Kulturwissenschaften und Europa 
oder die Realität der Virtualität 

Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften

Franz Martin Wimmer (Wien)

Polylog - interkulturelle Philosophie

 

Gehen wir von einem traditionellen Begriff von "Philosophie" aus, der inhaltlich im Kern so bestimmt werden kann, dass damit angestrebt wird, ontologische, erkenntnistheoretische oder ethische Grundfragen zu klären, und dessen formales Hauptmerkmal in der Ausbildung einer expliziten Begrifflichkeit oder Metasprache liegt, so können wir feststellen, dass ein derartiges Projekt in unterschiedlichen Formen in mehreren kulturell differenten alten Gesellschaften verfolgt worden ist. Einige davon - wie z.B. chinesische, indische, arabisch-islamische und griechische Traditionen - wirken noch in heutigen Gesellschaften in dem Sinn weiter, als darin unterschiedliche und zuweilen gegensätzliche weltbildliche Orientierungen wirksam sind. Zugleich ist im Prozess der Modernisierung und Globalisierung das Bedürfnis gegeben, Gemeinsamkeiten zu fördern beziehungsweise erst zu entwickeln. Die Ausgangsfrage für ein Philosophieren in dieser Situation besteht darin, dass nach den Bedingungen der Möglichkeit systematischer Philosophie unter der Voraussetzung differenter kultureller Prägungen zu fragen ist, welche auf jeder Ebene der Reflexion und Argumentation wirksam werden können.

 

I Kulturalität und Argumentation

In einem Kindergarten in Wien sind Kinder mit unterschiedlichem familiärem Hintergrund in Bezug auf Sprache, Religion und Ethnizität zu betreuen. Die wahrnehmbaren, bei bestimmten Gelegenheiten von Kindern und Eltern formulierten Besonderheiten und Unterschiede betreffen bestimmte Rituale (wie zum Beispiel Gebetszeiten), Verhaltensnormen (wie zum Beispiel nach Geschlechtern gleiche oder ungleiche Verteilung von Haushaltsarbeiten) und andere Aspekte, die für die Gruppe relevant sind (wie zum Beispiel Auffassungen darüber, was eine Kränkung oder Beleidigung ist und wie damit umzugehen sei). In solchen und anderen mit Wertungen verbundenen Auffassungen, so nehmen wir an, differieren die Kinder in diesem Kindergarten untereinander wie auch im Vergleich zu ihren Betreuerinnen und Betreuern, jedoch nicht gänzlich. In manchem stimmen sie untereinander überein, nicht jedoch mit den Erwachsenen, die sie betreuen.

In dieser Situation verbinden die Erzieherinnen und Erzieher sich zu der Maxime, dass keine Maßnahme gesetzt, kein Ziel verfolgt oder Mittel eingesetzt werden soll, welches nur aus einem einzigen kulturellen, religiösen oder ethnischen Hintergrund, der in der Gruppe vertreten ist, begründet werden kann.(1)

Die Situation und die Verhaltensmaxime erinnern frappant an die zwei Grundregeln eines interkulturell orientierten Philosophierens, wie ich sie als Vorsichts- und Praxisregeln einer interkulturell orientierten Philosophie wiederholt formuliert habe, nämlich erstens die negative oder Misstrauensregel:

Halte keine philosophische Aussage, These oder Theorie für gut begründet, deren Urheber ausschließlich einer kulturellen Tradition zuzurechnen sind.

Und zweitens die positiv formulierte oder Zutrauensregel:

Suche wo immer möglich nach transkulturellen Überlappungen philosophischer Begriffe, Aussagen und Thesen in möglichst differenten Denktraditionen, da es wahrscheinlich ist, dass gut begründete Thesen in mehr als einer einzigen kulturellen Tradition entwickelt worden sind.

