Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen

Mounir Fendri (Tunis)
Das Modernisierungsprojekt des tunesischen Diplomaten Khair-eddin unter dem Aspekt des Okzident-Orient-Kulturtransfers im 19. Jahrhundert

Ihre im Gefolge der Terroranschläge von September 2001 auf den arabisch-islamischen Nahen Osten ausgerichtete Offensive rechtfertigten die USA mitunter mit der wohlmeinenden, einleuchtend klingenden Absicht einer Demokratisierung der Region. Als die Weltmacht im 19. Jahrhundert noch in Europa situiert war, lautete das Schlagwort zur Legitimierung vergleichbarer Vorstöße in gleicher Richtung "Zivilisierung". Denn spätestens im Jahrhundert zuvor, im Zeitalter der Aufklärung, stand im europäischen Konsens fest, dass die Welt des Islam zurückgeblieben und nur durch den Segen abendländischer Kultur und die Wohltaten europäischer Zivilisation zu retten sei. Vertreter hegemonialer und kolonialer Politik galt dies, ob in "ehrlicher" oder taktischer Absicht, als Alibi. Reichlich diente das Argument als propagandistische Stütze zur Rechtfertigung und Förderung kolonialpolitischer Unternehmungen. Die Wirksamkeit und Überzeugungskraft des Zivilisationsargument war derart, dass auch die Anwendung von Gewalt und alle Konsequenzen militärischer Angriffe verharmlost oder bedenkenlos in Kauf genommen wurden.

Auch im islamischen Raum erfassten im 19. Jh. mehr und mehr Leute unter den Gebildeten und politisch Verantwortlichen den klaffenden Vorsprung des nichtmuslimischen Europas und sahen nicht nur die Vorzüge abendländischer Zivilisation, sondern auch den Sinn ihrer Nachahmenswertigkeit ein. Hier und da meldeten sich unterschiedliche Initiativen, die von derselben Einsicht ausgehend, durch Wort oder Tat auf das europäische Zivilisationsmodell zurückgriffen, um regenerierende Erneuerung und heilsame Modernisierung zu empfehlen oder zu erzielen. Wohl am bekanntesten sind die Beispiele von Sultan Mahmud II. (1808-1839) und Muhammad Ali von Ägypten. Bevor letzterer - der aufstrebende Pascha - von den Engländern energisch in seine Schranken gewiesen wurde, war er Gegenstand einer lebhaften Debatte in der europäischen Öffentlichkeit. Für die einen war er der leibhaftige Beleg dafür, dass die Welt des Islam zivilisationsfreudig, erneuerungswillig und reformfähig sei, für andere der krasse Beweis für die Unmündigkeit, ja das Unvermögen derselben aus sich selbst zu regenerieren.

Weniger bekannt, dennoch ausgesprochen aufschlussreich in diesem historischen Kontext einer kulturellen Auseinandersetzung der Welt des Islam mit der westlichen Kultur, ist das Beispiel des tunesischen Reformers Khair-eddin. Hauptdokument seines Reformdenkens ist sein Werk "Aqwam al masâlik fî ma`rifati ahwâl al mamâlik" (etwa: "Der geradeste Weg zur Kenntnis der Zustände der Länder"). Als dieses Buch bzw. dessen programmatische Einleitung 1868 in französischer Übersetzung erschien, befand sich der damals bekannte Orientreisende Heinrich von Maltzan gerade in Tunis. Dem belesenen Orientalisten und viel gereisten Autor mutete die Schrift auf Anhieb an als "vielleicht das Bedeutendste, was in unserem Jahrhundert im Orient geschrieben wurde." Um 1870 fiel Maltzans enthusiastische Einschätzung wohl eher voreilig aus. Bald darauf sollte noch jene geistige Bewegung zur Entfaltung kommen, die - vor allem mit Jamal ad-Din al-Afghani (1839-1897) - als die eigentliche Wegbereiterin der "an-nahdha al-islamiya", der modernen islamischen Erneuerungsbewegung gilt.

Doch nicht gerade in diesem großen, immer noch aktuellen Zusammenhang soll hier Khair-eddins Ansatz in Betracht gezogen werden. Leitthema ist vielmehr der Kulturtransfer. Es geht um einen konkreten, meines Erachtens historisch relevanten Fall bahnbrechender Vermittlung von Werten und Mustern aus einer fremden, im Grunde verfeindeten, aber bereits als überlegen anerkannten Kultur, der westlichen, in die eigene soziokulturelle Gemeinschaft, die muslimische bzw. maghrebinische, zum Oberzweck der Behebung eines konstatierten Defizits, der Überwindung eines beklagten Übelstands und der Abwendung einer Gefahr: der kolonialen Unterwerfung.

Nach dem Aufkeimen der (den Islam kompromittierenden) These eines "clash of civilizations" und nach der Erschütterung des 11. September 2001 erscheint es nicht überflüssig, die Geschichte der Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen wieder zu bemühen und vor gegenwärtigem, spannungsbeladenem Hintergrund neu zu befragen.

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