Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Das Schreiben in der Migration: Literatur und kulturelle Kontexte (in der Romania)

Klaus Semsch (Universität Düsseldorf)
Le blues tunisien - Hybride Gegenwartskultur Tunesiens im Erzählwerk Ali Bécheurs (* 1939)

Ali Bécheur, Jurist im tunesischen Staatsdienst (Studium in Tunis und Paris) und Schriftsteller, steht in der jüngeren Nachfolge von afrikanischer négritude und europäischer Avantgarde. Beide Bewegungen setzten der europäischen Mimesis-Tradition visuelle Welten (Surrealismus) bzw. dem (kolonialistischen) Rationalismus den mythisch geformten und sinnlich erfahrenen Faktor einer Afrique-mère (Césaire, Senghor) entgegen. Auch mit der Existenzphilosophie Sartres gibt es im Falle Bécheurs enge Berührungspunkte.

Interessant ist sein Werk, weil es sich in wichtigen Punkten von der im Kulturraum der Frankophonie derzeit verbreiteten These Glissants von der ,Kreolisierung der Welt' kontrapunktisch absetzt. Der Karibik, die derzeit gerne zum antizipatorischen Projektionsort des in der Diskussion um Moderne und Postmoderne entwickelten Leitgedankens vom global village stilisiert wird, und der zentrale postmoderne Merkmale zugesprochen werden (etwa Hybridität, Komplexität, Kultur der Begegnung des Diversen, des Unvorhersehbaren), stellt sich hier mit dem tunesischen Mittelmeerraum ein dem Europäer altvertrauter geografischer Horizont zur Seite. Dessen von Glissant mit Nachdruck verabschiedetes Merkmal einer ,pensée de concentration', genauer die zuletzt als prekär empfundene (europäische?) Neigung der einseitigen Verbindung des Disparaten, scheint nun aber eventuell dem jüngst wieder erkennbaren Bedarf nach intersubjektiv symbolischer Identifikation, gerade aufgrund der hinlänglich gemachten ,Differenzerfahrungen', auf eine neue Weise Rechnung tragen zu können.

Konservativer Provokationsort eines überholten Denkens oder aber dialektisch aktuelle Reaktion auf die wachsende Beliebigkeit des Differenzgedankens ? - das zeitgenössische Tunesien Bécheurs akzentuiert tatsächlich in der Vermittlung seines Erzählwerkes auf interessante Weise die dringliche Frage nach dem existenziell Verbindenden offener Multikulturen. Seine Figuren rekurrieren dabei auf die autobiografische Perspektive der subjektiven Sinnsuche von Menschen, die sich als Migranten der eigenen Existenz begreifen. Aus der erinnernden Retrospektive dieser Protagonisten sollen Passagen emotiver ,Konzentration' aufgezeigt werden, die den gebrochenen Kulturräumen der in Tunesien lebenden Muslime, Juden, Berber und Europäer wenn auch nicht die Illusion, so doch das humanitäre Recht auf Auswege aus der historisch wie existentiellen Krise der Brüche vorzeichnen.

Die Prosa Bécheurs greift dabei auf eine traditionelle afrikanische Stärke zurück - auf die Musikalität des Erzählens. Diese bereits für die négritude-Schreibhaltung so zentrale Erzählkomponente gibt sich in der Prosa Bécheurs nun aber weniger die komplexe, 'paralogische' Tonalität des Jazz, sondern konzentriert in wenigen, archetypischen Handlungs- und Charaktermustern eine Atmosphäre von Schlichtheit und déjà vu. Der blues tunisien setzt dem intellektuellen Fortschreiten des Jazz in Variante und Umspielung von Grundtönen die Taktik einer emotionalen Differenz entgegen. Nicht die Abweichungen, das ,Nicht-auf-den-Punkt-Kommen', sondern die in Wiederholungen und parallelen Lebensläufen stets gleichen Grundbedürfnisse der verschiedenen Protagonisten kreieren die spezifische Atmosphäre der Einzelgeschichten. Die ganze Kunst liegt darin, die wenigen vorhandenen Töne mit neuer Emotion anzufüllen. Wird die Seele des Blues wieder belebt als eine mögliche Antwort auf die Engpässe absolut gedachter Offenheit und Differenz ? Ist es nicht an der Zeit, auch in der Literatur globaler Öffnung, Differenz und Wanderschaft erneut Orte des emotional Verbindenden, ja Verbindlichen aufzuspüren ? Der Beitrag versucht hierzu eine Fährtenlese.

Publikationen von Bécheur:
Du miel et d'aloès, roman (Tunis, 1989)
Les saisons de l'exil, nouvelles (Tunis, 1991)
Les rendez-vous manqués, roman (Tunis, 1993)
Jours d'adieu, roman (Tunis/Paris, 1996)
La porte ouverte, essai (Tunis, 2000)
Tunis blues, roman, (Tunis, 2002)

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