdruck einer Gebärde des heutigen Abendlands zu sein, einer Gebärde, die in ihrer noch verborgenen, uns zur Deutung mahnenden Tiefe das geschichtlich und existentiell Wesentlichste des Epoche trägt.

Erinnern wir uns an Hölderlins Worte:

Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.

Man versteht sehr leicht, worin die Gefahr besteht. Es ist ja üblich geworden, die heutige Wirklichkeit als "Ära der Leere" (G. Lipovetsky) und mehr noch als Epoche der "anthropologischen Katastrophe" (M. Mamardaschwili) oder des "Existentiellen Vakuums" (V. Frankl) zu bezeichnen. Worin könnte aber "das Rettende" bestehen? Wo und wie könnte man es sichtbar machen und was noch wichtiger zu sein scheint es konzeptuell ausdrücken? Paradoxerweise (und wie könnte Rettung im epochalen Sinne ohne Paradoxe denkbar sein?) wollen wir diese Rettung aber im verhängnisvoll und gebärdenhaft gewordenen Kulturthema erblicken. Das heißt: Wir möchten das Kulturphänomen so bestimmen, daß diese Bestimmung die hermetische Enge der postmodernistischen Gegenwart "sprengen" und als geistige "Brücke" zwischen der Vergangenheit und der Zukunft wirken könnte.

Das wird aber nur möglich sein, wenn wir uns auf folgende gedankliche Prämissen stützen:

  1. auf jene Deutung der Gegenwart, die in ihrem stufenweisen "Tiefgang" die Leere der Gegenwart als Tiefe und letzten Endes- als Abgrund versteht;
  2. auf die Hermeneutik des Abendlandes, die das Abendland in Gegenüberstellung zum Morgenland als eine anthropologische Idee und als ein anthropologisches Ereignis zu deuten versucht;
  3. auf die aus dem Neuen Testament stammende und von P. Tillich aufgegriffene Kairosidee;
  4. auf die Kulturidee, die sich in der russischen Philosophie entwickelt hat.

Diese Prämissen könnten skizzenhaft wie folgt formuliert werden:

1. In unserem Versuch, die abendländische Gegenwart historiosophisch zu deuten, ordnen wir die phänomenologischen Merkmale der Gegenwart so ein, daß sie stufenweise in die Tiefe des Phänomens führen. So ergibt sich die folgende Reihenfolge der Merkmale:

Leere => Offenheit => Abgrund.

Bei der phänomenologischen Schau des heutigen Abendlandes zeigt sich dieses zuerst als Leere, dann aber wenn man versucht, phänomenologisch in seine Tiefe einzudringen wird diese Leere zur Offenheit (und dadurch verwandelt sich Phänomenologie in Historiosophie!) und letzten Endes als Abgrund erfaßt: Dieser Abgrund, den wir als eigentliche Tiefe des heutigen Abendlands deuten, wird von uns als der historiosophisch begriffener "Ort" bezeichnet, wo ein neuer Mensch, ein neues Bewußtsein geboren wird. Das ist der Abgrund, der in seiner Tiefe und seiner geschichtlichen Bedeutung jenem gleicht, der sich in der alexandrinischen Epoche (also vor der Geburt Christi) bildete und der mit der ihn bezeichnenden Offenheit ein Bereitsein zur Geburt einer völlig neuen Kultur bedeutete. Das ist meinen wir - der Grund dafür, daß wir unsere Gegenwart als Neoalexandrismus verstehen dürfen.

2. Wenn wir aber diesen Abgrund als Ereignis deuten - und dadurch wird das historiosophische Verständnis seines Sinnes "zu Ende" geführt -, müßten wir sagen, in seiner Tiefe wird jedesr von uns vor das folgende existenzielle Dilemma gestellt:

Egocid oder Personalisation des Ego.

Das Ego (das Ich) ist uns gegeben, was uns aber aufgegeben ist, ist die Wahl: entweder wird dieses ich von uns personalisiert (und wir werden zu Personen in dem Sinne, wie es die geschichtliche Begegnung von Antike und Christentum meint), oder wir "töten" (vernichten) dieses ich und eben das ist "Leere", "Katastrophe" und "existenzielles Vakuum", die uns unumgänglich bedrohen. Als Gefahr kann aber dieses Egocid nur im Raume des Abendlandes verstanden werden, denn im Morgenland hat es einen anderen - paradigmalen - Sinn. Historiosophisch müßten wir das Abendland als den geistigen "Ort" verstehen, wo der Mensch zur Personalisation des Ego "berufen" ist, und wenn es so etwas wie Tragik des Abendlandes gibt, besteht es in der noch und noch wiederholten Unfähigkeit, dieser Aufgabe der Personalisation des Ego gerecht zu sein.

3. Was sich aber auch fortwährend wiederholt, ist die Chance, die Möglichkeit der Personalisation wieder aufzugreifen - die Chance, die in ihrer Vielfalt gerade dann sich bietet, wenn die "Fülle" des Egocids "erreicht" ist ("wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch"). Damit verbindet sich der Sinn des griechischen Wortes "Kairos". Wie P. Tillich sagt: "Der Kairos das ist die Zeit, die zeigt, daß etwas geschehen ist, was ein Handeln möglich oder unmöglich macht". (So war die Zeit vor der Geburt Christi "Kairos" für das Aufkommen eines neuen Bewußtseins und einer neuen Kultur). Sollte man unsere Gegenwart nicht als "Kairos" verstehen Kairos für einen neuen, formal und inhaltlich unerwarteten Aufschwung der Personalisation? Und wie könnte man die Bestimmung des Kulturbegriffs mit der Perspektive so eines Aufschwungs verbinden? 

