Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
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Modernität durch Konsum?

Thomas Lenz (Universität Trier)

 

ABSTRACT:

Die faktische Hegemonialstellung der USA nach dem zweiten Weltkrieg führte zur Integration verschiedener amerikanisch geprägter Kultur- und Konsumformen in die Lebens- und Arbeitsverhältnisse Westeuropas. Amerika war und ist "ein Dynamo für die kulturelle Zeichenproduktion" (Brändli 1998, S. 172). Der Gebrauch und die Integration dieser Produkte in die nationalen Kulturen ist dabei aber nie ein einfacher Kopiervorgang, sondern vielmehr eine Art der Aneignung und Umformung von "Fremdem" in "Eigenes".

Verfechter wie Verächter des "american way of life" liefern sich nicht erst seit kurzem, sondern seit Beginn der modernen "Konsumgesellschaft" einen ideologisch gefärbten Schlagabtausch. Mit Hilfe dieses kultur- und konsumkritischen Diskurses, dessen Linien sich mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nachzeichnen lassen, werden kulturelle und ökonomische Praktiken der Moderne letztlich in nationale Kulturen eingegliedert.

Die Übernahme von kulturellen, politischen und ökonomischen Modernisierungsbestandteilen ist ein Prozess, bei dem bestimmte Werte, Normen, Organisationsformen usw. übernommen und angepasst und andere wiederum verworfen und abgelehnt werden. Modernisierung insgesamt ist also als ein Prozess "selektiver Appropriation und Adaptation" an (kulturelle) Innovationen zu analysieren, bei dem Kollektive oder einzelne Gruppen globale Botschaften aufnehmen, sie auf der Grundlage ihrer je spezifischen Erfahrungen verändern und sie so mit einen "handlungsrelevanten Sinngehalt" (Axtmann 1995, S. 90) versehen.

Als Bühne, auf der der Kampf um Modernisierung ausgetragen wurde, sollen im Rahmen meines Referates beispielhaft die Debatten um die Einführung moderner Arten der Warendistribution als Selbstverständigungsdiskurs der deutschen und amerikanischen Öffentlichkeit analysiert werden. Ökonomische Interessen, kulturelle (Vor-)Urteile und politische Einstellungen treffen dabei in der Diskussion um die Einführung neuartiger Warenvertriebsformen aufeinander. Sehr schnell trat das Warenhaus als Betriebsform seinen Siegeszug durch alle industrialisierten Länder an. Schon in den frühen 1860er Jahren gelangte die Idee nach Amerika und zog eine ganze Reihe an Neuerungen nach sich. So war der Warenhausgründer Roland H. Macy einer der ersten, der Frauen auch in leitenden Funktionen beschäftigte. Er setzte das System der festen Preise durch, bewarb als erster seine Produkte und die Preisbindung dieser Produkte in den Tageszeitungen der Stadt und steigerte seinen Umsatz durch die Einführung zahlreicher Rabattaktionen. All diese Neuerungen waren zunächst heftig umstritten; ökonomisch, politisch und kulturell betrachtete man auch in den USA das Warenhaus und damit vor allem Macy´s mit Skepsis. Das Kaufhaus bot den (Haus-)Frauen erstmals neue Rollenmöglichkeiten: als einflussreiche Konsumentin, als Angestellte, oder als Abteilungsleiterin. Arbeiterkultur und bürgerliche Kultur trafen im Kaufhaus aufeinander und bildeten gemeinsam die Grundlage für eine "feminisierte" amerikanische Massenkultur, deren Ausläufer auch Europa erreichen. Während in den USA sich ein breiter gesellschaftlicher Diskurs um die neue Betriebsform entwickelte, der sowohl Risiken als auch Chancen analysierte, entstand in Europa und besonders in Deutschland ein antimoderner (teilweise auch antiamerikanischer und antisemitischer) Abwehrdiskurs (vgl. Rohkrämer 1999) um die "Zumutungen der Moderne", wie sie durch das Warenhaus verkörpert wurden (vgl. Briesen 2001, S. 12ff.).

In diesen Zusammenhang wurde das Konsumverhalten pathologisiert und eine allgemeine Gefährlichkeit des Warenhauses behauptet. Warenhausdiebstahl und "Kleptomanie" wurden als ebenso unvermeidliche wie typisch weibliche Reaktionen auf das überbordende Warenangebot angesehen (vgl. Briesen 2001; Spiekermann 1999) und der Warenhausdiebstahl wurde damit zur einer der Folien, vor der die Gefahren der neuen Zeit diskutiert wurden (vgl. König 2000, S. 374). Der Diskurs um die Massenkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zeigt, wie Moderne zum einen als "Amerikanisierung" beschrieben bzw. diffamiert wurde und wie dennoch gleichzeitig bestimmte technische und produktive Funktionen der Moderne adaptiert und explizit begrüßt werden konnten. Die Abtrennung gesellschaftlich-politischer Moderni­sierung von der ökonomisch-technischen Entwicklung förderte in Deutschland (im Gegensatz zu den USA) die Entstehung eines "reactionary modernism" (vgl. Herf 1984). Diese spezifisch deutsche Form der Adaptation an "Moderne" wirkt weit über ihren Entstehungshorizont (20er und 30er Jahre) hinaus, wobei die angstbesetzten und ablehnenden Reflexe gegen die "Amerikanisierung" immer auch Ausdruck der Angst vor "der" Moderne gewesen sind.

Die Debatte um die "Amerikanisierung" durch den Massenkonsum kann als frühe Form von Globalisierungskritik verstanden werden. Wie in einem Brennglas wird hier die Auseinandersetzung um "Moderne an sich" beobachtbar. Die Analyse dieser Auseinandersetzungen kann deshalb zu einem allgemeinen Verständnis davon führen, wie bestimmte neuartige Kultur- und Wirtschaftsmuster gesellschaftlich diffundieren und verändert werden und welche ökonomischen, politischen und kulturellen Friktionen bei dieser Art der Übernahme von Innovationen auftreten können.

Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9. - 11. december 2005

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