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Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)

Leitung der Sektion/Anmeldung von Referaten bei:
Email: Gerhard Fröhlich (Linz)

ABSTRACT: Wir alle sind Fremdenfeinde: Nichts vereint eine Gruppe mehr als das Bild eines Außenfeindes. Nichts ist köstlicher als Schimpfklatsch. Die Splitter in den Augen der anderen sehen wir, aber nicht die Balken im eigenen. Emile Durkheim glaubte noch an "organische Solidarität": die Arbeitsteilung der Menschen, ihr wechselseitiges Aufeinanderangewiesensein (Bäcker brauchen Müller, diese Tischler, diese Schuster - und umgekehrt) erzeuge positive wechselseitige Gefühle. Dem ist leider oft nicht so - die einzelnen Berufsgruppen, darauf Bedacht, den Wert ihrer Investionen zu schützen, den Prestigewert ihres Berufs/Sektors zu vergrößern, sind meist ernsthaft von der Überlegenheit ihres eigenen Metiers überzeugt. Allein durch ihre Existenz entwerten die anderen anscheinend unsere eigenen Kompetenzen und Tätigkeiten. Wir werten daher andere Kompetenzen und Tätigkeiten im Sinne eines Nullsummenspiels oft ab, um unsere eigenen aufzuwerten. Dies gilt auch für das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, von wissenschaftlichen Diziplinen untereinander, von feindlichen Paradigmen innerhalb der Disziplinen, und vor allem für unser Verhältnis zu anderen, "fremden" Kulturen, Sprachen, Ethnien.

Das Ertragen und die fruchtbare Nutzung kultureller Unterschiede ist jedoch eine kognitive und organisationelle Vorbedingung für Kreativität und Innovation. Es täte uns daher gut, ab und zu unsere Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten in Frage zu stellen, einen "Marsmensch-Blick" zu versuchen, zwecks Distanzierung vom allzu Vertrauten in uns und um uns. Das Verfremden des Vertrauten, sein Versetzen in andere Kontexte, kann uns neue Perspektiven und Einsichten bescheren - Vorbedingungen von Kreativität und Innovation, denn diese ist unvermeidlich deviant, d. h. abweichend vom Bestehenden, Eingeschliffenen. Mut zum Staunen, Mut zum Zweifeln sind genuin philosophische Tugenden. Große Stärken der Wissenschaften wie der Künste wären ihre Verfremdungspotentiale. Zu ihrer konsequenten Nutzung wäre auch eine stärkere, von weniger wechselseitigen Fremdenphobien behinderte Zusammenarbeit von Wissenschaften und Künsten vonnöten.

Vilém Flusser emigrierte als Prager Jude 1940 über London nach Sao Paulo, Brasilien, wo er als Professor für Kommunikations- und Wissenschaftsphilosophie tätig war. In seinen Einsprüchen gegen den Nationalismus entwickelt er - auf Grundlage seines eigenen Lebensschicksals - die "Freiheit des Migranten": Kreativität, Erkenntnis, werde durch biographische Brüche, Kontextveränderungen, Ortsveränderungen gefördert.

SESSION 1

DAS VERBINDENDE DER KULTUREN