Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VII: "Interkultureller" Austausch, transkulturelle Prozesse und Kulturwissenschaften

Section VII:
"Intercultural" Exchange, Transcultural Processes and Cultural Studies

Section VII:
Echange interculturel, processus transculturel et études culturelles


Hartmut Schröder (Frankfurt an der Oder)

Französisch 
Interkulturelle Tabuforschung - Eine Herausforderung an die Kulturwissenschaften

Hintergrund und Fragenspektrum

Was man wann und wo thematisieren darf und worüber man lieber schweigen sollte, ist schon in der eigenen Kultur nicht immer einfach zu wissen. Nur allzu leicht kann man sich 'die Zunge verbrennen', wenn das angeschnittene Thema ein 'heißes Eisen' war oder etwas berührt, was die gängigen Konventionen bzw. die Gefühle der Kommunikationspartner verletzt. Erst recht auf dem internationalen Parkett, d.h. in interkulturellen Kontaktsituationen, kann man sich auf Überraschungen gefaßt machen, wenn die Beteiligten ihre eigenen Konventionen und Gefühle als selbstverständlich ansehen, und die Vorstellungen des jeweils anderen unbekannt sind. Das, was zum Thema gemacht werden darf und was nicht, hängt nicht nur von der Situation, sondern auch von den Regeln der einzelnen Kulturen ab und unterscheidet sich daher mehr oder weniger stark voneinander: Themen und auch Nicht-Themen sind kulturspezifisch. Folgende Fragen sollten daher in den Kulturwissenschaften stärker thematisiert werden:

 

Herkunft und Bedeutung des Wortes 'Tabu'

Das Wort 'Tabu' - ursprünglich 'tapu' - stammt aus dem Tonga Polynesiens und gehört zu den seltenen Wörtern, die aus Sprachen der 'Naturvölker' in Sprachen westlicher Zivilisationen Eingang gefunden haben und aus dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken sind. James Cook brachte dieses Wort im Jahre 1777 von seiner Südseereise nach England mit, von wo aus es sich schnell in andere Sprachen verbreitete und Eingang in die Bildungssprache fand. Wilhelm Wundt (1926, 390f.) weist in seiner "Völkerpsychologie" bereits 1906 darauf hin, daß 'Tabu' "hinreichend in die allgemeine Sprache eingedrungen ist um gelegentlich auf unsere eigenen Anschauungen und Sitten angewandt zu werden" - nach Wundt "gibt es in der Tat kein Volk und keine Kulturstufe, die des Tabu und seiner beschränkenden oder gefährdenden Wirkungen auf Leben und Freiheit entbehren". Spätestens mit Freuds Schrift "Totem und Tabu" (1912-13) hat der Begriff 'Tabu' einen endgültigen Platz im Diskurs der 'Kulturvölker' erlangt.

Ein Grund für die rasche Verbreitung des Wortes war nach Betz (1978, 141) neben dem exotischen Klang das "fördernde Vakuum einer wirklichen Wortschatzlücke" in den Sprachen der westlichen Zivilisationen. Darüber hinaus bot sich dieses neue Wort - so Kuhn (1987, 20f.) - "geradezu an, das Fremde, Irrationale und nicht Verstehbare des seltsamen Südseetreibens in einem Ausdruck kompakt zu bezeichnen. 'Tabu' steht sozusagen exemplarisch für das Andere und Fremde der archaischen Welt. [...] 'Tabu' war also ein zentraler Ausdruck der reisenden Aufklärer, um zu erklären, was nicht innerhalb ihres Konzeptes der Vernunft zu erklären war."

Allerdings herrscht Unklarheit darüber, wie das Wort aus dem Tonga in andere Sprachen übersetzt werden kann und ob es in Sprachen der westlichen Zivilisationen überhaupt eigensprachliche Entsprechungen für dieses komplexe Konzept gibt. Freud versteht die Bedeutung des Wortes als heilig und unrein zugleich. Betz (1978, 141) sieht als die wahrscheinlichste Deutung, daß 'ta' als kennzeichnen oder markieren und 'pu' als kräftig oder intensiv zu verstehen sei: "Das Tabu also ist das kräftig Markierte" (Wagner 1991, 17).

