Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VI: Kunst und "Globalisierung"

Section VI:
The Arts and "Globalisation"

Section VI:
Art et "globalisation"


Eszter Propszt (Szeged)
Der "Baum" als Metapher für Multikulturalität in der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur

 

In der neueren mitteleuropäischen vergleichenden Literaturwissenschaft nehmen die typologischen Untersuchungen neben den genetischen einen immer größeren Platz ein. Die literarischen Verhältnisse und die literarischen Vorgänge werden in einem breitangelegten, zwischenliterarischen Bezugsrahmen dargestellt: die nationalen Literaturen, die Literaturen der regionalen Einheit und die Weltliteratur werden nicht nur als aufeinander aufgebaute, sondern auch als ineinandergebaute Systeme beschrieben. Diese Literaturforschung fand zu der Region "Mitteleuropa" zurück. Es ist aber auffällig, wie wenig dabei die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur beachtet wird. Die eine Aufgabe dieses Beitrags ist es, eine Erklärung dafür zu finden.

Grundlegend für die oben skizzierte komparatistische Entwicklung war die Tatsache, daß die mitteleuropäischen Literaturwissenschaften ihre literarischen Wechselbeziehungen nach Trianon neu durchdenken mußten. Auch in der ungarischen Komparatistik war dies der Fall. Die Idee der Annäherung der Völker, Nationen, Kulturen der Donauländer, bzw. die Möglichkeit ihrer gemeinsamen Betrachtung tauchte schon in der frühen Neuzeit auf. Das Habsburgerreich stiftete ihre historische Gemeinschaft, in der durch die Verstärkung des Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert das Gefühl der Schicksalsgemeinschaft und des Aufeinandergewiesenseins vorläufig in den Hintergrund gedrängt wurde, und die dann durch die nationalen, manchmal nationalistischen Bestrebungen gesprengt wurde. Die wiedergewonnene Einsicht, daß der nationale, "donauländische" und europäische Kontext einander nicht gegenüberstehen, hat Arbeiten motiviert, die offene, einander gegenseitig voraussetzende und ergänzende literarische Strukturen in Mittelosteuropa beschreiben. Diese Tätigkeit wurde nicht nur als eine deskriptive verstanden, sondern die interpretierende, erschließende Arbeit sollte auch zum Weiterbauen dieser Strukturen beitragen.(1)

Der Zerfall der österreich-ungarischen Monarchie war aber eben die Zeit, in der die deutschsprachige Kultur Ungarns einen Kontinuitätsbruch erlitt. Der ungarische Staat verlor wichtige Gebiete mit deutscher Bevölkerung: Siebenbürgen, die Zips und das Burgenland. Innerhalb der Landesgrenzen blieben nur noch etwa eine halbe Million Deutsche, fast ausschließlich Nachfahren der nach den Türkenkriegen angesiedelten Bauern und Handwerker. Sie lebten in zerstreuten Siedlungen, hauptsächlich in ländlichen Gebieten Transdanubiens, wo beinahe jedes Dorf eine geschlossene Einheit bildete. Die vom deutschen Bürgertum getragene Kultur erreichte diese Gemeinschaften auch in ihrer Blütezeit (19. Jahrhundert) kaum, die potentielle Intelligenz wurde in die Städte abgezogen, ihre Assimilation erfolgte automatisch. Auf dieser Grundlage konnte sich keine überregionale Minderheitenkultur herausbilden. Auch nach dem zweiten Weltkrieg gab es keinen Neuansatz. Im Gegenteil: eine große Zahl Ungarndeutscher wurde ausgesiedelt, darunter Intellektuelle. Viele der Daheimgebliebenen wurden zur Zwangsarbeit verschleppt. Die Angehörigen der deutschen Volksgruppe wurden jahrelang im Geiste der Theorie der Kollektivschuld behandelt. Die teilweise gewaltsame Unterdrückung aller nationalen Eigenheiten der "Schwaben" bis hin zur Sprache weckte das Gefühl nationaler Verlorenheit. Auf die Literatur bezogen hieß das, daß die Fortführung der Tradition erst recht illusorisch geworden war. Erst Mitte der fünfziger Jahre ließ der Druck auf die Ungarndeutschen nach. Ihre Literatur wurde aber erst in den siebziger Jahren wiederbelebt. Für sie ergab sich erst einmal die Aufgabe, einen Beitrag zur Erhaltung der deutschen Sprache zu leisten und dadurch die Vergangenheitsbewältigung und Identitätsfindung der Nationalität zu fördern.

