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Peter Horn (Johannesburg) [BIO]

Das "immer unveränderliche Sein" und das "in der Zeit etwas Werdende und wieder Vergehende" im Denken der klassischen griechischen Philosophie

 

Am Anfang des europäischen Denkens steht eine Anstrengung, die bis heute nachwirkt, die Anstrengung, hinter dem empirischen Werden und Vergehen ein Bleibendes zu entdecken, ein "Sein" das außerhalb jeder Zeit sich selbst gleich bleibt. Es geht um die "Erkenntnis des immer unveränderlichen Seins" und nicht "des in der Zeit etwas Werdenden und wieder Vergehenden?"(1)

Das mag mit dem Unsicherwerden jeder überlieferter Religion im Griechenland der Sophisten zusammenhängen, mit einem Versuch, mit Mitteln der Ratio Sicherheiten zu finden, die sich in der traditionellen Religion nicht mehr finden ließen. So ist es nicht verwunderlich, daß im Zentrum der Diskussion des Zeitbegriffs schon damals das Thema der Unsterblichkeit der Seele stand.

Die Frage, ob die "eigene Seele" "in dieser Trennung von dem Leibe ganz und gar untergehn werde", oder ob sie "ganz und gar unsterblich und unvergänglich" sei, und ob sie "noch oft würde geboren werden",(2) beschäftigt Plato, auch wenn er zugeben muß: "Diesen Tod aber und diese Auflösung des Leibes, welche der Seele den Untergang bringt, wisse nur keiner, denn es sei unmöglich, daß irgend einer von uns ihn fühle".(3) Aber Sokrates argumentiert: "Und nun, wenn wir also immer die Wahrheit der Dinge in der Seele haben, muß da nicht die Seele unsterblich sein, so daß du getrosten Mutes das, was du jetzt nicht gerade erkennst, das heißt, wessen du dich nicht erinnerst, unternehmen kannst zu untersuchen und dich wieder dessen zu erinnern?"(4)

Diese Sicherheiten eines Bleibenden und Seienden nämlich scheinen den Griechen die Voraussetzung eines gerechten Lebens, der Moral und der Politik zu sein. Platon sucht im Staat "das wahrhaft Wesenhafte der Dinge". Der Philosoph versucht, "seinen Blick und seine Betrachtung auf eine Welt zu richten, worin eine ewige Ordnung und Unwandelbarkeit herrscht, worin die Wesen weder Unrecht tun noch von einander leiden, und worin alles nach einer himmlischen Ordnung und Vernunftmäßigkeit geht"; diese Welt müsse man dann "nachzuahmen und soviel als möglich davon in seinem Leben ein Abbild darzustellen."(5)

Zunächst sind diese Philosopheme eher dunkle Weisheits- und Orakelsprüche, wie der Satz des Anaximander aus Milet: "Anfang der Dinge ist das Unendliche. Woraus aber ihnen die Geburt ist, dahin geht auch ihr Sterben nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der Zeit Ordnung."(6) Aber schon hier, in den Begriffen "das Unendliche" und in der Auffassung des Empedokles, daß zu den existierenden Elementen "nichts hinzu oder davon"-kommt - "Denn wenn sie fort und fort zu Grunde gingen, wären sie nicht mehr. Was sollte denn aber dies Ganze ver- mehren und woher sollte es kommen? Wie sollte es auch zu Grunde gehen, da nichts leer von diesen [Elementen] ist? Nein, nur diese gibt es ..."(7) - spricht sich jene Grundüberzeugung aus, daß die Wandelbarkeit der Erscheinungen in der Zeit nicht das wahre Sein ist.

So versucht Zenon aus Elea die leidige Zeitgebundenheit der Erscheinungen dadurch zu überwinden, daß er die Bewegung aufhebt, indem er sagt: "Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es sich befindet, noch in dem es sich nicht befindet."(8) Mit derlei Paradoxa setzt sich noch Platon/Sokrates im Parmenides auseinander.

