Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VI: Kunst und "Globalisierung"

Section VI:
The Arts and "Globalisation"

Section VI:
Art et "globalisation"


Peter Roessler (Wien)
Internationalität und Aktualität. Substanz oder Ideologie von Dramaturgie?

Der Begriff Dramaturgie gleicht einer Phantasmagorie. Er scheint so klar, wenn man ihn im Pandämonium des Theaterbüros sucht und löst sich doch auf, wenn man nach ihm greift. Das liegt zunächst an einem Mangel, nämlich an der Erinnerungs- und Geschichtslosigkeit eines Teils seiner Vertreter, die gewohnt sind, rasch die jeweilige Gestalt ihrer Umgebung anzunehmen. Darüber hinaus aber oszilliert der Begriff, auch wo er dauerhafte Konturen gewinnt, zwischen einer Theorie des Dramas und einer auf szenische Realisation gerichteten Lesart. Daß das eine ohne das andere nicht denkbar sein sollte, hat bereits Hegel vorgeführt, der in seiner "Ästhetik" die theoretische Durchdringung des Dramas mit der Feststellung verknüpfte, daß die Aufführung essentiell zum Drama gehöre.(1) Dramaturgie läßt sich dabei - auch in ihrem anwendungsbezogenen Verständnis - als Teil einer umfassenden Kulturwissenschaft begreifen. Das sei jedoch mehr als Perspektive, denn als Feststellung formuliert.

Die Internationalität war und ist für Dramaturgie konstituierend, dennoch gilt es, diesen Status mehr zu befragen, als zu feiern. Zwei auf die Praxis bezogene Probleme vorab: Nimmt man erstens den gegenwärtigen Zustand, wie er sich an den kanonisierten Spielplänen etwa der deutschsprachigen Theater ablesen läßt, so erweist sich die Internationalität als noch immer stark von der Entwicklung des modernen europäischen Dramas seit der Jahrhundertwende geprägt. Was hinzugekommen ist, beispielsweise die amerikanische Dramatik, hat ihre dazu analogen Strukturen. Dieser Reichtum ist mit Ausschlüssen verbunden, die internationalen Möglichkeiten außerhalb dieses Kanons werden auch heute noch kaum wahrgenommen. Nimmt man zweitens die Funktion des Begriffs Internationalität, so zeigt sich, daß er gegenwärtig mehr den Charakter einer allgemeinen Formel angenommen hat. Meist ist er Bestandteil der Reklametechnik rund um eine Inszenierung oder ein Ensemble von Aufführungen, das unter einem Festspieletikette firmiert. Auffällig dabei ist die Kombination mit dem Begriff aktuell, die bis zu einer synonymen Verwendung führen kann - international ist aktuell und aktuell ist international.

Bei der Suche nach Lösungen wird mitunter von einer Sicht ausgegangen, die mit dem Terminus "Herausforderung" verbunden ist. Dieser Auffassung zufolge sieht sich das kulturelle Subjekt objektiven Bewegungen wie der Internationalisierung und Globalisierung gegenübergestellt, deren es sich nun als ebenbürtig erweisen muß. Der vermeintlich menschenfreundliche Weg zu solcher Ebenbürtigkeit hieße dann "Multikulturalität", wo aber gar nicht menschenfreundlich von Kulturen als nebeneinander stehenden Monaden ausgegangen wird.(2) Der zynische Weg hieße "internationaler Standard", dem dann nur die unfreundlichen Eliten in Form der reisenden Stars von Festspielen genügen würden. Auch ein Zusammentreffen beider Wege kann stattfinden.

Ich möchte (nun mehr theoretisch werdend) dagegen vorschlagen, den Begriff der "Internationalität" zu historisieren. Im Falle der "Dramaturgie" heißt das, sich gleichsam selbstreflexiv Aspekte der Internationalität in der Entwicklung des modernen Dramas seit der Jahrhundertwende anzusehen. Der Blick zurück ist dabei nur scheinbar ein Verharren im Vergangenen, um so mehr, da Dramaturgie wie eine Zeitmaschine wirkt, mit der alle Zeiten, aber auch alle fernen Orte, in denen die Zeiten anders verlaufen, herbeigeholt werden können. Freilich ist dieser Vorschlag zur Historisierung des Begriffs bloß eine der möglichen Variationen des Themas. Die Konzentration auf den genannten Kanon sowie auf die ihn tragenden großen Institutionen sei dabei als Beschränkung in Kauf genommen.(3)

