Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion IV: Kulturwissenschaften und neue Informationsprozesse

Section IV:
Cultural Studies and New Information Processes

Section IV:
Etudes culturelles et nouvelles formes d’information


Otto Kronsteiner (Salzburg)

Französisch 
Die Vorlesung - ein Relikt der medialen Steinzeit?

Die Vorlesung neben Konversatorium, Seminar und Privatissimum als Form der Wissensvermittlung ist noch immer trotz Buchdruck, trotz Computer und trotz vielerlei Arten des TextKopierens ein zentrales Element unseres Bildungswesens. Man muss sie als typisches Element unseres Bildungswesens bewerten. Andererseits steht sie als Form der Redekunst in Nachbarschaft von Predigt, Dichterlesung, Vortrag, Mitteilung, Bericht, Ansprache, Rede. Die Angelesenen/Angesprochenen dürfen nicht dreinreden! Sie ist durch freien Vortrag oder durch Ablesung eines eigenen oder fremden Textes (in der Kirche: die Lesung) möglich.

Im universitären System der deutschsprachigen Länder darf eine Vorlesung nur halten, wer die Venia legendi hat. Wer diese nicht hat, nennt seine Wissenvermittlung Proseminar, Einführung oder ähnlich. Die Unterschiede zum Habituierten oder Professor sind im Transportwesen Regionalzügen, Inter- und EuroCitys vergleichbar. Wegen Basisdemokratie dürfen akademische Züge jedoch hinsichtlich Leistung nicht gekennzeichnet werden.

Historisch hat dieses Unterrichtsmodell seinen Ursprung im Mittelalter, und zwar – wie oft klagend formuliert wird – in der Zeit vor Erfindung des Buchdrucks, also vor dem 15. Jh., als es nur handschriftliche Weiterverbreitung von Wissen/Texten gab. Der Vorlesende hat einen Text verfasst, den noch niemand kennt und trägt ihn als eigenen Text vor.

Man beachte die etymologische Semantik in anderen Sprachen: poln. odezyt/wyklad, russ. lekcija/doklad, kroat. predavanje, bulg. lekcija, fr. cours, discours, conférence, it. lezione, conferenza, engl. lecture/performance.

Die ursprüngliche Form der Vorlesung war die freie Rede und diese war wohl in der griechischen Akademie und zu allen Zeiten üblich: sein Wissen anderen preisgeben, anbieten, vortragen – seine Ansicht frei heraussagen (profiteor > Professor). Dies tun auch VolksschullehrerInnen und GymnasialprofessorInnen. An den Universitäten wird, obwohl alles im Vorlesungsverzeichnis aufscheint, kaum noch vorgelesen. Eigentlich sind die ausserplanmässigen Vorträge Vorlesungen. In diesen wird noch nicht Publiziertes mitgeteilt. Es erscheint später im Druck und kann still nachgelesen werden. So war es offensichtlich auch schon mit den Voträgen/reden des Sokrates und Ciceros.

In Verruf gekommen ist die Vorlesung dadurch, dass ihr Inhalt Semester-lang dergleiche, ermüdend oder langweilig, und die Form der Präsentation kläglich waren. Dennoch sind die meisten mit Venia legendi behafteten Professoren nach wie vor überzeugt, dass eine Vorlesung je unverständlicher und länger desto wissenschaftlicher, und je verständlicher und kürzer desto unwissenschaftlicher, populärer (ein grobes Schimpfwort unter Akademikern!) und unseriöser ist.

Ich denke an viele literatur- und sprachwissenschaftliche Vorlesungen, wo es nicht gelingt, logistisch gliederbare Inhalte zu erkennen. Der Grad ihrer Wissenschaftlichkeit muss so hoch sein, dass er nur engsten Fachleuten zugänglich wird. Arme Studenten!

Ausserdem haben ein-, zwei- oder dreistündige (abgekürzt 1st, 2st, 3st) Vorlesungen (je Woche auf ein Semester gerechnet) ohne Rücksicht auf Inhalt abzüglich des akademischen Viertels (= je 15 Minuten) exakt 45, 90 bzw. 135 Minuten zu dauern. Hier beginnt der eigentliche Irrsinn der Vorlesung als Präsentation von Inhalten. WissensVermittlung sollte nicht an Minuten gebunden sein, sondern an Inhalte.

Man übertrage das auf die Musik oder Literatur und stelle sich die Bestellung von Sonaten zu 15 und von Novellen zu 45 Minuten vor.