Dort beschäftigt man sich mit dem Paradoxon: "Denn nicht aus der Ruhe geht etwas, während es noch ruht, in die Bewegung über, noch aus der Bewegung, während es sich noch bewegt, in die Ruhe über, sondern der Augenblick, dieses wunderbare Etwas, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe, keiner Zeit angehörig, und in ihm und aus ihm geht das Bewegte zur Ruhe und das Ru- hende zur Bewegung über."(9) Der Raum als Kategorie scheint leichter faßbar als die Zeit und das in ihr sich Bewegende und sich Verändernde. Schwer faßbar bleibt den Griechen, wie "das Eins" ... "ebensowohl ruhend als auch bewegt" sein kann. Dieser Übergang scheint ihnen "in keiner Zeit" und in diesem Augenblick "bewegt [das Eins] sich dann weder, noch ruht es."(10)

Im Kratylos meint Sokrates: "Wie könnte nun das überhaupt ein bestimmtes Sein haben, das niemals sich gleichmäßig verhält? Denn wenn es sich je gleichmäßig verhält, so verändert es sich offenbar in jener Zeit nicht. Wenn aber etwas immer sich gleichmäßig verhält und dasselbe ist, - wie sollte das sich verändern oder in Bewegung sein, da es doch nie aus derselben Gestalt heraustritt?"(11)

Auch Aristoteles sucht - wenn auch in einem anderen Zusammenhang - nach einem »An sich« und dem »Allgemeinen«, und unter »Von Allem« versteht er das, "was nicht blos von einigen gilt und von anderen nicht und was nicht blos zu einer Zeit gilt und zu einer andern Zeit nicht."(12) Das "Bleibende", das ihn interessiert, ist aber das "Gesetz", dem alle sich ständig verändernden Erscheinungen unterworfen sind: "Es erhellt also, dass man die allgemeinen Sätze unbeschränkt ansetzen muss, und nicht auf eine Zeit beschränkt."(13) Nicht um die unsterbliche Seele und die Ewigkeit geht es Aristoteles, sondern um ein logische Grundlage für irdische Erkenntnisse: "Ebenso könne ein Vergängliches eine Zeit lang unvergänglich sein, während es doch nicht überhaupt unvergänglich sein könne."(14) Gegen die "verfänglichen Schlüsse" von Melissos und Parmenides entwickelt Aristoteles eine präzisere Semantik und Logik, und hinterfragt deren Axiome. So beweist er, daß es unmöglich ist, "daß das Seiende Eines sei". Er zeigt den Fehlschluß in Melissos Lehre, "daß, wenn alles Werdende einen Anfang hat, das nicht Werdende keinen hat". Schritt für Schritt zeigt er die Denkfehler der beiden auf:

"Sodann ist auch dieß auffallend, überall einen Anfang des Dinges in dem Dinge selbst anzunehmen, und nicht auch bloß des Dinges überhaupt in der Zeit. Und dieß nicht nur beim Werden an und für sich, sondern auch bei demjenigen, das zugleich Umbildung ist; als gäbe es keinen durchgehenden Uebergang. Weiter, warum soll es gerade unbeweglich sein, wenn es Eines ist? Denn gleichwie auch der Theil, des Einer ist, z.B. dieses bestimmte Wasser, sich in sich selbst bewegt: warum nicht eben so das Ganze? Und dann, warum soll es keine Umbildung dieses Ganzen als solchen geben?"(15)

Was Aristoteles interessierte war weniger eine religiös begründete "Ewigkeit" und "Unsterblichkeit" der Seele, als vielmehr die Grundbegriffe einer Wissenschaft von der Natur, "die sich beschäftigt mit Größen und Bewegung und Zeit", und er stellte "über das Unbegrenzte, ob es ist oder nicht, und wenn es ist, was es ist" Betrachtungen an, die auf eine solche Wissenschaft zielten.(16) Zunächst ging es ihm einfach um klare logische Unterscheidungen:

"Allein nichts kann zugleich das Entgegengesetzte, wie das Ding annehmen; dies kann nehmlich das Entgegengesetzte annehmen, allein es ist doch nicht zu gleicher Zeit krank und gesund, und ebenso ist es nicht zu gleicher Zelt weiss und schwarz; ebenso giebt es von den übrigen Kategorien keine, die gleichzeitig das Entgegengesetzte annähme."(17)