Die Geburtsstunde der modernen Internationalität setzt mit dem Drama der Jahrhundertwende ein. Es läge nahe, das Drama und Theater der klassischen Moderne als ein verlorenes Paradies zu betrachten, in dem Internationalität und Aktualität in reiner Form die Substanz von Dramaturgie ausmachten, während heute bloß die trübe Phrase übrig geblieben sei. Dieser Dualismus von Reinheit und Trübung, von Substanziellem und im weitesten Sinne ideologisch Verformtem führte allerdings an den konkreten Konstellationen vorbei und hätte seinen Endpunkt in der Nostalgie. Eine Engführung mit dem Drama der Jahrhundertwende läßt vielmehr erkennen, daß eine Vielzahl der heutigen Widersprüche und Probleme hier in spezifischer Form bereits anklingen, wobei gewaltige Verschiebungen und Brüche stattgefunden haben. Die Engführung ist dabei nicht die Behauptung von Identität - dies gehörte in den Bereich der Mythologie von den zwei Jahrhundertwenden-, sondern das Aufsuchen verwandter Phänomene, um sie gegenseitig zu spiegeln.

Die Erneuerung der Dramatik kam um 1900 oft von Autoren aus Ländern, die, nimmt man die industrielle Entwicklung zum Maßstab, als rückständig bezeichnet werden können. Ibsens Norwegen oder Tschechows Rußland waren von den großen Metropolen aus betrachtet Orte der Peripherie. Durch ihre internationale Wirkung auf dem Theater wurden diese Schauplätze zu Weltorten. In unserer Gegenwart hat sich das Verhältnis umgekehrt, der eigentümliche Internationalitäts- und Aktualitätsstandard, dem sich kaum eine Theaterdirektion entziehen kann, wird reflexartig von den großen Metropolen übernommen. Dennoch hat das kulturelle Potential von Peripherie sich nicht erschöpft. Peripherie kann auch im sozialen Sinn begriffen werden. Und so war es immer wieder die Situation der Unterprivilegierten, der an den Rand Gedrängten, die Stoff für das moderne Drama gab, wie sich beispielsweise an den vielfältigen Versuchen des modernen Volksstücks und -theaters zeigt.

Um aber bei Ibsen und Tschechow zu bleiben: Die internationale Wirkung ihrer Dramatik war durchaus ambivalent. Zunächst war sie in eine Dialektik von Internationalem und Nationalem gestellt, die sich über ihre Bezogenheit auf die konkrete dramatische Situation ergab. Die zwischenmenschliche Konkretion ließ sie gleichermaßen den peripheren Ort fixieren wie transzendieren, was ihre Wiedererkennung in anderen Kontexten ermöglichte. Zugleich aber war diese Wiedererkennung etwa in Österreich und Deutschland von Bildern überformt, die von der jeweiligen Nation existierten. (Ibsen als mächtiger Magus aus dem Norden, Tschechow als sentimentaler Instrumentalist der russischen Seele usw.) Diese Ideologisierung von Nationen verschränkte sich schließlich mit der literaturprogrammatischen Vereinnahmung. (Ibsens Stilisierung durch die deutschen Naturalisten zu einem Protagonisten ihrer Richtung, Tschechows Mystifikation zum französischen Impressionisten oder zum Bewohner des Wiener Fin de siècle.)

Die internationale Wirkung des modernen Dramas konnte also nie eine Wirkung in toto sein, sondern war von Beginn an Fragmentarisierungen und Transformationen unterworfen. Diese äußerte sich auch in einem Auseinanderfallen von formaler und inhaltlicher Rezeption. Strindbergs Stationentechnik wurde von den deutschen Expressionisten rezipiert und für andere Inhalte verwendet. Parallel dazu und in anderen Zusammenhängen erfolgte sein Aufbau zur internationalen Galionsfigur des Antifeminismus. Besonders deutlich tritt das Auseinanderfallen von formaler und inhaltlicher Rezeption im internationalen Kontext bei den wenigen Kenntnisnahmen des außereuropäischen Theaters auf. Bertolt Brechts - losgelöst vom Gehalt ihrer Zeichenhaftigkeit betriebene - Indienstnahme fernöstlicher Theaterformen, gewidmet der Entfaltung seines theatralen und dramatischen Verfremdungseffektes, ist hierfür ein prominentes Beispiel. Das Phänomen der einseitig formalen Rezeption (nicht nur des fernöstlichen Theaters) zeigt sich auch an gegenwärtigen "interkulturellen" Versuchen der Theateravantgarde. Aber das alte Verhältnis von Form und Inhalt mit seinen Möglichkeiten auch zur einseitigen Rezeption scheint sich ohnehin aufgelöst zu haben. Zu beobachten ist, daß in Analogie zur Allgegenwart der Bilder, die die elektronischen Medien liefern, die formale Wahrnehmung bereits zur inhaltlichen geworden ist.