 

Tabubegriff

Die Grundbedeutungen von 'Tabu'/'tabu' im heutigen Sprachgebrauch haben nur noch wenig mit dem ursprünglichen Konzept im Tonga zu tun. Zwar ist die o.g. völkerkundliche Bedeutung den meisten Sprachbenutzern bekannt, doch dominiert im öffentlichen Sprachgebrauch die pejorative Verwendung. Obwohl diese und der damit verbundene "Tabu-Vorwurf" für interkulturelle Kontaktsituationen durchaus von Bedeutung ist, soll hier ein Tabubegriff entwickelt werden, der Tabus in modernen Gesellschaften als Teil des "sozialen Kodex einer Gemeinschaft" versteht, "der festschreibt, welche Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausgeführt werden sollen" (Zöllner 1997, 25f.).

Für die Analyse moderner Gesellschaften (mit eher profanen als religiös motivierten Tabus) eignet sich in besonderer Weise der Tabubegriff von Reimann (1989, 421), der unter 'Tabu' die "intensive Kennung" von Personen und Gegenständen versteht, "die Macht und Gefährdung signalisiert und ein entsprechend angepaßtes (vorsichtiges) Verhalten bei einer Begegnung" erfordert. Nach Reimann sind Tabus "gesellschaftliche 'Selbstverständlichkeiten' und erhalten so eine wichtige soziale Funktion der Verhaltensregulierung, der Etablierung von Grenzen, der Anerkennung von Autoritäten z.B. zur Sicherung von Eigentums-, Herrschaftsverhältnissen und bestimmter sozialer Ordnungen" (ebenda).

Tabus dürfen allerdings nicht mit Verboten verwechselt werden. Ein Unterschied zwischen direkt verbotenen und tabuisierten Handlungen besteht darin, daß über Verbote durchaus gesprochen werden kann, sie z.B. nach einer rationalen Begründung hinterfragt werden können. Tabus aber stehen außerhalb jeder Diskussion, da sich die tabuisierte Handlung quasi von selbst verbietet. Bekannt ist dieses Phänomen bei Nahrungstabus und in der Sozialisation des Kleinkindes, dem schon sehr früh bestimmte Handlungen und Berührungen durch Äußerungen wie 'Das macht man nicht', 'Das gehört sich nicht' etc. untersagt werden. Tabus werden durch solche unartikulierten Imperative im Erziehungsprozeß so weit internalisiert, daß "gesetzliche Regelungen und formelle Sanktionen vielfach überflüssig" werden (Reimann 1989, 421).

Anders als Tabus können (und müssen) Verbote formuliert werden; denn ein "Verbot erstreckt sich nicht gleichzeitig auf die Formulierung, sondern es verlangt eine Formulierung" - Tabus hingegen "verlangen, daß jeder weiß, was tabu ist, und insofern gibt es auch keinen Verbotsnormirrtum, d.h. nach Tabuverletzungen existieren keine Verteidigungsstrategien, wie bei manchen Verboten" (Kuhn 1987, 26). Tabuverletzungen werden auch nicht durch kodifizierte Strafen geahndet - vielmehr stellen sich Schuldgefühle, Abscheu und Scham von selbst ein: "der Täter wird isoliert, von der Gemeinschaft gemieden, tabuiert - modern auch: etikettiert" (Reimann 1989, 421).

Tabuisiert werden in modernen Gesellschaften einerseits bestimmte Personen, Örtlichkeiten und Nahrungsmittel sowie andererseits Bereiche wie Sexualität, Sucht, Armut, Ungleichheit, Korruption, Gewalt, Tod und bestimmte Erkrankungen (Reimann 1989, 421). Zu unterscheiden sind in begrifflicher Hinsicht 'Objekttabus' (tabuisierte Gegenstände, Institutionen und Personen) und 'Tattabus' (tabuisierte Handlungen), die durch 'Kommunikationstabus' (tabuisierte Themen), 'Worttabus' (tabuisierter Wortschatz) und 'Bildtabus' (tabuisierte Abbildungen) begleitet und abgesichert werden, die ihrerseits wiederum durch 'Gedankentabus' (tabuisierte Vorstellungen) und 'Emotionstabus' (tabuisierte Gefühle) gestützt werden.

