Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
<< Heilige vs. unheilige Schrift

Machtworte, Macharten. Zur Pragmatik des Begriffs 'heiliger Text' und zu dessen textanalytischer Konturierung

Andreas Mauz (Theologische Fakultät Zürich)

 
ABSTRACT:

Der Begriff des 'heiligen Textes' scheint unverzichtbar zu sein, in wissenschaftlichen Diskursen nicht weniger als in nicht- oder halbwissenschaftlich-esoterischen. Um im Chaos der Texte nicht gänzlich die Übersicht zu verlieren, wird Kosmos hergestellt durch die Unterscheidung der vielen und wertlosen 'profanen' von den wenigen (oder dem einzigen) und autoritativen 'heiligen'. Welche Begründung dieser Differenzqualität zulässig sein soll, ist dabei notorisch strittig. Auch deshalb sind die Texte, die unter dieser Bezeichnung subsumiert werden, alles andere als homogen - nicht weniger als die mehr oder minder bekenntnishafte oder zur 'Uneigentlichkeit' neigende (Schrift-)Performance der Rede über sie ("Heiliger Text" vs. "heiliger Text" vs. "'Heiliger Text'" etc.). Gerade die Elastizität des Begriffs - als dessen Stärke und Schwäche - legt es nahe, ihn versuchsweise im konsequenten Ausgang von der Selbstbeschreibung der Texte zu konturieren, also zu fragen, als was und wie sieselbst sich zu verstehen geben. So betrachtet, wäre etwa derjenige Text 'heilig', der sich explizit als 'Sekundärliteratur' einführt, nämlich: als Text nicht von eigenen Gnaden, sondern als Folge eines 'Schreibbefehls', einer höheren Er- und Entmächtigung. Was erprobt werden soll, ist ein textanalytischer Blick auf die Macharten der Machtworte des 'heiligen Textes'; zu erheben sind einige konkrete Erscheinungsweisen seiner doppelten Autorschaft, einige - topische - Modi seiner Selbstinszenierung im Interesse heteronomer Selbstbegründung.

Das Reizvolle dieses Zugriffs liegt in einer programmatischen Entdifferenzierung, die eingespielte Ordnungen ('heilige' Bibel vs. 'profane' Literatur; Antike vs. Moderne etc.) - und damit disziplinäre Zuständigkeiten - relativiert. So gesehen, rücken etablierte 'heilige Texte' der Bibel in nächste Nähe zu den homerischen Epen ; deren christliche Fortschreibungen durch Milton und Klopstock lassen sich sinnvoll auf sogenannt 'kirchengeschichtliche Zeugnisse' der pietistischen Inspirationsgemeinden oder Vassulas aktuelle "Gespräche mit Jesus" (http://www.tlig.org/gm.html) beziehen. Was durch die Arbeit an einer textnahen Erzählgrammatik der Offenbarung aber gerade hervortritt, sind teils feine, teils erhebliche Differenzen in der Ausgestaltung derartiger "Schreib-Szenen" (Campe). Und nicht nur weil Teile des christlichen Kanons unter dieser Perspektive nicht länger 'heilig' sind, müssen abschliessend einige theologische Folgen des Zugangs angedeutet werden.

Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9 - 11 december 2005

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