In der Praxis des Lebens zeigt sich sehr schnell, dass die Ausführung solcher Regeln, so sehr sie der erwähnten Verhaltensmaxime der Betreuerinnen und Betreuer im Kindergarten zu entsprechen und ihre Anwendung als Praxisregeln hier auch erwartbar scheint, keineswegs einfach ist. Einwände und kritische Rückfragen (etwa bezüglich des epistemischen Status von Konsens) tauchen bei einer Analyse der beschriebenen Situation sehr schnell auf und sind in Form einfacher Fragen zu formulieren:

Im berichteten Beispielsfall sind alle drei Fragen unter anderem hinsichtlich der Zuschreibung von Frauen- und Männerrollen zu stellen. Dass "Abwasch Frauen- (und Mädchen-)sache" sei, war die Überzeugung aller Kinder des Kindergartens, der Buben wie der Mädchen, über sonstige ethnische, sprachliche oder auch religiöse Differenzen hinweg; die Überzeugung der Betreuerinnen und Betreuer stand im Kontrast dazu. Sie vertraten: "Abwasch ist sowohl Frauen- (und Mädchen-) wie Männer- (und Buben-)sache", zuweilen noch mit der Spezifizierung, dies sei "gleicherweise" der Fall. Diese besondere Differenz zwischen Betreuenden und Kindern könnte natürlich auch in einem Kindergarten auftreten, dessen Kinder allesamt familiär der österreichischen Mehrheitsbevölkerung angehören. Nicht die differente Sicht der Abwasch-Frage ist daher im Zentrum meiner Überlegung (sie dient nur als "Fall" der Analyse), sondern die Tauglichkeit der genannten "Regeln" bzw. der in diesem Fall leitenden "Maxime".

In diesem und jedem ähnlichen Punkt, wo es nämlich um die Frage geht, ob faktischer Konsens (in diesem Fall: Konsens der von den Kindern repräsentierten Traditionen) Verbindlichkeit beanspruchen könne, scheint - zumindest theoretisch - die Schwierigkeit der Frage nicht allzu groß zu sein. Die Regel oder Maxime der Betreuerinnen und Betreuer lautet ja nicht, dass Maßnahmen zu setzen seien, die in möglichst vielen oder auch in allen repräsentierten Traditionen ihre Begründung fänden. Sie lautet vielmehr, dass Maßnahmen nicht zu setzen seien, bei denen dies in nur einer Tradition zutrifft.

Im Fall des Kindergartens könnten wir uns damit vielleicht auch zufriedengeben, denn immerhin handelt es sich hier um zwei Gruppen unterschiedlicher Autorität (wenngleich nur in der Situation des Kindergartens selbst, denn insgesamt kann sich die Autoritätsverteilung durch die Rolle der Eltern und deren Gruppe ganz anders darstellen): die Erziehenden oder Betreuenden stehen als Erwachsene und Autoritäten den Kindern gegenüber. Ich lasse jetzt außer Betracht, dass auch diese Erwachsenen unter einander differieren können und dies häufig auch tun werden. Es genügt für den Zusammenhang mit den vorhin formulierten Fragen, wenn sie mit einer Stimme sprechen, was immer sie denken oder glauben. Unter dieser Annahme müssen wir sagen:

Die Betreuenden verletzen, wenn sie gegen allgemeinen oder zumindest mehrheitlichen Konsens vertreten, dass "Abwasch auch Männer- (und Buben-)sache" sei, ihre selbst-verbindliche Maxime nur dann nicht, wenn ihre eigene Denk- und Handlungsweise als jenseits und unabhängig von (kulturellen, religiösen etc.) Traditionen rechtfertigbar und begründbar angesehen werden kann. Ist dem nicht so, vertreten sie selbst eine (und im Beispielsfall: die singuläre) kulturelle Tradition. Dass wir damit im Zentrum jenes Problems der Moderne sind, jenseits und unabhängig von jeder Tradition Orientierungen des Lebens finden zu müssen, dürfte deutlich sein. Doch wird das erst wirklich problematisch mit der zweiten vorhin genannten Frage, sodass wir uns vorläufig noch nicht mit dem Dilemma der Moderne überhaupt, sondern nur mit dem von Kindern und Erwachsenen in diesem Integrationshaus im zweiten Wiener Bezirk zu befassen haben.