Um überhaupt über Vorgänge in der Natur sprechen zu können, nahm er an, "dass die Zeit eine gewisse Ordnung habe, weil ein Theil der Zeit der frühere, der andere der spätere ist."(18) Raum und Zeit sind grundlegende Kategorien unserer empirischen Auffassung der Realität, und ohne sie ist weder Kausalität vorstellbar, noch eine Erklärung von beobachteten Vorgängen denkbar: "Auch die Zeit und der Raum sind von dieser Beschaffenheit; die gegenwärtige Zeit berührt die vergangene und die kommende."(19) Was konsekutiv in der Zeit erscheint, erscheint auf Grund dieser zeitlichen Ordnung und auf Grund der Kausalität:

"Wie sich nun bei dem der Reihe nach Gewordenen die Ursache, als Mittleres verhält, darüber sei das Folgende bemerkt; denn auch in solchem Falle muss das Mittlere und das Oberste selbst unvermittelt sein; wie z.B. A geworden ist, weil C geworden ist; C ist aber später und A vor ihm geworden. Aber C ist der Anfang, weil es dem Jetzt näher steht, welches der Anfang der Zeit ist. C ist aber geworden, wenn D geworden ist. Wenn also D geworden ist, so muss A nothwendig vorher geworden sein. Der Grund hierfür ist C. Denn wenn D geworden ist, so muss C früher geworden sein und wenn C geworden ist, so muss A vor ihm geworden sein."(20)

Sowohl der religiös-metaphysische Begriff der Zeit als auch der kategorisch-empirische Begriff der Zeit sind also bereits in der griechischen Antike vorgebildet, und bilden die Grundlage späteren Denkens, etwa bei Hume oder Kant.

 

ANMERKUNGEN

(1) Platon: Der Staat, Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider, [1940]. Bd. 2, S. 268

(2) Platon: Phaidon,Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider, [1940]. Bd. 1, S. 772

(3) Platon: Phaidon, Bd. 1, S. 772

(4) Platon: Menon, Sämtliche Werke. Bd. 1, S. 437

(5) Platon: Der Staat, Bd. 2, S. 230-231

(6) Anaximandros aus Milet: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Vierte Auflage, 1. und 2. Band, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1922.. Bd. 1, S. 15

(7) Empedokles aus Agrigent: Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 1, S. 231

(8) Zenon aus Elea: Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. 1, S. 175. Vgl auch R. Ferber, Zenons Paradoxien der Bewegung und die Struktur von Raum und Zeit, Stuttgart 1981

(9) Platon: Parmenides, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 540-541

(10) Platon: Parmenides, Bd. 2, S. 540-541

(11) Platon: Kratylos, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 615

(12) Aristoteles: Organon, Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Übersetzt und erläutert von J. H. von Kirchmann, Leipzig: Felix Meiner, o. J. (Philosophische Bibliothek, Bd. 10), S. 8

(13) Aristoteles: Organon, Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Übersetzt und erläutert von J. H. von Kirchmann, Leipzig: Felix Meiner, o. J. (Philosophische Bibliothek, Bd. 10), S. 34

(14) Aristoteles: Organon, Die Topik. Übersetzt und erläutert von J. H. von Kirchmann, Heidelberg: Georg Weiss, 1882 (Philosophische Bibliothek, Bd. 89)., S. 48

(15) Aristoteles: Physik. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C. H. Weiße, Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1829, S. 5-6

(16) Aristoteles: Physik, S. 58

(17) Aristoteles: Organon, Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen. Hermeneutica oder Lehre vom Urtheil. Übersetzt und erläutert von J. H. von Kirchmann, Leipzig: Erich Koschny, 1876 (Philosophische Bibliothek, Bd. 70). S. 14

(18) Aristoteles: Organon, Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen, S. 12

(19) Aristoteles: Organon, Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen, S. 11

(20) Aristoteles: Organon, Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen, S. 86

 

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