Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
<< Heilige vs. unheilige Schrift

Die religiöse Stimme Johann Christian Günthers zwischen Barockrhetorik und subjektiver Dichtung

Laura Bignotti (Universität Brescia, Italien)

 
ABSTRACT:

Johann Christian Günther ist nicht nur biographisch als Übergangsfigur zwischen 17. und 18. Jahrhundert zu verstehen: Schon lange erkannte die Forschung in Günthers Werk einen besonderen, authentischen Ton, der trotz einer noch nicht vollständig abgelegten Barockrhetorikeine bislang ungekannte Subjektivität hinweist.

Obwohl Günther vor allem durch seine Gelegenheits-, Studenten- und Liebesgedichte bekannt ist, schrieb er - nach der historisch-kritischen Gesamtausgabe Krämers - mehr als einhundert geistliche Lieder und zollte damit dem konfessionellen Zeitalter Tribut, dessen Literatur aus der Barockrhetorik (formal und strukturell) sowie aus der Offenbarungstheologie (inhaltlich) hervorgeht. Besonders Günthers Klagelieder sind von einem tief religiösen Gefühl durchdrungen. In diesen Gedichten , in denen ein für die damalige Zeit unerhörter, bisweilen geradezu blasphemischer Ton vorherrscht, findet die Klage eines verzweifelten Ichs gegen einen abwesenden Gott Ausdruck.

Die Versprachlichung eines stark emotionalen Glaubens wird jedoch erst in Günthers Bibeldichtung deutlich, also in jenen Gedichten, in denen er sich explizit auf Bibelverse beruft. Hier stellt sich die Frage, inwieweit es Günthers religiöser Lyrik, auch im Vergleich mit anderen zeitgenössischen, stärker konventionell geprägten Kirchenliedern, gelingt, die Botschaft des biblischen Wortes durch die persönliche Sitiation eines inszenierten lyrischen Ichs auszudrücken.

Günthers religiöse Lyrik gilt folglich als besonderes Zeugnis einer Dichtung, die als individuelle Sprache einer geistlichen Existenz fungiert, und die, anders als seine "profane" Liebesdichtung, als Stimme eines Gott zugewandten Ichs erscheint. Diese Dichtung schließt dank ihrer engen Anlehnung an die Bibel die Kluft zwischen Mensch und Gott. Die "natürliche Sprache" wird hier sowohl zum notwendigen sprachlichen Ausdrucksmittel als auch zur inhaltlichen Reflexionsmöglichkeit über den persönlichen Zustand, in der die rhetorische Umformung der Schrift den Ausdruck der eigenen Glaubenskraft erlaubt, und die den transzendenten Bezug des Gefühls ausdrücklich betont.

Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9 - 11 december 2005

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