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Begriffe/Concepts/Concepts: Realität | Reality | Réalité

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Peter Horn (Kapstadt, Südafrika) [BIO]

Realität im europäischen Denken von Anaxagoras bis Kant

 

In einer Fußnote faßt Kant den inneren Motor der europäischen philosophischen Auseinandersetzung um den Begriff "Realität" wie folgt zusammen: "Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz, führen soll. Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen. So bedarf sie nicht zum Behuf der Naturwissenschaft, sondern um über die Natur hinaus zu kommen." (1)

Sich mit der Gegebenheit des Wirklichen nicht abzufinden, sondern das, was man vorfindet, darüber zu befragen, ob es die "eigentliche" Wirklichkeit ist, ist ein Kennzeichen des europäischen Denkens von Anfang an. Anaxagoras bereits deklarierte den Verstand selbst zum Prinzip der Erklärung der Welt. Mit ihm ist das Bewußtsein erwacht, daß nur in der denkenden Verallgemeinerung die wahrgenommene Erscheinung begriffen ist. Er verkündete das allen Gedanken Gemeinsame, das Allgemeine, als das Substantielle. (2) Diese Tendenz, etwas hinter der Erscheinung zu suchen, eine Idee oder eine Substanz, ein Ding an sich, beherrscht das europäische Denken bis hin zu Kant.

Das hatte Folgen auch für das Denken über Gott. Der ontologische Gottesbeweis, zum Beispiel, versucht den unterstellten Gegensatz zwischen dem Gedanken und dem Sein aufzuheben. Da, so argumentiert man, Gott der Vollkommenste ist, müsse er auch die Realität des Seins in sich haben. Wäre er nämlich umgekehrt, und dies macht das Zirkuläre bzw. Tautologische dieses sogenannten Beweises aus, unvollkommen, dann käme ihm nicht auch die Bestimmung des Seins zu, und er wäre, was er, der gemachten Voraussetzung gemäß, nicht sein soll: ein bloßes Gedankending. (3)

Einer der entscheidenden Auseinandersetzungen über die Realität der Realität war der Streit zwischen den Realisten und Nominalisten. Dabei geht es um den Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen und damit, wie im ontologischen Gottesbeweis, um das Verhältnis des abstrakten Gedankens zur Konkretheit des Seins. Die Realisten vertreten die Position, daß die Allgemeinheit der Gattung nicht lediglich ein Produkt der Abstraktion des denkenden Subjekts, sondern etwas unvergänglich Reales sei, das unabhängig von der Bestimmtheit und Veränder- lichkeit der empirischen Dinge, denen in Wahrheit keine Realität zukomme, existiere. Den Nominalisten dagegen ist das Allgemeine nichts weiter als ein Gedankending; seine Bedeutung erschöpfe sich in der subjektiven Vorstellung, sei nichts weiter als eine subjektive Verallgemeinerung, und nur das Individuelle sei real.

Eine solche "realistische", beziehungsweise radikal idealistische Position nimmt noch Berkeley ein, wenn er behauptet, die von Gott "den Sinnen eingeprägten Ideen heissen wirkliche Dinge". Daher sind "unsere Sinneswahrnehmungen, wie lebhaft und bestimmt sie auch sein mögen, nichtsdestoweniger Ideen"(4), deren Realität außerhalb des Geistes in keiner Weise bewiesen werden kann. Geister und Ideen. In seinem Versuch "Ding, Realität, Existenz" zu definieren, kommt er zu dem Schluß: Nur die Geister "sind thätige, untheilbare Substanzen", die Ideen aber "träge, vergängliche, abhängige Dinge, die nicht an sich existiren, sondern getragen sind von oder existiren in Geistern oder spirituellen Substanzen". (5) Die Annahme, daß "undenkende Dinge eine natürliche Existenz an sich selbst hätten", verwirft er "als eine durchaus grundlose und ungereimte Vorstellung", die geradewegs zum Skeptizismus führe, also zu der Auffassung, "dass es uns nicht gewiss sein könne, dass wir irgend eine reale Erkenntniss überhaupt besitzen."(6) Ähnlich definiert noch Descartes die "gegenständliche (objektive) Realität der Vorstellung" als "das Sein des durch die Vorstellung dargestellten Dinges, sofern dieses Sein in der Vorstellung ist."(7)

