Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
<< Heilige vs. unheilige Schrift

Schriftheiligung als Selbstabgrenzung

Luca DiBlasi (Köln, Siegen)

 
ABSTRACT:

Unter dem Begriff "Heilige Schrift" versteht man Schriften oder Schriftensammlungen, die von einer Gemeinschaft als heilig und damit unantastbar angesehen werden. Das ist das geläufige Verständnis. Daneben ist im Zuge der Aufwertung des Medialen eine neue Lesart aufgetaucht, die stattdessen das Wort Schrift allgemein fasst und, wie es Kittler tat, unter "Heiliger Schrift" die Heiligung des Alphabets als eines neuen, wirkmächtigen Mediums versteht. Dafür spricht beispielsweise die frappierende zeitliche Nähe zwischen der Einführung des Alphabets und dem Zeitraum, in dem "Moses" datiert wird.

Die These, die ich entwickeln möchte, liegt gleichsam zwischen diesen beiden Interpretationen. In erweiternder Anknüpfung an Gedanken von J. Assmann gehe ich davon aus, dass wir es bei den monotheistischen Religionen um Heiligungen bestimmter Schriften (und nicht der Schrift im Allgemeinen) zu tun haben, dass diese Heiligung aber mit einer Aufwertung des Mediums Schrift zusammenfällt. Eine solche ist besonders im Islam offensichtlich.

Eben diese Aufwertung materieller Zeichen wird von einer Tradition, für die die Chiffre "Athen" steht, als bloße Buchstabengläubigkeit, als äußerlich, geistlos und heute als fundamentalistisch abgewertet zugunsten geistiger, inspirierter oder auch kreativer Interpretationen. Dagegen möchte ich zu zeigen versuchen, dass die Heiligung der Schrift insofern auch als eine Widerstandsform gegen spiritualistisch-universalistische Entleiblichungstendenzen gedeutet werden kann, als sie die Aufwertung des Äußeren, Sinnlichen und Materiellen der Schrift beinhaltet. Indem sie sich einer Auflösung in einen allgemeinen Sinn sperren, werden Heilige Schriften, besonders der Koran, zum Stachel eines universalistischen Furors.

Damit möchte ich nicht einer bornierten Schriftgläubigkeit das Wort reden, sondern zunächst einmal auf interessante Parallelen zu aktuellen Aufwertungen eines "symbolorientierten Ansatzes" (Krämer) bei Leibniz, Peirce, Cassirer oder Wittgestein bzw. einer Aufwertung der Signifikanten bei Lacan oder der Schrift bei Derrida aufmerksam machen. Darüber hinaus soll ein Interpretationsraum eröffnet werden, innerhalb dessen es möglich wird, fundamentalistische Verhärtungen als Korrespondenzphänomene zu einer alle Unterschiede liquidieren wollenden "Mundialatinisierung" (Derrida) zu begreifen.

Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9 - 11 december 2005

H O M E
WEBDESIGN: Peter R. Horn 2005-10-13