Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion V: "Globalisierung" und Kulturwissenschaften

Section V:
"Globalisation" and Cultural Studies

Section V:
"Globalisation" et  études culturelles


Márta Harmat (Szeged, Ungarn)
"Frauenschicksale"? - Europäische Kultur- und Mentalitätsgeschichte
(Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest)

 

Globalisierung der Kultur ist heutzutage infolge des weltweiten Informationsbooms bzw. der multi- und transnationalen Unternehmungen des politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Lebens unserer Zeit zu einem besonders akuten Forschungsgegenstand geworden. Für die Kulturwissenschaften, unter ihnen auch die Literaturforschung, ist aber die Problematik des Universalismus nicht neu. Seit der Spätaufklärung, insbesondere seit der Entstehung von Goethes Weltliteraturbegriff (1) wird das Verhältnis zwischen "Menschheit" und "Einzelvölkern", "Allgemeinmenschlichem" und "Individuellem", "universalem Kulturgut" und "nationalen Traditionen" von der mit der Zeit selbständig werdenden Kulturwissenschaft, von der Komparatistik immer vielseitiger untersucht.

In meinem Vortrag möchte ich durch eine vergleichende Motivanalyse anhand der sogenannten "realistischen Ehebruchsromane" des 19. Jahrhunderts (Flauberts Madame Bovary, Tolstojs Anna Karenina und Fontanes Effi Briest) darstellen, wie diese Werke der französischen, russischen und deutschen Literatur mit ihren "nationalspezifischen" philosophischen, ethischen und ästhetischen "Lösungen" solche gesamteuropäischen Fragestellungen ihrer Zeit zu beantworten versuchen, die bis heute nicht endgültig und eindeutig gelöst werden konnten. Ich möchte also keine individual- oder sozialpsychologische Interpretation dieser berühmten Frauenschicksale durchführen, um zu ihren zahlreichen Analysen unter solchem Aspekt noch einen weiteren Beitrag zu leisten. Mithilfe der komparatistischen Analyse versuche ich zu schildern, was für eine große Bedeutung diese "Frauenromane" des 19. Jahrhunderts aus der Sicht der Kultur- bzw. Mentalitätsgeschichte haben, - dank eben ihrem gemeinsamen Ehebruchsthema und ihren ähnlichen Motivstrukturen, aber inhaltlich ganz unterschiedlichen Reaktionen auf die Probleme der Epoche. Wenn ich über die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung literarischer Motive spreche, möchte ich natürlich keine "stereo- bzw. imagotypischen nationalen Denkmodelle" konstruieren, auf deren große ideologische Gefahr u.a. Hugo Dyserinck, Vertreter der europäischen Imagologie, sehr überzeugend hinweist. (2) Ich bin aber der Meinung, daß das Gemeinsame durch Alterität und Variabilität besser verstanden werden kann. So werde ich jetzt mithilfe ähnlicher Motive in Romantexten von Flaubert, Tolstoj und Fontane vor allem die geschichtlichen, d. h. die raum- und zeitbedingten Unterschiede interpretieren.

Alle drei Romane schildern - durch ihre Titelwahl unterstrichen - eine individuelle "Lebensreise". Wie jede Fahrt, werden auch die Schicksale unserer Titelheldinnen von gewöhnlichen Reiserequisiten (z. B. Landstraßen und Wasserflächen, Fahrzeugen und Mitfahrenden, Natur- und Wohnortsveränderungen, Abschieds- und Heimkehrsituationen) gekennzeichnet, dazwischen aber auch von ganz unerwartet auftauchenden, außerordentlichen und schockierenden Begleiterscheinungen erschüttert. Sowohl in den alltäglichen Lebensumständen der Romanheldinnen von Flaubert, Tolstoj und Fontane als auch in ihren geheimnisvollen und unheimlichen subjektiven Erlebnissen können einerseits die gesamteuropäischen Prozesse der Zeit entdeckt werden (z. B. die rasche Entwicklung der technischen Zivilisation und der Naturwissenschaften, Skepsis den traditionellen humanen Werten - dem Schönen, Guten und Wahren - gegenüber, Verstärkung der emanzipatorischen Frauen- und Massenbewegungen, Krise der Machtapparate usw.), andererseits aber auch die spezifischen Reaktionen der französischen, russischen und deutschen Literatur auf die neuen Probleme der menschlichen Existenz.