Einer der ersten Philosophen, der europäische Vorstellungen von Realität, Substanz und Sein durch einen Hinweis auf nicht-europäische Sprach- und Denkformen relativiert, ist Hobbes. Indem er auf die sprachliche Gegründetheit des euroäischen Denkens hinweist, verwirft er "die von dem lateinischen Wörtchen »est« abgeleiteten Wortbildungen, wie Essenz, Essenzialität, Entität, Entitativität; das gleiche gilt für Realität, Quiddität usw., welche nie bei Völkern hätten entstehen können, die die Kopula »ist« im Satze nicht verwenden, sondern ihre Namen durch verbale Formen, wie läuft, liest usw. (oder durch die bloße Hintereinanderstellung) verbinden. Da aber solche Völker auch denken und rechnen können, ist ersichtlich, daß die Philosophie solcher Worte wie Essenz oder Entität oder ähnlicher barbarischer Termini nicht bedarf." (8)

Gegen Descartes, der behauptet hatte: "Es giebt verschiedene Grade der Realität oder des Seins", (9) meint Hobbes: "Descartes [möge] erklären, was »größere Realität« eigentlich heißt. Verträgt denn die Realität überhaupt ein Mehr oder Weniger?" (10) Hobbes verwirft damit Descartes' Auffassung: "die Substanz enthält mehr Realität als das Accidenz oder der Zustand, und eine unendliche Substanz mehr als eine endliche." (11) Hobbes besteht darauf, "daß uns weder von Gott noch von der Seele eine Idee gegeben sei; ich füge nun hinzu: auch nicht von der Substanz. Die Substanz, die die den Accidenzien und Veränderungen zugrunde liegende Materie ist, wird allein durch Vernunft erschlossen, aber sie wird nicht vorgestellt und durch keine Idee dargestellt. Trifft dies zu, wie kann man dann noch sagen, daß Ideen, durch welche ich Substanzen erkenne, mehr bedeuten und größere objektive Realität enthalten, als solche, durch welche ich Accidenzien erkenne?" (12)

Spinoza treibt die Fragen von Hobbes einen Schritt weiter, wenn er fragt: "Wenn eine wahre Idee von einer falschen sich nur insofern unterscheiden soll, daß jene mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, so hat die wahre Idee an Realität oder Vollkommenheit nichts vor der falschen voraus (da sich beide ja bloß durch ein äußerliches Merkmal unterscheiden), folglich hätte auch der Mensch, welcher wahre Ideen hat, an Realität oder Vollkommenheit nichts vor dem voraus, der nur falsche Ideen hat? - Ferner: Woher kommt es, daß die Menschen falsche Ideen haben? - Endlich: Woher kann jemand gewiß wissen, daß er Ideen hat, welche mit ihren Gegenständen übereinstimmen?" (13)

Die eigentliche Kritik der metaphysischen Auffassung von Realität kommt dann mit Kants drei großen Kritiken. Schon in seinen Überlegungen zum Gottesbeweis weist er auf die Endlichkeit der menschlichen Existenz hin, die es nicht erlaubt, Aussagen zu machen, die über unsere Sinnenwelt hinausgehen: "Ich, der ich denke, bin kein so schlechterdings notwendiges Wesen, denn ich bin nicht der Grund aller Realität, ich bin veränderlich". (14) Daraus folgt umgekehrt über unser Wissen von Gott: "Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet, dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann". (15) Kants Begriff der Realität bezieht sich daher auf die Zeitlichkeit aller Existenz, denn "Veränderungen nur in der Zeit möglich, folglich ist die Zeit etwas Wirkliches". Daraus folgt: "Realität ist im reinen Verstandesbegriffe das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert; dasjenige also, dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt. Negation, dessen Begriff ein Nichtsein (in der Zeit) vorstellt." (16) Nur wenn, aber das können wir eben nicht, "ich selbst, oder ein ander Wesen mich, ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit, anschauen könnte, so würden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt als Veränderungen vorstellen, eine Erkenntnis geben, in welcher die Vorstellung der Zeit, mithin auch der Veränderung, gar nicht vorkäme." Deswegen bleibt als Bedingung aller unserer Erfahrungen nur die empirische Realität. (17) Nur die reinen Verstandesbegriffe sind von dieser Einschränkung frei, jeder Versuch einer "weitere[n] Ausdehnung de[s] Begriff[s], über unsere sinnliche Anschauung hinaus, hilft uns aber zu nichts. Denn es sind alsdenn leere Begriffe von Objekten, von denen, ob sie nur einmal möglich sind oder nicht, wir durch jene gar nicht urteilen können, bloße Gedankenformen ohne objektive Realität, weil wir keine Anschauung zur Hand haben"... "Unsere sinnliche und empirische Anschauung kann ihnen allein Sinn und Bedeutung verschaffen." (18) Allerdings geben die a priori Begriffe von Raum und Zeit als die Möglichkeit aller Erfahrung allen unsern Erkenntnissen objektive Realität, "ohne welche sie nicht einmal Erkenntnis, sondern eine Rhapsodie von Wahrnehmungen sein würde, die sich in keinen Kontext nach Regeln eines durchgängig verknüpften (möglichen) Bewußtseins, mithin auch nicht zur transzendentalen und notwendigen Einheit der Apperzeption, zusammen schicken würden." (19) Aber um die Möglichkeit der Dinge zu verstehen, also die objektive Realität der Dinge darzutun, brauchen wir nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen. Kant läßt zwar den Begriff eines "Noumenon, d.i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll", zu. Aber "am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang außer der Sphäre der Erscheinungen ist (für uns) leer, d.i. wir haben einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt, als jene, aber keine Anschauung, ja auch nicht einmal den Begriff von einer möglichen Anschauung, wodurch uns außer dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben, und der Verstand über dieselbe hinaus assertorisch gebraucht werden könne." (20)

