Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)

Angelos Giannakopoulos (Konstanz)
Kulturelle Differenzen und symbolische Grenzen: Europäische Identität und die Türkei

Vor dem Kopenhagener Erweiterungsgipfel im Dezember 2002 sind kulturelle Fragestellungen bezüglich des voranschreitenden europäischen Integrationsprozesses vermehrt zu vernehmen gewesen. Besonders kontrovers wurden öffentliche Diskurse anläßlich der Frage geführt, ob man dem Beitrittskandidaten Türkei ein Datum zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen festlegen soll oder nicht. Die Option des Beitritts eines Landes in die EU wurde zum ersten Mal mit kulturellen Fragestellungen verbunden und in der breiten Öffentlichkeit auf just dieser Basis diskutiert. Dies nicht ohne Grund: Der Türkei kommt zweifelsohne eine eigene Bedeutung hinsichtlich der EU-Erweiterung zu. Denn während man innerhalb der bestehenden Union von einer "relativen" Kongruenz in den kulturellen und politischen Ordnungsvorstellungen der nationalen Gesellschaften ausgehen kann (griechisch-römisc he Tradition, Demokratieverständnis, Christentum), ergeben sich im Fall der Türkei mit Blick auf den Islam und die politisch-kulturelle Ordnungsvorstellung des Kemalismus besondere Problemstellungen.

Die in Deutschland geführte Debatte hat gezeigt, daß ein EU-Beitritt der Türkei mit einer dramatisch ansteigenden kulturellen Pluralisierung und Komplexität gleichgesetzt wird. Diese identitätsbezogene Diskurse lassen einen möglichen EU-Beitritt der Türkei durchaus als Ambivalenzerfahrung unter den Europäern feststellen. Die Türkei wird darin als eine "symbolische Grenze", als Grenzpunkt des "Europäischen" betrachtet, dessen institutionelle und kulturelle Divergenz gerade die vorhandenen "Einheitselemente" innerhalb der derzeitigen europäischen kulturellen Vielfalt in Frage stellt.

Grundlage für die innerhalb dieses Beitrags stattfindenden Diskussion über das Verständnis einer europäischen Identität angesichts der oben skizzierten Problematik ist der wissenssoziologische Kultur- und Identitätsbegriff, wonach Identität nicht etwas substantielles, sondern etwas relationales und prozeßhaftes darstellt. Identität stellt somit keine analytische (explanans), sondern eine zu erklärende (explanantum) Kategorie dar. Es wird dementsprechend von einem Kulturbegriff ausgegangen, wonach Kultur Gegensätze nicht in sich aufhebt, sondern immer und notwendig Widersprüche, Ungereimtheiten, Spannungen und Konflikte in sich trägt.

Die erste Frage, die im Anschluß daran thematisiert wird, ist eine grundlegende: ist die EU überhaupt auf eine gemeinsame Identität oder zumindest auf ein Kollektivbewußtsein angewiesen? Die Antwort lautet: ja! Das vertraglich verankerte vorgegebene Ziel einer künftigen politischen Union setzt unentwegt ein solches Kollektivbewußtsein voraus. Daraus ist die erste Prämisse des Beitrags abzuleiten: diese Zielsetzung bedeutet zwangsläufig den Übergang vom Modell einer institutionellen, ökonomisch-rechtlichen zum Modell einer vernetzten und dezentralen Integration, die unter anderem auch kulturell zu bestimmen ist.

Der Beitrag setzt sich sodann mit Diskursen über die Dimensionen einer europäischen Identität auseinander, wobei zwischen zwei Grundhaltungen unterschieden wird: zwischen maximalistischen und "dialogischen" Konzeptionen europäischer Identität. Es wird zum einen festgehalten, daß maximalistische Anstrebungen die kulturelle Identität Europas zu bestimmen letztendlich zur Erkenntnis führen, daß "Europa sich einfachen Definitionsversuchen entzieht". Somit ergibt sich die zweite Prämisse des Beitrags: angesichts der offensichtlichen Schwierigkeit eine europäische kulturelle Identität inhaltlich zu erfassen, führt kein Weg an einer methodologisch-terminologischen Trennungslinie zwischen den Begriffen "Europa" und "Europäische Union" vorbei. Europa mag wohl als Idee durch die Jahrhunderte europäischer Geschichte hinweg existiert haben, als Topos einer gemeinsamen kulturellen Identität aber existiert es sicherlich kaum. Der Begriff "europäische Identität" in bezug auf ein historisch und kulturell verklärtes "Europa" verkürzt außerdem den realen Tatbestand und geht an die tatsächliche Fragmentierung europäischer Identitäten vorbei, die sowohl nationaler als auch regionaler Natur sind.

Es wird zum anderen auf das "dialogische" Verständnis einer europäischen Identität hingewiesen, das europäische Identität als eine vergleichende, stets zu konstruierende Identität begreift. Die (dritte) Prämisse hierbei lautet: der Prozeß der Identitätsbildung innerhalb der EU muß als ein "intersubjektiver" und "dialogischer" Lernprozeß zur Konstitution des "kollektiven Selbst" aufgefaßt werden, und zwar auf der Grundlage einer praxisbezogenen interkulturellen Dialogfähigkeit und Kompetenz.

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