Es ist kulturhistorisch die Regel und nicht die Ausnahme, dass bestimmte Tätigkeiten des Alltags geschlechtsdifferent zugeordnet werden. Beispiele dafür dürften sich erübrigen, sie sind überall in der ethnologischen Literatur zu finden. Im "Integrationshaus" stehen nun Angehörige oder Repräsentanten von lauter, nennen wir sie so, "femilavaben" Gesellschaften einigen Angehörigen einer "äquilavaben" Gesellschaft oder Gesellschaftsgruppe gegenüber. Da die letzteren in Beeinflussungsprozessen dieser Gruppe die Alpharolle spielen, nenne ich sie im folgenden "A" und bezeichne die ersteren mit "B". Andere logisch mögliche Typen wie etwa eine "virilavabe" (C) oder eine "ambolavabe" Gesellschaft "D" (in der der Abwasch etwa nach Lebensstadien, gesellschaftlichem Prestige, nach dem Festkalender usf. einmal Frauen- und dann wieder Männersache sein könnte), sind hier faktisch nicht vertreten, aber denkbar. In der gewählten Terminologie würden die gedachten Positionen also lauten:

A: Äquilavab "Abwasch ist gleicherweise Frauen- wie Männersache"
B: Femilavab "Abwasch ist ausschließlich Frauensache"
C: Virilavab "Abwasch ist ausschließlich Männersache"
D: Ambolavab "Abwasch ist sowohl Frauen- als auch Männersache, aber nicht immer in gleicher Weise"

Nehmen wir nun an, wobei wir jedoch die Situation des "Integrationshauses" verlassen, die Angehörigen der vielen femilavaben und der einen äquilavaben Gesellschaft stünden einander gleichberechtigt und so gegenüber, dass beiderseits Interesse bestünde, zu gemeinsam akzeptierten Standards oder Normen zu kommen. Selbst wenn, wie im Beispielsfall anzunehmen, ein solches Interesse nur bei einer der beiden beteiligten Gruppen besteht, werden dann Prozesse der Beeinflussung in Gang kommen, deren Repertoire wir uns beinahe unerschöpflich variabel vorstellen können; es könnten, um das metaphorisch anzudeuten, von ökonomischen, logischen oder mathematischen Beweisen über psychologische und historische Studien bis hin zu Hohn und Spott alle möglichen Formen von "Kritik" und "Argumentation" vorkommen.

Diese Prozesse der Beeinflussung werden im Fall der Kindergartengruppe mehr oder weniger monologisch sein. A, die äquilavabe Gruppe der Betreuenden, beeinflusst in diesem Fall B, die Gruppe der Femilavaben, die sich ihrerseits zwar in anderen, nicht aber in diesem Aspekt noch einmal differenziert. A hat hier grundsätzlich, da es an einer Änderung des Verhaltens und Wertens von B interessiert ist, zwei Verfahrensoptionen, eine aktivistische und eine andere, die ich kommotivistisch nennen möchte. A kann erstens auf B in der fraglichen Sache so einwirken (indem z.B. die Vorteile von Äquilavabismus geschildert werden), dass B von der Richtigkeit der Position A überzeugt oder zumindest dazu überredet wird. A kann auch, Argumentation resignierend aufgebend, durch geschickten Einsatz von Prämien und Benachteiligungen ein faktisch äquilavabes Verhalten von B herbeiführen und damit Gewohnheiten etablieren, auf die bei einer Argumentation wiederum verwiesen werden kann. Hier muss angemerkt werden, dass es für die Praxis im Beispielsfall sogar ausreichen kann, wenn die femilavabe Gruppe B lediglich zur Übernahme des Verhaltens der Position A überredet oder dazu manipuliert ist in dem Sinn, dass sie Äquilavabismus praktiziert, wenn sie auch nicht davon überzeugt ist und eigentlich nach wie vor den Femilavabismus für richtig hält. In einer Sachfrage der Philosophie wäre die Herstellung eines derartigen Einverständnisses durch Überredung oder Manipulation indessen nicht ausreichend.(2)