3. Wir wollen diese Frage mit dem Verständnis des Kulturbegriffs verbinden, das sich in der russischen Philosophie entwickelt hat mit dem Verständnis, daß keine Weiterentwicklung in der Kulturwissenschaft gefunden hat. N. Berdjaeff sagt dazu: "Kultur ist mit dem Kult verbunden. Sie entfaltet sich aus dem religiösen Kult. Sie ist Ergebnis einer Differentiation des Kults, seiner Entfaltung nach verschiedenen Richtungen. Philosophische Gedanken, wissenschaftliche Erkenntnis, Architektur, Malerei, Skulptur, Musik, Dichtung, Moral das alles ist wie organisches Ganzes im Kult vorgegeben in unentfalteter und nicht differenzierter Form". Etwas anders, aber prinzipiell ähnlich drückt sich P. Florenski aus: "Der Glaube bestimmt den Kult, der Kult aber bestimmt die Weltanschauung, aus der dann die Kultur hervorgeht". Lakonischer, aber in demselben Sinne sagt S. Bulgakow: "Der Kult ist geistiger Kern der Kultur".

Ist es aber unvermeidlbar, Kultur als Phänomen mit dem Kult im streng religiösen Sinn zu verbinden? Gerade das meinen wir wäre nicht nur für die Oberfläche, sondern auch für die Tiefe der Gegenwart unvereinbar unvereinbar für die freie Wahl angesichts des dilemmahaften Ereignisses, das sich im heutigen Abgrund abspielt. Das bedeutet aber, daß wir zwei wichtige Entscheidungen bei unserer Kulturdeutung treffen müssen:

  1. Wir müssen den Begriff "Kult" nicht religiös, sondern existenziell nämlich als ein Existenzial verstehen. Natürlich ist das exklusiv religiöse Verständnis sehr tief in unserem Bewußtsein (und in unserem Gedächtnis) verwurzelt (so bestimmt zum Beispiel Wahrig dieses Wort folgendermaßen: 1. Öffentlich geregelter Gottesdienst. 2. (fig. verehrungsvolle übertrieben sorgfältige Behandlung). Es scheint uns aber überaus wichtig für das Kulturverständnis zu sein und die geschichtliche (nicht nur die gegenwärtige) Erfahrung zwingt uns geradezu dazu, den Kultbegriff umzudeuten: es ist unmöglich für einen Menschen etwas höher und wichtiger als alles andere zu werten, also etwas als sein höchstes Anliegen innerlich anzusehen (was? das ist gerade die Frage, die auf tiefgehende Unterschiede zwischen den Menschen, Epochen und Kulturen hinweist). Dieses Etwas (im möglichst weiten Sinne verstanden) ist das, was das Kernhafte im menschlichen Bewußtsein (oder im Unbewußten, wenn es die Oberhand gewinnt) und folglich im Handeln, und dieses Kernhafte ist letzten Endes das, was Form, Stil und Struktur der menschlichen Existenz im paradigmalen Sinne bestimmt. Dieses Kernhafte müßten wir "Kult" nennen und - darauf folgend - den Kult als Existenzial und mehr noch als Metaexistenzial verstehen: denn der so verstandene Kult müßte alle anderen Existenziale in ihrem Gehalt und Struktur vorbestimmen. 
  2. Der so verstandene Kult (und das behalten wir aus der russischen Philosophie) ist das, dessen Entfaltung sich als Kultur erweist: Was ist aber das, was den Kult (als Existenzial) erzeugt wovon und wodurch er in seiner Entstehung abhängt? Wir stützen uns dabei auf den Gedanken S. Velikovskis, der meint, daß "jede Kultur auf einer Vermutung des Sinnes beruht." So ist der Begriff des Sinnes (in schärfster Gegenüberstellung zum Instinkt), der den Kult als Metaexistenzial und letzten Endes die aus diesem Metaexistenzial sich entfaltende Kultur bestimmt: es sind verschiedene (manchmal grundverschiedene) Vermutungen des Sinnes, die die Vielfältigkeit der Kulturen im Raume und in der Zeit vorbestimmen.

Dadurch wird der innere Gehalt des oben formulierten Dilemmas (und auch der Gehalt dessen, was in unserem Abgrund heute sich abspielt) sichtbar: was wird für sinnvoll gehalten das Egocid oder die Personalisation des Ego? Die Entscheidung (bewußt oder unbewußt) angesichts dieses Dilemmas ist auch eine Entscheidung dessen, was man für sinnvoll hält (was als Sinn vermutet wird). Daraus entstehen die Kulte, die in uns und um uns dominieren. Daraus entsteht das, wozu die Entfaltung dieser Kulte (oder eines Kults?) führt die gegenwärtige Kultur.

Werden die Begriffe so verstanden, wie es oben skizziert wurde, kann das Kulturphänomen modellhaft wie folgt dargestellt werden: Sinnvermutung ist Kult als Metaexistenzial ist Kultur.


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