 

Tabudiskurs

Sprache schafft immer neue "Bewältigungsformen" bzw. "Umgehungsstrategien" und ermöglicht damit die Kommunikation über das, worüber eigentlich nicht gesprochen werden sollte. Für interkulturelle Kontaktsituationen werden mehrere Probleme sichtbar. Erstens sind Tabus kulturspezifisch und nicht kodifiziert, so daß sie dem Fremden meist nicht bewußt werden. Zweitens werden Tabuverletzungen von dem Fremden oft gar nicht wahrgenommen, so daß Scham- und Schuldgefühle nicht auftreten. Drittens sind für Tabubrüche - anders als bei der Verletzung eines direkten Verbots - keine konventionalisierten Reparaturmechanismen verfügbar, so daß Abbruch der Kommunikation die Folge sein kann. (Balle 1990, 183).

Auffällig werden Tabus in interkulturellen Kontaktsituationen einerseits, indem sie gebrochen werden sowie andererseits, indem nicht adäquat über sie kommuniziert wird. Was den letzten Punkt betrifft, so soll hier der Begriff 'Tabudiskurs' eingeführt werden, womit gemeint ist, daß in bestimmten Situationen durchaus über tabuisierte Handlungen, Gegenstände, Institutionen und Personen sowie Themen kommuniziert werden kann, allerdings in einer ganz bestimmten Art und Weise, die nicht selber eine (verbale) Tabuverletzung mit sich bringt. Dabei sind Euphemismen nicht die einzige Möglichkeit über tabuisierte Gegenstände, Handlungen und Sachverhalte zu sprechen: "Abgesehen von der Möglichkeit, sich einem Gespräch über Tabus ganz zu entziehen (Abbruch eines Gesprächs, räumliche Distanz etc.), stehen den Sprechenden verschiedene Ebenen der Offenheit zu: vom expliziten 'darüber spricht man nicht' bis zur ausführlichen Diskussion. In diesem Fächer der Möglichkeiten müssen die Sprechenden Mechanismen bzw. Strategien entwickeln, die ihnen 'viertel-', 'halb-' oder 'dreivierteloffenes' Sprechen erlauben" (Günther 1992, 48-49).

Was die sprachlichen Ersatzmittel für Tabudiskurse betrifft, so nennt Havers (1946) in seiner sprachhistorischen Arbeit für die indogermanischen Sprachen folgende Grundtypen: tabuistische Lautveränderungen, Entlehnungen, Antiphrasis (man sagt das Gegenteil von dem, was gemeint ist; Wunschnamen), stellvertretende Pronomen, euphemistische Kontaminationen (Wortkreuzungen), Sinnesstreckungen, satzhafte Umschreibungen (Wunschsatz und umschreibender Relativsatz), die Captatio benevolentiae, die Ellipse, den Subjekts-Instrumental sowie die Flucht in die Allgemeinheit (Generalisierung, Tabu-Plural ).

Neuere Arbeiten zur linguistischen Tabuforschung gehen einerseits nach wie vor von dieser Typologie von Havers aus (so z.B. Balle 1990), greifen andererseits aber auch Fragestellungen und Methoden der Diskurs- und Gesprächsanalyse zum 'indirekten' bzw. 'verdeckten' Sprechen auf. Insbesondere Günther (1992) beschäftigt sich mit sprachlichen Mitteln, die "das 'Verschleiern' einer Aussage ermöglichen", wobei sie als bekannteste Strategie die Verwendung von Metaphern nennt. Weitere Strategien sind nach Günther (1992, 52ff. und 218ff.) die Verwendung von Euphemismen und Fachvokabular, die Agensbetonung und -aussparung, die Redewiedergabe und Rollenspezifikation, die Wortvermeidung und Vagheit, zusätzliche Angaben zur Einschränkung von Aussagen und die Verwendung von Proformen.

 

Tabus in interkulturellen Kontaktsituationen

Tabus in interkulturellen Kontaktsituationen betreffen nicht nur die tabuträchtigen Bereiche Religion, Sexualität, Tod, Krankheit und Körperfunktionen, sondern können in vielen anderen Lebensbereichen festgestellt werden, wie z.B. bei Eß- und Tischgewohnheiten, für relativ selbstverständlich erscheinende Alltagssituationen sowie bei Zahlen, Farben und Tieren. Tabus betreffen auch nicht nur den Sprachgebrauch, sondern können ebenfalls im Bereich der nonverbalen Kommunikation eine wichtige Rolle spielen, wie z.B. Tabugesten zeigen. Das Problem für den Fremdsprachenlerner ist aber, daß er meistens gar nicht wissen kann, was man nicht machen und worüber man nicht reden soll bzw. nur in einer besonderen Weise sprechen darf. Da Tabuformulierungen und -begründungen selbst tabuisiert sind, erfährt er eigentlich nur durch die Verletzung eines Tabus und die Folgen darauf von seinem 'Fehlverhalten'.