Über Internationalität und Dramaturgie heute zu sprechen, ist nicht möglich, ohne die totale Durchdringung mit Medienpräsentation und -strategie zu berücksichtigen, die den Begriff von Entwicklung absorbiert. Das macht es für eine kritische Kulturwissenschaft besonders schwierig, die jeweils neu auftretenden Phänomene zu begreifen. Weist man gleichsam entlarvend auf die Inszenierung von medialer Aufmerksamkeit hin, so gerät die Analyse in Gefahr, zu einer Projektion zu werden, die die Medien als den großen Demiurgen dämonisiert, der die aktuelle Theaterentwicklung lenkt. Versucht man hingegen an einer Theatergeschichtsschreibung festzuhalten, die die Medien nur im Bereich der Rezeption ansiedelt, bleibt die Abstraktion von den realen Bedingungen, so als handelte es sich gleichsam um die reine dramaturgische Absicht, auf die eben auch medial reagiert wird.

Diese Durchdringung von Theater und Medien, so neu sie in ihrer Totalität ist, hat natürlich ihre Geschichte, und sie ist Teil der größeren Geschichte der Theatermoderne. Ihr unter diesen Aspekten nachzugehen, würde den Blick für gegenwärtige Entwicklungen schärfen. Die Engführung bringt Programmatiker der Moderne wie Hermann Bahr in den Blick, der in seinen Essays der Verkündigung des Aktuellen huldigte.(4) Seine Artikel sind mit der Pose eines, der vorauseilt und dabei das Aktuelle mit Bildern der alten fremden Kulturen erklärt, geschrieben. Dabei wird meist bloß das Aktuelle im Nachvollzug ornamentiert. Es ist die Beweglichkeit des Modernen, die das Vergessen kurz zuvor noch eingenommener Positionen einschließt. Mit der heutigen Situation trifft weiters zusammen, daß dieser Griff nach dem Neuen eine Reflexionslosigkeit einschließt, die das bewußtlos Modische stets beim anderen kritisiert. Bahrs Schelte der journalistischen Jagd nach dem Neuen ging in diesem Sinne der heutigen larmoyanten Medienschelte des Kulturjournalismus voraus. Konträr dazu läßt sich Schnitzlers Kritik am Kultus des Aktuellen lesen. Schnitzler wies nach dem ersten Weltkrieg die Forderungen der Theaterkritik zurück, Stücke in der unmittelbaren Gegenwart spielen und nur aktuelle politische Probleme behandeln zu lassen. Diese Forderung schien ihm in eine Art journalistische Dramatik zu münden, da das Aktuelle mit dem gerade Geschehenen gleichgesetzt wurde.

Die Klage, daß es keine neuen Stücke gibt, hat oft die Forderung nach dem journalistisch aktuellen Stoff zum Impetus. Einsichtiger wäre wohl das Erschrecken darüber, daß eine Gattung, die - wie gebrochen immer - doch die gegenwärtige Handlung und den Dialog zur Voraussetzung hatte, im aktuellen Leben keine Stoffe mehr findet. Liegt das Drama in Agonie, so funktioniert das Theater als Museum des historischen Dialogs, dem freilich noch genug Bedeutung für die Gegenwart zukommt. Das Museum aber ist zu einer Markthalle des Aktuellen drapiert, die über die Aktualität von Prominenz, Design und Skandal wirkt. Der Rummel, der um diese erzeugt wird, verdeckt die Möglichkeit, zu sehen, wie beim Aktuellen das Alte im Neuen wieder auflebt.

