Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen, der slawischen und der deutschen Kultur

Dorothee Gelhard (Universität Regensburg)
Moses Mendelssohns Vermitteln zwischen den Kulturen

Vergleichbar der Rezeption Peters des Großen, der den Russen das "Fenster zum Westen" öffnete, verläuft auch die des Philosophen Moses Mendelssohns: Er gilt als derjenige, der den Juden den Weg in das moderne Europa bahnte. Bemerkenswert an dieser Wahrnehmung ist, dass ihr ein Antagonismus innewohnt, der scheinbar unumstößlich ist: Auf der einen Seite Rationalität, auf der anderen Religion bzw. Tradition. Dabei wird erstere mit Moderne und Fortschritt gleichgesetzt, während letzteres als rückständig gilt. Dieser Schematismus dauert bis heute an und bestimmt auch den gegenwärtigen "Kampf der Kulturen". Die Moderne wird dabei aufgefasst als Etablierung der säkularen Vernunft, als "Entzauberung", Überwindung der Vorstellung von der Wirklichkeit als einem "Kosmos" (einer sinnerfüllten Ordnung, in die der Mensch eingeschlossen ist) und als schrittweise Entfaltung einer ihrer selbst bewussten Weltlichkeit. Doch gerade eine nähere Beschäftigung mit dem philosophischen Werk Mendelssohns zeigt die Fragwürdigkeit dieser Polarisierung. Mendelssohns Betonung des Vernunftglauben reflektierte zwar durchaus die deutsche Aufklärungsphilosophie, doch stand sie keineswegs im Widerspruch zu den Lehren des Judentums.

Als Jude, der aus dem Ghetto heraus wollte, strebte Mendelssohn die europäische Aufklärung an, was für ihn eine doppelte Assimilierung bedeutete: Als Deutscher wollte er aufgeklärt und als Jude wollte er europäisiert werden, was für ihn gleichbedeutend mit dem Prozeß einer Germanisierung war. Beide Attribute aber, der jüdische Europäer und der europäisierte Jude stellten eine hohe Anforderung an eine interkulturelle Verständigung. Der Widerstand, auf den Mendelssohn auf beiden Seiten stieß - die deutsche Gesellschaft akzeptierte ihn nicht, und die jüdischen Kreise misstrauten seinem Denken, weil sie sich in ihren Grundfesten, der geoffenbarten Religion, erschüttert sahen -, hat seinen Ursprung in dem Antagonismus von Vernunft und Glaube, von Erkennen und (Gottes-)Schau. Mendelssohn verstand zwar die aufgeklärte europäische Kultur als unabhängig von geoffenbarter Religion, sah die beiden jedoch nicht als gegensätzliche Größen. Er träumte vielmehr von einer vermittelnden Synthese, und so ist seine Übertragung des Pentateuch ins Deutsche weit mehr als nur ein linguistisches Projekt. Es ist der Versuch, "Vernunft zu hebräisieren". Der Vortrag will dieser versuchten Synthese von Vernunft und Glauben nachgehen und über eine Erweiterung des Modernebegriffs nachdenken.

DAS VERBINDENDE DER KULTUREN