Aufgabe eines interkulturell orientierten Fremdsprachenunterrichts sollte es daher sein: a) den Lerner für mögliche Tabuphänomene zu sensibilisieren und ihn in die Lage zu versetzen, Tabus in der anderen Kultur zu erkennen und Kommunikationsbarrieren auszuloten; b) die Toleranzfähigkeit des Lerners hinsichtlich der Tabus in der Fremdkultur zu entwickeln und ihn zu befähigen, sich (sprachlich und nonverbal) adäquat zu verhalten; c) dem Lerner ein ausreichendes Repertoire von Euphemismen und anderen Ersatzmitteln für Tabudiskurse zu vermitteln, die es ihm ermöglichen, sich über tabuisierte Handlungen, Objekte, Sachverhalte und Wörter verständigen zu können; d) dem Lerner solche (metakommunikativen) 'Reparaturstrategien' zu vermitteln, die im Falle unbeabsichtigter Tabuverletzungen den Abbruch der Kommunikation verhindern können.

Leisten kann der interkulturelle Fremdsprachenunterricht diese Aufgaben nur auf der Grundlage entsprechender Vorarbeiten angewandter kulturwissenschaftlicher Forschungen.

 

Zitierte Literatur

Balle, Christel (1990): Tabus in der Sprache. Frankfurt am Main et al. 1990.

Betz, Werner (1978): "Tabu - Wörter und Wandel". In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Band 23. Mannheim et al. 1978. S. 141-144.

Freud, Sigmund (1974): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Studienausgabe. Band IX. Frankfurt/M. 1974.

Günther, Ulla (1992): "und aso das isch gar need es Tabu bi üs, nei, überhaupt need". Sprachliche Strategien bei Phone-in-Sendungen am Radio zu tabuisierten Themen. Bern et al. 1992.

Havers, Wilhelm (1946): Neuere Literatur zum Sprachtabu. Wien 1946.

Kuhn, Fritz (1987): "Tabus". In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht. Vol. 60, S. 19-35.

Reimann, Horst (1989): "Tabu". In: Staatslexikon. Recht Wirtschaft Gesellschaft in 5 Bänden. Herausgegeben von der Görres-Gesellschaft. 7., völlig neu bearbeitete Auflage. Freiburg et al. 1989. S. 420.

Wagner, Hans (1991): Medien-Tabus und Kommunikationsverbote. Die manipulierbare Wirklichkeit. München 1991.

Wundt, Wilhelm (1926 [erstmals 1906]): Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Vierter Band. Vierte unveränderte Auflage. Leipzig 1926.

Zöllner, Nicole (1997): Der Euphemismus im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch des Englischen. Frankfurt am Main et al. 1997.

 

Arbeiten des Referenten zur interkulturellen Tabuforschung

Hartmut Schröder: Tabuforschung als Aufgabe interkultureller Germanistik. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies. Band 21. 1995. S. 15-35; ders.: Tabus, interkulturelle Kommunikation und Fremdsprachenunterricht. Überlegungen zur Relevanz der Tabuforschung für die Fremdsprachendidaktik. In: A. Knapp-Potthoff und M. Liedke (Hrsg.): Aspekte interkultureller Kommunikationsfähigkeit. (= Reihe interkulturelle Kommunikation 3). München 1997: iudicium. S. 93-106; ders.: Interkulturelle Tabuforschung und Deutsch als Fremdsprache. In: Deutsch als Fremdsprache, Heft 4/1998. S. 195-198.

 

Internet

Eine ausführliche Dokumentation und eine umfangreiche Datenbank zur interkulturellen Tabuforschung befinden sich auf der Homepage des Referenten unter der URL-Adresse http://viadrina.euv-frankfurt-o.de/~sw2/Tabu/Index.html

 

Kontakt

Prof. Dr. Hartmut Schröder, Lehrstuhl für Sprachwissenschaft II, Europa-Universität Viadrina, Postfach 776, D-15207 Frankfurt (Oder)

Homepage des Lehrstuhls: http://viadrina.euv-frankfurt-o.de/~sw2/
Persönliche Homepage: http://viadrina.euv-frankfurt-o.de/~sw2/Mitarbeiter/Personal/Welcome.html
E-Mail: hs@euv-frankfurt-o.de



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