A hat noch eine zweite Option, die nicht als spezifisch aktivistisch bezeichnet werden kann, die aber auch nicht passiv, sondern vielleicht kommotiv zu nennen ist: A demonstriert oder lebt (in diesem Fall: den Äquilavabismus) derart überzeugend, dass nichts außerdem unternommen zu werden braucht, um eine Veränderung der Urteile und Verhaltensweisen bei B zu bewirken. Bei beiden Vorgangsweisen handelt es sich möglicher- (und in unserem Beispiel tatsächlicher-)weise um Monologe, weil A zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit zugesteht, etwas anderes als Äquilavabismus könnte sich vielleicht als ebenso gut oder gar als besser herausstellen. Mit anderen Worten: B wird nicht als gleichrangig anerkannt. Eine solche Festlegung und Ausschließung von gegenwärtiger oder zukünftiger Argumentation mag im Fall der Kindergartengruppe plausibel sein, im Fall von (kulturell) differenten Philosophie-Traditionen wäre sie dies nicht.

In der geschilderten Situation steht es aus praktischen Gründen jedoch weder A noch B frei, die jeweils andere Position nach deren eigenen Regeln unbeeinflusst bestehen zu lassen. Einseitige oder gegenseitige Versuche, das Verhalten des jeweils anderen zu verändern, also monologische oder dialogische Verfahren des Verführens, Überredens oder Überzeugens werden zwangsläufig erfolgen. Dies muss nicht der Fall sein bei einer beobachtenden oder beschreibenden Zugangsweise, die sich erlauben kann, lediglich Differenzen festzustellen, ohne dass irgendeiner der differenten Positionen der Vorrang verschafft werden müsste. Die Situation des Kindergartens im Integrationshaus hat in dieser Hinsicht mehr Ähnlichkeit mit interkulturellen Diskursen in der Philosophie, als mit ethnologischen Modellen, Beschreibungen und Analysen, sofern im letzteren Fall das Auftreten von inkompatiblen Differenzen nicht zu einem theoretischen oder praktischen Dilemma führen muss, wogegen dies bei der Regelung des Abwaschens im geschilderten Kindergarten ebenso eintritt wie bei differenten Wertungssystemen etwa in Menschenrechtsdebatten. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Philosophierenden, die sich der Tatsache der Vielheit von relevanten Denktraditionen bewusst sind, und der genannten Kindergartengruppe besteht jedoch darin, dass in der Situation der letzteren ein Dialog unter zwei differenten Modellen möglich ist, während es im ersteren Fall viele sind. Ich spreche aus diesem Grund im folgenden über die Möglichkeit von Polylogen eher als von Dialogen.(3)

II Kulturalität und Philosophie: Das Konzept des Polylogs

Ein Dilemma der Kulturalität liegt für die Philosophie darin, dass mehr zur Frage steht als nur eine Komplettierung der europäisch zentrierten Philosophiegeschichte durch außereuropäische Traditionen oder ein Vergleich mit diesen, wenn wir von einem interkulturell orientierten Philosophieren sprechen wollen. Die lateinische Vorsilbe "inter" zeigt eine gegenseitige Relation an, und der Hinweis darauf, dass hier das Adjektiv "interkulturell" zum Substantiv "Philosophie" dazukommt, mag genügen, um klarzustellen, dass nicht von einer "philosophischen" oder einer "philosophie-historischen" Interkulturalität die Rede ist, sondern schlicht von Philosophie, dergestalt allerdings, dass deren Begriffe, Fragen und Methoden stets zu reflektieren sind hinsichtlich der für jeden Argumentierenden ärgerlichen Tatsache, dass es nicht eine und nicht eine endgültig angemessene Sprache, Tradition und Denkform des Philosophierens gibt, sondern viele, und dass jede davon kultürlich ist, keine darunter jedoch schlechthin vernunftgemäß-natürlich.