In allen drei Frauengeschichten wird die bewegliche und gefährliche Lebensfahrt der Heldinnen als "Verirrung" oder "Entgleisung", als Abschweifung vom bekannten Weg geschildert, dessen Stabilität durch klare, "eisenharte" Normen der gesellschaftlichen Ordnung und moderne, "glänzende" Ergebnisse der Wissenschaften und der technischen Zivilisation gesichert wird. Sowohl die Ordnungslinien der Gesellschaft als auch die ausweglosen Kreisbewegungen der Heldinnen werden durch ganze Motivreihen begleitet. In den komplizierten Motivstrukturen der drei Romantexte können die Motive des Außerordentlichen und Unheimlichen hervorgehoben werden. Diese sich in verschiedenen Formen und Variationen wiederholenden, bedeutungstragenden Textelemente sind in allen drei Romanen als Symbole der spontanen und gescheiterten Ausbruchsversuche zu betrachten - bei Flaubert aus der gemeinen Banalität der Welt, bei Tolstoj aus einem seelenlosen Leben ohne die "bindende Kraft" der lebendigen Liebe und bei Fontane aus der "eisernen Ordnung" der Gesellschaft.

Unter den Motiven des Außerordentlichen und Unheimlichen in Flauberts Madame Bovary möchte ich die besonders große kultur- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des "blinden Bettlers" betonen. Diesen ständigen "unheimlichen" und "schreckerweckenden" Begleiter von Emmas Ehebruchsfahrten, der mit seinem "scheußlichen Gesicht" wie ein ""Schreckgespenst aus der ewigen Nacht des Jenseits" (3) auch in Emmas Sterbeszene anwesend ist, aus dem Weg der Zivilisation zu räumen und in ein Krankenhaus zu stecken gelingt am Ende dem dummen, selbstsicheren "Fortschrittsfanatisten" (4) Apotheker Homais. "Kürzlich hat er [Homais] das Kreuz der Ehrenlegion erhalten." (5) - lautet der letzte Satz des Romans, dessen Ironie bezeichnet, daß Flaubert keine philosophische Lösung und keine moralische Lehre findet. Für seine ästhetische Sensibilität bleibt allein die Schönheit der präzis-realistisch formulierten Sprache, wie er in seinem Brief vom 18. März 1857 nach dem von seinem Roman hervorgerufenen Skandal bestätigt: "Außerdem muß sich die Kunst über die persönlichen Neigungen und nervösen Empfindlichkeiten erheben! [...] Die Hauptschwierigkeit bleibt für mich darum nicht minder der Stil, die Form, das undefinierbare Schöne, das [....] der Glanz des Wahren ist, wie Plato sagte." (6)

Mentalitätsgeschichtlich betrachtet, ist die kleine Muschikfigur in Tolstojs Roman, der ständige Begleiter der Eisenbahnfahrten und Schreckvisionen von Anna Karenina, letzten Endes durch die Angst der russischen Seele vor der "Materialisierung" der Kultur, vor dem Verlust der einzigen "bindenden Kraft des Lebens" (Dostojewsij): der "allumfassenden Liebe" zu erklären. (7) Was für eine "Sendung" hat diese seltsame, widerspruchsvolle Muschikgestalt in Tolstojs Text: ein russischer Bauer mit "Eisenzeug" unter den "gußeisernen Rädern" (8) der Lokomotive? Wer hat ihn in Annas Leben und in ihre Todesszene gesandt? "Die Rache ist mein" - heißt das Romanmotto, die biblische Gotteswahrheit. Versuchen wir das Bibelwort mithilfe von Tolstojs Gottesbegriff zu interpretieren: "Das Leben ist alles. Das Leben ist Gott. [...] Das Leben lieben, heißt: Gott lieben" (9), dann gelangen wir zum höchsten Wert, den Tolstoj der modernen "eisernen Zivilisation" gegenüber anbieten kann, zum Kern seiner moralphilosophischen Lehre: zu der allmächtigen Kraft der lebendigen Liebe, die letzten Endes auf die prawoslawischen Gemeinschaftstraditionen der "allumfassenden Liebe" (sobornost') zurückzuführen ist.