So verständlich auch diese Zielsetzung ist, als alleiniges tragendes Element einer Literatur kann sie nicht bestehen. Die jüngere Generation der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur faßt Geschichte und Tradition nicht bloß als etwas zu Bewahrendes, sondern als etwas zu Entwickelndes, In-Frage-zu-Stellendes auf. Valeria Koch, Vertreterin dieser Generation, formulierte in diesem Sinne eine neue Aufgabenbestimmung an die ungarndeutsche Literatur: "Ihre Aufgabe ist gewiß die aller Literatur. Der Ausdruck der Gedankenwelt, der Gefühlswelt einer Gemeinschaft. Im vorliegenden Fall ist von der Gemeinschaft der Ungarndeutschen die Rede, das Bewußtmachen ihres Lebens mit den Mitteln der Kunst ist daher ihre Aufgabe. Aber Literatur wird nur dann aus ihr, wenn sie das einzelne überschreitet, das Niveau des Kuriosen der Nationalität und, obwohl sie ihre Eigentümlichkeiten bewahrt, auch befähigt ist zum Aufzeigen des Allgemeinen."(2) Es kann behauptet werden, daß diese Generation die gewünschte Synthese in ihren Werken auch verwirklicht. Ein wichtiger Strang z. B. in Valéria Kochs Dichtung ist die Thematisierung der Begegnung mit der Kultur der beiden Sprachgemeinschaften, denen sie sich zugehörig sieht.(3) In der Tiefenstruktur dieser Literatur werden die Raum- und Zeitverhältnisse umstrukturiert und die in der Tradition aufbewahrten Archetypen mit der Zeit der Moderne konfrontiert.

In dem zweiten Teil meines Beitrags möchte ich auf eine Möglichkeit verweisen, die ungarndeutsche Literatur auf ihre typologischen Zusammenhänge hin zu untersuchen, die ich in meinem Sektionsbeitrag anhand einer konkreten Werkanalyse (Erika Áts: Die Linde) ausführen möchte. Schon beim Aufzählen der ungarndeutschen Anthologietitel (Tiefe Wurzeln, Jahresringe, Das Zweiglein, Bekenntnisse eines Birkenbaumes) fällt auf, daß in der Selbstreflexion der Ungarndeutschen der Baum-Metaphorik eine besondere Rolle zukommt. Diese Annahme kann durch eine semiotische Analyse bestätigt werden. In vielen Texten sind nämlich die Klasseme [verwurzelt/lebendig], [blühend/lebendig], bzw. [abgebrochen/tot] [dürr/tot] dominant gesetzt. Die so entstandenen Isotopien können mittels gewisser Konnotatoren, die bei der Erschließung des soziokulturellen Kontextes als solche definiert werden, auch als Isotopien der "Lebensphasen" des Ungarndeutschtums gelesen werden.

 

ANMERKUNGEN

1 Vgl. Fried, István, "Németh László Közép-Európája", Tiszatáj 3, 1996, pp. 50-59.
2 Zitiert nach : Andreas Seifert, "Über das Bedingungsgefüge der neuesten ungarndeutschen Literatur" in Ungarndeutsche Literatur der siebziger und achtziger Jahre: Eine Dokumentation. München, Südostdeutsches Kulturwerk, 1991, pp. 188-203
3 Vgl. Propszt, Eszter "Die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur unter literatursoziologischem Aspekt" in TRANS. Zeitschrift für Kulturwissenschaften http://www.inst.at/trans/3Nr/propszt.htm



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