Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

KCTOS: Wissen, Kreativität und
Transformationen von Gesellschaften

Wien, 6. bis 9. Dezember 2007

<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive


 

Ausnahmezustände in frühmodernen Geschichtsdramen von Kleist, Grabbe und Büchner

Tomislav Zelic (Columbia University / Universität Zadar) [BIO]

Email: tz52@columbia.edu

 


 

ABSTRACT:

Vom antik-römischen Recht und dem historischen Extremfall der nationalsozialistischen Vernichtungslager ausgehend stellt Agamben die erhabene Figur des absoluten Herrn über Leben und Tod in den Mittelpunkt der Souveränitätstheorie. Hinsichtlich anderer historischer Situationen dekonstruiert sich die Differenz zwischen souveräner Macht und nacktem Leben von selbst. Das legt die literarische Darstellung von Ausnahmezuständen in frühmodernen Geschichtsdramen nahe.

Kleist glorifiziert im Homburg–Drama das Gnadenrecht des Herrschers und die Selbstunterwerfung des Untertanen. Herrscher und Untertan verletzen die „märkischen Kriegsartikel“ jeweils durch Insubordination und Begnadigung. Schließlich unterwerfen sich beide dem „heiligen Gesetz des Krieges“. Der Herrscher verschont das Leben des Untertanen, der Untertan zieht todesmutiger ins Feld. Das Souveränitätsparadox besteht auf beiden Seiten. Der Herrscher übt das souveräne Recht über Leben und Tod des Untertanen aus, die Herrschaft ist jedoch durch die Todesbereitschaft des Untertanen bedingt. Der Untertan übt absolute Souveränität aus, indem er sich selbst unterwirft. Kleists ästhetisch-politische Utopie der totalen Integration souveräner Macht und nackten Lebens unterscheidet sich wesentlich von Agambens statischer Konfiguration.

Ähnlich lässt sich die literarische Darstellung der Volkssouveränität in der Französischen Revolution in den frühmodernen Dramen Grabbes und Büchners deuten. Der Versuch, Volksherrschaft zu errichten, verwirklicht nicht Freiheit, Gleichheit und Demokratie, sondern artet in einen mörderischen Mechanismus oder Ochlokratie aus. Das Guillotinetheater in Dantons Tod zeigt zwar Volkssouveränität in Aktion, untergräbt jedoch die Revolutionsregierung auf Dauer. Der wieder auferstehende Jakobinismus in Napoleon oder die hundert Tage führt die Ideale der Französischen Revolution durch politisch motivierten Mord- und Totschlag ad absurdum. Hier wie dort wird das Volk paradoxerweise zugleich als souveräne Macht und nacktes Leben gezeigt.

Problematisch an Agambens „topologischem“ Modell ist, dass die zwei Seiten der Unterscheidung zwischen souveräner Macht und nacktem Leben nicht auf beiden Seiten wieder eingetragen werden. Der absolute Herr über Leben und Tod ist sterblich wie das nackte Leben selbst. Das nackte Leben hingegen kann zum Herren über sich selbst werden. Diesen Schluss legen frühmoderne Geschichtsdramen nahe.

 


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