In Fontanes Werk wird die tragische Ehegeschichte von Effi Briest von der rätselhaften Chinesenfigur begleitet. (Er ist die Parallelfigur von Emmas "blindem Bettler" und Annas "kleinem Bauer mit Eisenzeug".) Diese Spukgestalt, die in Effis Seele zuerst Neugier, später aber Angst und große Verwirrung erweckt, kann als Verkörperung von Effis Gewissensbissen und auch als Erziehungsmittel in der Hand ihres Mannes betrachtet werden: "Also Spuk aus Berechnung, Spuk, um dich in Ordnung zu halten" (10) - wie es Major Crampas, Effis Liebhaber ihr erklärt. Die Motive des Unheimlichen und Außerordentlichen im Zentrum mit der Chinesenfigur veranschaulichen in Fontanes Roman nicht nur die spontanen und gescheiterten Ausbruchsversuche aus der Ordnung, sondern auch ihre Folgen. Sie deuten die Scheinstabilität der "eisernen Ordnung" an und drücken Fontanes Skepsis gegenüber dem spätbismarckschen Junkeroptimismus des Preußentums aus. Effis Grabstein in der Mitte des schönen Gartenrondells mit dem geheimnisvollen Kopfschütteln des treuen Hundes Rollo am Ende des Romans verweist auf eben diese Skepsis, bedeutet aber keine konkrete Antwort. Fontane kann und will wahrscheinlich die unauflösbaren Widersprüche seiner Zeit nicht lösen.

Meine Sektionsrede wird versuchen, die kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Konsequenzen meiner vergleichenden Motivanalyse zusammenzufassen und mit einigen textnahen Interpretationen noch überzeugender zu unterstützen.

 

ANMERKUNGEN

1 Vgl. Goethes Ä ußerungen zur "Weltliteratur", z. B.: "dasjenige was ich Weltliteratur nenne, dadurch vorzüglich entstehen wird, wenn die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalten, durch Ansicht und Urteil der übrigen ausgeglichen werden"; "daraus nur kann endlich die allgemeine Weltliteratur entspringen, daß die Nationen die Verhältnisse aller gegen alle kennen lernen und so wird es nicht fehlen, daß jede in der andern etwas Annehmliches und etwas Widerwärtiges, etwas Nachahmenwertes und etwas zu Meidendes antreffen wird" usw. - Zitiert nach Kaiser, Gerhard R.: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft. Darmstadt, 1980, S. 11-13.
2 Dyserinck, Hugo: Komparatistik als Europaforschung. In: Dyserinck, Hugo/ Syndram, Karl Ulrich (Hrsg.): Komparatistik und Europaforschung: Perspektiven vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaft. Bonn, 1992, S. 42.
3 Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Revidierte Übersetzung aus dem Französischen von Arthur Schurig. Frankfurt am Main/Leipzig, 1994, S. 430.
4 Ebenda, S. 453.
5 Ebenda, S. 460.
6 Flaubert, Gustave: Briefe. Herausgegeben und übersetzt von Helmut Scheffel. Zürich, 1977, S. 366.
7 Diese Angst vor der westlichen Zivilisation, die als Folge der Peterschen Reformbestrebungen den Grundton der ganzen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts bestimmt, wird von N. Berdijaev, dem russischen Philosophen des 20. Jahrhunderts ganz eindeutig formuliert: "Furchtbare Wunden werden...durch die Technik und die Maschine dem Seelenleben des Menschen...zugefügt. Das seelisch-emotionelle Element stirbt in unserer Zivilisation ab." (Nikolaj Berdiajev: Mensch und Technik. Schriften zur Philosophie. Hg. von André Sikojev. Mössingen-Talheim, 1989, S. 29.)
8 Tolstoj, Leo N.: Anna Karenina. Hg. von Gisela Drohla. Frankfurt am Main, 1966, S. 1130.
9 Tolstoj, Leo N.: Krieg und Frieden. Ins Deutsche übertragen von Michael Grusemann. München, 1959, S. 699.
10 Fontane, Theodor: Effi Briest. Stuttgart, 1989, S. 150.



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