Das reicht bis zu den Dramen des Naturalismus zurück. Basierend auf dem international wirksamen Programm des "Realismus", der sich meist als Naturalismus zeigte, war Heterogenes amalgamiert. Die Identsetzung einer literarischen Methode, die das Leben so detailgetreu wie möglich auf die Bühne bringen sollte, mit der Forderung nach dem Aktuell-Heutigen hatte ihre besondere stoffliche und wirkungsgeschichtliche Konnotation. Das Jetzt lag in der für Autor und Publikum gleichermaßen fremden Welt des Proletarier- oder Lumpenproletarierelends und konnte demnach wie eine Zeit- und Ortsverschiebung wirken. Diese fremde Welt im Eigenen rief bei den Zuschauern das Erlebnis des Schocks und dessen Abwehr im Skandal hervor.

Das deutschsprachige Theater der Gegenwart hat seine eigene Symbiose von Internationalität, Aktualität, Schock und Naturalismus bei einigen Stücken der jungen britischen Dramatiker und Dramatikerinnen, mit denen das moderne Drama wieder auflebte. Der von Rezipientenseite als "Realismus" empfundene Naturalismus dieser Autoren und Autorinnen gründet sich geradezu auf die schockierende Abbildung von Sexualität, Drogenkonsum, Konsumismus usw. Ein medial perforierter Naturalismus, der sich vom historischen Naturalismus durch die Kälte seiner Abbildungen unterscheidet. In der Rezeption ist ein komplizierter Mechanismus von Internationalität zu erkennen. Die vorhandenen Materialien zeigen, daß das deutschsprachige Publikum die dargestellten Stoffe als wesentlich aktuell auch für ihre Länder empfindet. Das viel zitierte Stück "Shoppen & Ficken" von Mark Ravenhill wurde, wie der Regisseur Thomas Ostermeyer darlegte, als Schlüssel zur aktuellen Situation der Jugendlichen rezipiert. Ostermeyer bemerkte, daß eine Generation der Vierzig- bis Fünfzigjährigen die britischen Stücke dieses Typs besuchen, um sich Informationen über die Welt ihrer Kinder zu verschaffen. Die neue britische Dramatik also als Darstellung einer nicht nur britischen Situation: Mit dem Phänomen dieser internationalen Wirkung einer lokal bezogenen Dramatik wirkt die Rezeptionssituation mit ihrer Dialektik von Nationalem und Internationalem, die das moderne Drama von Anbeginn begleitete, weiter. Zugleich aber basiert die Wirkung der neuen britischen Dramatik gleichsam auf der kulturindustriellen und reklametechnischen Ebene doch auch auf dem Flair einer Exotik. Es sind eben nicht deutsche und österreichische Jugendliche, denen wir zuschauen, sondern britische Underdogs. Wir erleben eine Stilisierung, einen durch die Ferne verfremdeten Naturalismus, dem durch die exotische Welt eine zusätzliche ästhetische Note beigefügt wird. Der Terminus "New British Writers" wirkt als Markenartikel, der Heterogenes zusammenschließt und eine Signalwirkung für die Zuseher hat.

Internationalität und Aktualität also als Substanz oder als Ideologie von Dramaturgie? Die Historisierung der Frage macht deutlich, daß das moderne Drama hierbei stets von einem Bündel an Widersprüchen geprägt war. Die Geschichte der modernen Internationalität verlief für das Drama seit der Jahrhundertwende keineswegs gleichförmig und konnte bis zur Zerstörung des einst Erreichten gehen. Davon zeugt die Theaterpolitik der Nationalsozialisten mit ihrer Taktik von Vereinnahmung und Ausgrenzung des ausländischen Dramas, die der rassistischen Ideologie und der Kriegsführung folgte.

 

ANMERKUNGEN

1 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil. Werke 15 (Red.: Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel). Frankfurt a. M. 1980, S. 506ff.
2 Zur Kritik am Begriff der "Multikulturalität" vgl. zuletzt Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M. 1999, S. 454.
3 Vgl. dazu, den Kanon durchbrechend, die Beiträge von Ulf Birbaumer und Gabriele Pfeiffer.
4 Vgl. das Kapitel: "Vergeßlichkeit. Eine Begabung - Hermann Bahr" bei Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung. Wien, Köln, Weimar 1997, S. 345-386.



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