Das Projekt des Philosophierens bestand und besteht darin, in grundlegenden Fragen vor allem der Ontologie, der Erkenntnistheorie und der Begründung von Werten und Normen zu verbindlichen Einsichten zu kommen und sie in angemessener Weise auszudrücken, sie kommunikabel zu machen.(4) Damit ist jederzeit der Anspruch verknüpft, eine bis dahin geltende Denkweise, bisher angenommene Überzeugungen, zu kritisieren(5) und zu verändern. Auch wenn die neugewonnene Einsicht Altes neu begründet oder verstärkt, so liegt darin eine Veränderung. Stützt sich die neugewonnene Einsicht auf Vernunft, so muss gezeigt werden können, dass das Selbstverständnis dieser Vernunft auch tatsächlich verbindlich ist, dass es nicht seinerseits eine kulturell tradierte Willkür enthält. In diesem Sinn geht Philosophieren seiner Intention nach nicht im bloßen Weiterführen einer bestimmten, kulturell fundierten Tradition auf, wengleich es auch nicht immer explizit traditionskritisch ist. Die Philosophie der europäischen Neuzeit seit der Aufklärung ist damit jedoch sicher zu charakterisieren: dass nicht dem zu vertrauen sei, was irgendwann von irgendwem gedacht worden ist, dass vielmehr andere Instanzen und Methoden des Prüfens von Ideen und Theorien zu entwickeln sind, solche nämlich, die für alle vernunftbegabten Lebewesen gleicherweise Gültigkeit haben sollen.

Es ist nun eine in postkolonialen Diskursen verbreitete Haltung, in einer Kritik an europazentrierter Philosophie und Philosophiegeschichte den Vorwurf des Kulturzentrismus und damit verbundener Willkür zunächst gegen okzidentale Begrifflichkeiten und Systeme zu erheben, die sich zu Unrecht als allgemeingültig ausgegeben haben, und diesem dann das je Eigene entgegenzusetzen. Für dieses Eigene kann konsequenterweise ein vergleichbarer Allgemeinheitsanspruch nicht mehr erhoben werden - man weist vielmehr darauf hin, dass Philosophieren immer in einem bestimmten kulturellen Kontext stehe und auch nur in seinem jeweiligen Bezug zu diesem Kontext beurteilt werden könne. Wird dies aber wörtlich genommen, so ist damit jeder Anspruch auf Universalität und Allgemeingültigkeit aufgegeben. Damit aber ist Argumentation in Sachfragen und letztlich auch nur gegenseitiges Interesse nicht mehr einzufordern. Doch gerade im Anspruch darauf, dass in Argumentation Erkenntnis stattfinden könne, hatte Philosophieren bestanden. Was eigentlich als Resignation der Vernunft bezeichnet werden muss, gilt nicht selten als hohe Tugend der Toleranz.

Es gibt im Zusammenhang dessen, was man allgemein als "Ethnophilosophie" bezeichnen kann, eine Art von sperrigem Ethnozentrismus, der sich als Bescheidenheit ausgibt. Er tritt etwa dann auf, wenn eine Formel wie "für die Tradition N gilt X" zugleich einen Rückzug vom Anspruch des allgemeinen Geltungsanspruchs von "X" signalisiert und andererseits die Forderung impliziert, im Konzert der Weltbilder und Meinungen gehört zu werden - auch außerhalb der "Tradition N". Kwasi Wiredu bemerkte einmal in einem Gespräch, er frage sich jedesmal, wenn er hört, dass dieser oder jener Sachverhalt "in der Yoruba-Tradition" oder irgendeiner anderen Tradition so und so gesehen werde, ob derselbe Sachverhalt dann nicht auch von Chinesen, Engländern oder Inuit ebenso gesehen werden sollte, wenn die Yoruba-Denker ihnen nur ihre Argumente geben. Ist dergleichen gar nicht angezielt, hat man sich wirklich zu fragen, was da eigentlich wozu ausgesagt wird.