Lange Zeit konnte man VorlesungsInhalte als Bücher gedruckt oder hektographierte (vom Professor vidiert oder nicht) Skripten – beides inunbegrenzter XeroxVervielfältigung – käuflich erwerben, wobei im ersten Fall der Professor anteilmässig am Verkauf beteiligt war, im letzteren und bei XeroxKopien überhaupt nicht. Durch das Internet ist allen alles zugänglich, was den publizistisch nicht gerade verwöhnten Professoren zu grosser Publicity verhelfen könnte – der weltweiten Aufklärung steht nichts mehr im Weg. Das Salaire für die Leistung steht aber in Gefahr. Schliesslich ist auch diese Leistung eine Ware, die man verkaufen kann/muss, die ihren Preis hat. Das sollte endlich auch in der Öffentlichkeit, in der staatlichen Administration und an den Universitäten selbst bekannt werden. Gute Ware kostet Geld. Die Zeiten, wo man finanziell gut abgesichert Wissenschaft als Hobby betrieben hat, sind vorbei. Es ist eine Tätigkeit wie andere auch. Schon im Mittelalter wurden für Vorlesungen Lebensmittel kassiert. Allerdings sollte man für Inhalt und Qualität (Form) bezahlt werden , nicht für Minuten. Nicht die Länge einer Symphonie ist entscheidend! Schon Martin LUTHER hat die Predigten klassifiziert in (1) kurze und gute, (2) kurze und schlechte, (3) lange und gute und (4) lange und schlechte.

Diese Umwertung (Inhalt statt Zeit/Anzahl) hätte eine völlige Veränderung unseres Bildungssystems zur Folge. Es wäre nämlich nicht mehr entscheidend, dass möglichst viele Lehraufträge erteilt werden, möglichst viele Stunden stattfinden, sondern dass das Wissen für ein Fach wie Polnisch (gegliedert in Spracherwerb, Kulturkunde, Landeskunde, mit zielorientieren Leselisten) überschaubar dargestellt und ein möglichst effektvoller WissensErwerb angeboten wird. Das würde die Studierenden zunächst zu aktiveren Lesern machen und nicht wie bisher zur Vorlesungsbesuchern, die unterhalten und gesehen werden wollen. Universitätslehrer sollten mehr als Autoren ihres Faches mit den modernen Verbreitungsmöglichkeiten von Information tätig und für das wohlstrukturierte Wissensangebot bezahlt werden. Dafür müsste man auch das Prinzip des Autorenschutzes einführen. Das bisherige Studienangebot ist, falls man es überhaupt als Angebot bezeichnen kann, chaotisch, unüberschaubar und nicht zielorientiert. Studienziele werden prinzipiell (?) nicht angegeben. Möglicherweise sind sie den meisten Universitätslehrern auch nicht bekannt.

Selbstverständlich kann der WissensErwerb nicht in allen Fällen gleich lang dauern – das Drei-Jahres-Studium ist kein Patentrezept für alle Fächer. Er wird für Sprachen wie Deutsch, Sprachen mit anderer Schrift (wie Russisch oder Arabisch) oder Sprachen mit komplizierter Zeichenschrift (wie Chinesisch) unterschiedlich lang dauern. Es gibt eben leichtere und schwierigere Fächer.

Für Grundstudien sind Vorlesungen mit neuesten Forschungsinhalten noch nicht nötig. Es geht um den Erwerb von Grundwissen, das medial von erfahrenen Autoren (FachKennern, FachForschern) aufbereitet und von den Studierenden rezipiert werden muss. Die Autoren/Professoren sollten in Kolloquien das medial erworbene Wissen abfragen, testen und beurteilen. Erst dann ist eine kreative Verwendung des Wissens möglich und anzustreben. Damit wäre die universitäre Ausbildung, ohne die bisherige unökonomische Anzahl von Vorlesungen, statt dessen aber zielorientiert abgeschlossen. Kurz: die Bibliotheken müssten grösser, die Hörsäle kleiner werden.

Die Institute könnten sich zusammensetzen aus einem funktionsfähigen Büro und medial aufgeschlossenen Forschern und Fachleuten, die ihre Forschungsergebnisse ständig in die GrundwissensVermittlung einbauen. Die Unzahl von Lehraufträgen an x-Beliebige für hochtrabende oder marginale Themen, mit denen niemand etwas anfangen kann, oder solche wegen angeblich gigantischer Hörerzahlen wären kaum noch nötig. Das Schwergewicht der Studenten-Betreuung müsste bei philologischen Fächern auf Sprachausbildung und Sprachtraining gelegt werden.

Die traditionelle Vorlesung als zentrale Form der universitären Ausbildung ist ein akademischer Luxus, der niemanden mehr dient. Hingegen sollte der nach Möglichkeit freie Vortrag ohne zeitliche Vorgaben mit Diskussion, zu einem wesentlichen Element akademischen Lebens und zur Wissensvermittlung über den jeweils neuesten Forschungsstand werden. Typisch für das geltende System ist das völlige Fehlen von Studenten bei Vorträgen (Gastvorträgen) ausserhalb der vorgeschriebenen, mit Schein zu absolvierenden Vorlesungen.



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© INST 1999

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