Allerdings wirft sich nun für Kant das Problem auf, "daß, da der durchgängige Zusammenhang aller Erscheinungen, in einem Kontext der Natur, ein unnachlaßliches Gesetz ist, dieses alle Freiheit notwendig umstürzen müßte, wenn man der Realität der Erscheinungen hartnäckig anhängen wollte. Daher auch diejenigen, welche hierin der gemeinen Meinung folgen, niemals dahin haben gelangen können, Natur und Freiheit mit einander zu vereinigen." (21) Die Vorstellung eines strikten Determinismus aller Naturerscheinung, einschließlich des Menschen und seines Denkens und Wollens, das sah Kant genau, macht die Vorstellung eines "freien Willens" und damit die Grundlage aller Ethik und Justiz hinfällig.

 

ANMERKUNGEN

1 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. Bd. 3, S. 338, Fußnote 36.

2 Anaxagoras aus Klazomenae: Fragmente. Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Vierte Auflage, 1. und 2. Band, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1922. Bd. 1, S. 404.

3 So behauptet Anselm von Canterbury in seiner Schrift Proslogion (Anrede), in deren zweiten und dritten Kapitel sein berühmter ontologischer Gottesbeweis enthalten ist: "Gott hat als die Idee des Wesens, das alle Realität in sich vereinigt, auch die Realität des Seins in sich."

4 George Berkeley: Abhandlungen über die Principien der menschlichen Erkenntnis, In's Deutsche übersetzt und mit erläuternden und prüfenden Anmerkungen versehen von Friedrich Ueberweg, Berlin: L. Heimann, 1869, S. 37.

5 Berkeley: Abhandlungen, S. 68f.

6 Berkeley: Abhandlungen, S. 66f.

7 René Descartes: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, René Descartes' philosophische Werke. Übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung des Descartes versehen von J. H. von Kirchmann, Abteilung I-III, Berlin: L. Heimann, 1870, Abt. 2, S. 129).

8 Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Erster Teil: Lehre vom Körper. Übersetzt von Max Frischeisen-Köhler, Leipzig: Felix Meiner, 1949, S. 30f.

9 Descartes: Untersuchungen, S. 137.

10 Hobbes: Grundzüge der Philosophie, S. 174f.

11 Descartes: Untersuchungen, S. 137.

12 Hobbes: Grundzüge der Philosophie, S. 174f.

13 Spinoza: Ethik. Aus dem Lateinischen von Jakob Stern. Herausgegeben von Helmut Seidel, Leipzig: Philipp Reclam jun., 1975, S. 137.

14 Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes, Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. Bd. 2, S. 652-653).

15 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 4, S. 563.

16 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, S. 191).

17 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, S. 83-84).

18 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, S. 146f.

19 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, S. 200.

20 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, S. 279ff.

21 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 4, S. 492.  

 

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