Nehmen wir nun an, es gebe nach gegenseitiger Information in einer Sachfrage der Philosophie(6) die relevanten und miteinander nicht vereinbaren Positionen A, B, C und D. Es könnte sich beispielsweise um solche Fragen wie die Begründbarkeit von Menschenrechten, die Gültigkeit von Normen, die Argumentierbarkeit ontologischer Voraussetzungen o.ä. handeln. Derartig differente Positionen können intra- wie interkulturell feststellbar sein. Nehmen wir ferner an, es bestehe ein gemeinsames Interesse an der Klärung solcher Fragen. Zwischen VertreterInnen solcher differenter Positionen werden Prozesse in Gang kommen, die zum Ziel haben, eine der bisher vertretenen oder auch eine neu zu entwickelnde Position zur allgemeinen Anerkennung zu bringen. Derartige Prozesse können logisch als einseitige oder als gegenseitige Beeinflussung gedacht werden. Von gegenseitiger Beeinflussung, die zu dem angegebenen Ziel führen kann, sprechen wir dann, wenn beide oder alle Seiten aktiv an der Herausbildung des Neuen beteiligt sind; bei einseitigen Beeinflussungen ist dies nicht der Fall. Unter dieser Annahme sehen wir, dass Beeinflussungsprozesse von dreierlei Art sein können, die mit den Wörtern "manipulieren", "überreden" und "überzeugen" zu bezeichnen sind, wovon nur der letzte Ausdruck ein derartiges Verfahren der Änderung von Urteilen meint, in dem alle am Verfahren beteiligten PartnerInnen bereit sind, ihre bisherigen Urteile in einer solchen Weise zu ändern, dass der ganze Prozess als "philosophisch" bezeichnet zu werden verdient, insofern Auffassungen ausschließlich nach Maßgabe eigener Einsicht entweder aufrechterhalten oder aber geändert werden. Die beiden erstgenannten sind einseitig, ihr Ergebnis ist nicht durch Urteilsleistungen der AdressatInnen eines Arguments bestimmt. Die Urteilsänderung aufgrund von Manipulation erfordert nicht einmal Zustimmung, diejenige aufgrund von Überredung erfordert zwar Zustimmung, nicht aber eigene Einsicht.

Wir können unter diesen Annahmen schematisch folgende Modelle von Beeinflussungsprozessen im genannten Fall des Bestehens von vier differenten Urteilen unterscheiden:

(a) Einseitig zentraler Einfluss: Monolog

Unter der Annahme, dass die Tradition "A" allen von ihr differierenden endgültig oder eindeutig überlegen ist, wird deren Verhältnis zu diesen anderen so gedacht, dass Beeinflussungen mit dem Ziel der Angleichung an A in Richtung auf B, C und D ausgehen, dass von diesen jedoch keinerlei relevante Rückwirkungen auf A erfolgen.

In diesem denkmöglichen Fall gibt es keine Dialoge und natürlich auch keinen Polylog zwischen A, B, C und D. Jede Tradition mit Ausnahme von A wird als "barbarisch" eingestuft, sofern sie verändert, letztlich beseitigt und überwunden werden soll.(7) Ziel ist also die Ausweitung der Tradition A und das Verschwinden von B, C und D. Im kulturtheoretischen Diskurs kann dies mit Ausdrücken wie "Zivilisierung", "Verwestlichung", "Kulturimperialismus", auch "Kulturzentrismus" oder "Akkulturation" bezeichnet werden. B, C und D können in diesem Modell einander ignorieren.

(b) Gegenseitiger teilweiser Einfluss: die Stufe der Dialoge

In der Realität kommt es beim Aufeinandertreffen von A, B, C und D auch dann zu Dialogen und gegenseitigen Beeinflussungen, wenn sie aufgrund von traditioneller Selbsteinschätzung theoretisch wegen der selbstverständlichen Überlegenheit der je eigenen Tradition gar nicht als notwendig oder, weil eine unüberschreitbare Verstehensgrenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden gedacht wird, strenggenommen als nicht möglich erachtet werden.

