Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Virtualisierung von Raum, Wahrnehmung und Kultur

Walter Ötsch (Johannes Kepler Universität Linz)
Objekte als virtuelle Hüllen

Nach Susanne Langer ist nur der Mensch fähig, dinghafte Objekt-Vorstellungen zu entwickeln. Diese Fähigkeit ist nach Jean Piaget nicht angeboren, sondern erlernt (vgl. die diesbezüglichen Implikationen in den Modellen der Selbst-Entwicklung bei Daniel Stern). Merleau-Ponty hat gemeint, man könne sich ein Objekt nur präsent machen, wenn man seine aktuell "unsichtbare" Hinterseite mit-imaginiert. Menschen erfassen demnach (phänomenologisch) ein Objekt, indem sie eine "Hülle" um ein atmosphärisches "Etwas" legen. Dieser Hintergrund kann kulturgeschichtlich genützt werden: nach welchen Kriterien wurden in verschiedenen Kulturen und Epochen "Hüllen" gebildet und welche Besonderheiten weisen sie auf?

Beispiele für die Kulturgeschichte Europas sind (Auszug aus einer längeren Liste):

1. "mythische Objekte" bei Homer, als Verkörperung "mythisch-göttlicher Substanz" (Kurt Hübner, wobei Götter "Individuen mit Allgemeinbegriffen" sind),

2. "poröse System-Objekte" (Hartmut und Gernot Böhme, Hermann Schmitz) bei manchen Vorsokratikern (als Ausdruck operativen Denkens, Christoph Hallpike),

3. "akzidentielle Objekte", z.B. bei Aristoteles, mit fixen Eigenschaften 4. "universalistisch-symbolische Objekte", im frühen und hohen Mittelalter, die mit Symbol-Bezügen "umhüllt" sind und auf andere Objekte in einer Gesamthierarchie verweisen (Johan Huizinga),

5. "geometrisch-geistige Objekte", vorrangig anhand ihrer visuellen Kontur definiert (z.B. in Theorien des perspektivischen Malens),

6. "räumlich ausgedehnte Objekte", wie bei Descartes, die in einem dreidimensionalen Raum in Berührungskontakt positioniert werden (erst hier gehorchen Objekte Naturgesetzen).

7. "reine Raum-Objekte", wie im Newtonianismus (wie er in viele Sozialwissenschaften Eingang gefunden hat), als isolierte Einheiten in einem leeren Raum-Container (als "sensorium Gottes", später materialistisch-atheistisch interpretiert),

8. "postmoderne Design-Objekte", als Fortführung romantischer Ideen, deren "Hüllen" ästhetisch interpretiert und nach ästhetischen Kriterien geformt werden.

Zeitgemäße "virtuelle Objekte" (z.B. "augmented reality", "digitale Aura") sind demnach Varianten bzw. Weiterentwicklungen des "Hüllen-Potentials" von Menschen mit einer langen Geschichte, - all das freilich nicht nur als Ideen- oder Konzept-Geschichte, sondern immer mit der Frage, ob und inwieweit es individuelle und kulturell-kollektive Wahrnehmungsprozesse (mit Bezug zu der grundlegenden "Leib-Hülle" des Menschen) reflektiert (und verständlich macht).

DAS VERBINDENDE DER KULTUREN