Solche Verfahren können wir als Prozesse einer selektiven Akkulturation verstehen. Für A sind einige andere Traditionen auf dieser Stufe nicht mehr "barbarisch", sondern "exotisch", und dasselbe gilt für B, C und D, jedoch nicht vollständig. Komparative Philosophie ist hier zunehmend etabliert.

(c) Gegenseitig vollständiger Einfluss: die Stufe des Polylogs

Für jede Tradition ist jede andere "exotisch" in dem Sinn, dass jede für jede andere fremd ist und keine von ihnen außer Frage steht: darin liegt die konsequente Form des Polylogs und einer interkulturellen Philosophie.

In der menschlichen Wirklichkeit existiert diese Form gegenseitiger Beeinflussung unter Voraussetzung tatsächlicher Gleichrangigkeit und unter Infragestellung aller Grundbegriffe, lediglich als programmatische oder praxis-regulierende Idee; dasselbe trifft allerdings ebenso für die erstgenannte Vorstellung eines einseitig zentralen Einflusses zu. Wenn also die Wirklichkeit sich stets als eine mehr oder weniger vielseitige Form der zweiten Stufe beschreiben läßt, so ist doch zu fragen, nach welchem der beiden Extreme hin eine Orientierung begründet werden kann. Das heißt: es ist nach der Argumentierbarkeit, d.h. nach den logischen Voraussetzungen oder Vorannahmen des Modells eines nur einseitigen Einflusses bzw. desjenigen eines Polylogs zu fragen. In theoretischer Hinsicht scheint mir diese Frage unschwer zu beantworten: solange die Möglichkeit relevanter, jedoch divergierender Traditionen hinsichtlich philosophischer Sachfragen besteht, ist das erste Modell einer bloß einseitigen Beeinflussung nicht zu rechtfertigen, das Modell des Polylogs jedoch sehr wohl.

 

ANMERKUNGEN

1 Etwa in dieser Form hat Mathias Thaler bei seinem dort verbrachten Zivildienst 1999/2000 die Kindergartengruppe des "Wiener Integrationshauses" erlebt und beschrieben. Vgl. seine e-mail vom November `99 und den IWK-Vortrag am 16. Mai 2000.

2 Epistemische Bedingungen der "zetetischen" Verfahren des "Verführens" (Manipulierens), "Überredens" und "Überzeugens" werden näher ausgeführt in meinem Aufsatz "Du sollst argumentieren! - Zur Ethik des Überzeugens" in: Vetter, Helmuth und Michael Potacs (Hg.): Beiträge zur juristischen Hermeneutik. Wien: Literas 1990, S.&nbsp106-114

3 Ich habe das Konzept des "Polylogs" als Verfahren interkulturellen Philosophierens zuerst 1994 in die Diskussion eingeführt in dem Aufsatz: "Plädoyer für den Polylog" (in: IMPULS. Das grüne Monatsmagazin, Okt. 1994, S. 18-19) sowie in meinem Vortrag beim Kongress der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik in Düsseldorf; seither habe ich dieses Konzept mehrfach in Veröffentlichungen vorgestellt. 1998 erschien die erste Nummer der Zeitschrift "polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren", ein gleichnamiges Internetforum ging im Herbst 2000 ins Netz. Der Ausdruck "Polylog" selbst, den ich bei meinen ersten diesbezüglichen Versuchen noch glaubte erfinden zu müssen, war in einer ganz anderen Bedeutung bereits früher von Bachtin und Kristeva verwendet worden, hat im Zusammenhang mit Fragen der Interkulturalität aber in den letzten Jahren auffallend schnelle Popularität und auch gelegentlich andere Deutungen erfahren als in meiner Verwendung. Ich gehe darauf hier nicht ein, sondern skizziere lediglich den Begriff, wie ich ihn für die Philosophie als wichtig erachte, sofern sie sich mit der Gegebenheit kultureller Differenz in systematischer Weise auseinandersetzt. Es wird in der einschlägigen Literatur oft von einem "Dialog der Kulturen" gesprochen, was vom griechischen Wort her (obwohl "dia-" einfach "Zwischen" bedeutet und keine Zahl andeutet) wenig einleuchtend ist, da faktisch das "dia-" darin zumeist nicht auf ein Zwischen überhaupt, sondern auf ein Verhältnis "zwischen Zweien" verweist. Zwar hat andererseits das altgriechische Wort "polylogía" die Bedeutung von "Geschwätzigkeit", also eines Gesprächs über ungeordnet viele Gegenstände und nicht diejenige eines "Gesprächs unter vielen über einen Gegenstand", doch möchte ich vorschlagen, den Ausdruck in dieser letzteren Bedeutung zu verwenden, zumal er als Fremdwort in der ursprünglichen Bedeutung ohnedies ungebräuchlich ist.

4 Ich setze hier ohne nähere Begründung voraus, dass ein so zu kennzeichnendes Projekt in mehreren, kulturell, sprachlich und religiös unterschiedlichen, jeweils für große Bevölkerungen über lange Zeiträume verbindlichen und orientierenden Traditionen entwickelt worden ist. Die bekanntesten Fälle sind in der Achsenzeit die griechischen, indischen und chinesischen Traditionen, in späterer Zeit islamisch-arabische, christlich-abendländische und europäisch-neuzeitliche Traditionen. Zu Fragen im Zusammenhang mit der damit angesprochenen Thematik der Geschichtsschreibung der Philosophien in interkultureller Hinsicht vgl. meinen Aufsatz: "Philosophiehistorie in interkultureller Orientierung. Thesen zu Gegenstand und Form" in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 1999, H.&nbsp3, S.&nbsp8-20.

5 Ein solcher Vorbegriff von Philosophie scheint sich auf den ersten Blick vorrangig auf okzidentale Tradition stützen zu können. Der Eindruck trügt. Nur durch eine vergleichende Untersuchung von Autoritätszuschreibungen an Tradition als solche könnte hier ein klares Bild gewonnen werden. Es dürfte jedoch dabei herauskommen, dass in jeder philosophischen Tradition kritische Innovation und Kreativität immer wieder - wenn auch nicht dauernd - vorkommt. Ich erinnere lediglich an die sehr unterschiedlichen Zuschreibungen von urtümlicher Weisheit, wie sie in den führenden Denkschulen der Zhou-Dynastie in China festzustellen sind. Selbst wenn die meisten dieser Schulen sich scheinbar unkritisch auf die Autorität legendärer Kulturheroen berufen, sind diese Bezugnahmen doch in Konkurrenz untereinander und dienen der Kritik am Bestehenden oder an den Entwürfen anderer Schulen.

6 Die "gegenseitige Information in Sachfragen der Philosophie" bei kulturell differenten Traditionen ist eine Aufgabe der Komparatistik. Soll sie "gegenseitig" sein, so setzt dies die interessierte Beteiligung möglichst aller Traditionen voraus. Interessant in systematischer Hinsicht sind dabei sowohl Differenzen wie Überlappungen. Die erste und unübersehbare Schwierigkeit dabei ist mit der Frage verbunden, ob es sich jeweils um dieselbe Sachfrage handelt. Dies war das Hauptthema in dem von James Larson und Eliot Deutsch herausgegebenen Sammelband "Interpreting Across Boundaries. New Essays in Comparative Philosophy" (Princeton: Princeton UP 1988). Es bildet aber auch den Fokus in dem Aufsatz von Jay L. Garfield: "Zeitlichkeit und Andersheit. Dimensionen hermeneutischer Distanz" in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 2000, H.&nbsp5, S.&nbsp42-61.

7 Das Verhältnis zu Anderen als zu "Barbaren" sehe ich darin, dass deren Maßstäbe des Verhaltens und Urteilens mit den von mir für richtig gehaltenen nicht vereinbar sind. Wo immer eine derartige Differenz auftritt und gemeinsames Handeln dadurch unmöglich wird, ist keine Toleranz zu etwarten, sondern werden Verfahren praktiziert, dieses "Andere" aus der Welt zu schaffen.


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