Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VII: "Interkultureller" Austausch, transkulturelle Prozesse und Kulturwissenschaften

Section VII:
"Intercultural" Exchange, Transcultural Processes and Cultural Studies

Section VII:
Echange interculturel, processus transculturel et études culturelles


Georgia Bekridaki / Sandra Falk-Kopplin / Michael Weck (Hannover)
Die Konstruktion regionaler Identitäten am Beispiel des nordirischen und Südtiroler Konfliktes

Zur Konstruktion regionaler Identitäten
Die Fälle Nordirland und Südtirol
Südtirol
Nordirland
Zusammenfassung

Zur Konstruktion regionaler Identitäten(1)

Sicherlich handelt es sich bei dem Begriff der Identität um einen der schillerndsten, dessen Präzisierung und Operationalisierung nicht einfach ist. Seine Verwendungsweise ist oft eher von politischem Wunschdenken als von einer in der Gesellschaft vorfindbaren sozialen oder politischen Realität gekennzeichnet. Er gehört zu den Begriffen, die dringend auf ihren "ideologischen Gehalt" abzuklopfen sind. Den Untiefen und Gefahren der Konstruktion und Verwendung politischer Identitäten kann begegnet werden, wenn man sich weniger auf die "Realität" oder "Fiktionalität" solcher Begriffe, wie regionaler oder nationaler Identität einläßt, als auf ihre Entstehung, ihren Gebrauch und Einfluß auf das Handeln der Menschen. Unabhängig davon, ob eine politische Identität nun real oder fiktiv ist: Regionale Gemeinschaften konstruieren und verwenden sie (vgl. etwa Ipsen 1994), es gibt Gruppen, die sie einsetzen und es gibt Kreise, die sie gebrauchen oder mißbrauchen. Dadurch erhalten sie ihre politische Kraft.

Die Konstruktion regionaler Identitäten unterliegt vergleichbaren Prinzipien wie die Konstruktion nationaler Identitäten. In beiden Fällen handelt es sich um kollektive Identitäten, die das Subjekt mit einem Bewußtsein ausstatten, das es ihm ermöglicht, den Horizont familiärer Bindungen zu verlassen und sich in übergeordnete soziale Gruppen zu integrieren. Mit der Konstruktion kollektiver Identitäten werden Beziehungen aufgebaut, die das Subjekt in einem sozialen Raum verorten und ihm dadurch eine Position zuweisen, von der aus die Umwelt interpretierbar wird: "Herstellen und Darstellen von Identität heißt nichts anderes, als zwischen Außen und Innen, aber auch zwischen Innen und Außen Relationen aufzubauen" (Frey/Haußer 1987: 3 auch Kokot/Dracklé 1996: 13).

In unseren Untersuchungsfällen Südtirol und Nordirland wenden wir die Idealtypen regionaler Identitäten von Eisenstadt (1992) und Giesen (1993) an: Primordial, konventionell/bzw. zivil und kulturell/bzw. sakral kodierte. Primordiale Identitäten gründen sich in gleichsam 'natürlichen', festen und der Kommunikation und dem Austausch entzogenen Merkmalen, wie dem des Volkes oder der Rasse. Zivil kodierte Identitäten beruhen auf Verhaltensregeln und sozialen Routinen. Eine besondere Form konventioneller Kodierung sind Regeln der Staatsbürgerlichkeit, die die Gruppenzugehörigkeit regulieren. Sakrale Identitäten beruhen auf dem Glauben der besonderen Leistungskraft oder Auserwähltheit einer Gruppe, die eine ausgezeichnete Verbindung zu einer übergeordneten Rationalität unterhält: dies kann ein Gott, die Vernunft oder auch der Fortschritt sein. Die Verortung des Gruppen-Selbst im Erhabenen führt oft zu ausgeprägt messianischen Haltungen.

Die von Eisenstadt und Giesen verwendeten Idealtypen, die an die von Weber entworfene Kategorisierung von traditionaler, legal-rationaler und charismatischer Herrschaft anschließen, lassen sich in der europäischen Wirklichkeit nicht als 'reine' Typen finden. Sie sind als grundsätzlich mögliche kollektive Identitäten zu verstehen, die in einem jeweils besonderen, situativ unterschiedlich aktualisierten Mischungsverhältnis auftauchen. Wahrscheinlich lassen sich in jeder kollektiven Identität Elemente dieser drei Idealtypen auffinden. So braucht wohl jede aus dem Bürgerstatus sich erklärende Identität auch eine Geschichte der besonderen Herkunft und zumindest einige Hinweise auf die kollektive Erhabenheit. Worauf es hier ankommt, ist die Frage, welche Aspekte der kollektiven Identität angesichts des Fremden oder des Konfliktes betont werden und welche Folgen dies für das Verhalten der Gruppe und ihre Regimetauglichkeit hat. Die Besonderheit dieser Typologie besteht in dem, was ihre Typen bestimmen: sie begrenzen auf unterschiedliche Weise das Selbst der Gruppe. Die Art und Weise der Definition der Merkmale, die das Selbst und damit die Gruppenzugehörigkeit festlegt, bestimmt zugleich die Grenzen gegenüber dem Fremden. Dadurch werden Grenzüberschreitungen und sich überschneidende Mitgliedschaften entweder ermöglicht oder verhindert. Die Qualität der Grenzziehung regelt also den Kontakt und den Austausch mit anderen Gruppen. Primordiale Kodierungen verhindern den Eintritt oder auch den Austritt aus der Gruppe. Gemeinsamkeiten und damit auch Vertrauen und Partnerschaftlichkeit lassen sich nur schwer herstellen. Zivile Kodierungen ermöglichen dagegen die Aufnahme von Fremden oder die gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren Kollektiven, weil lediglich erlernbare Regeln des Bürgerstatus befolgt werden müssen, um dazu zu gehören, wodurch die Schaffung und der Erhalt von Gemeinsamkeiten und Vertrauen zwischen eigentlich Fremdem erleichtert wird. Sakrale Kodierungen schließen sich zwar nicht unbedingt von ihrer Umwelt ab, doch ist ihnen der Drang eigen, Mitglieder anderer Gruppen zu assimilieren oder im Kontakt zu dominieren. Dennoch ist die Schaffung von Gemeinsamkeiten und der Grenzübertritt nicht ausgeschlossen.

Zur Konstruktion kollektiver Identität werden dabei die historische Vergangenheit, aktuelle gesellschaftliche Problemlagen sowie die jeweilige ökonomische Situation von den jeweiligen Eliten instrumentalisiert. Als Form von politischer Identität erleichtert sie diesen die Mobilisierung von Unterstützung für die eigenen Forderungen. Diese Konstruktion kollektiver Identität ist also unmittelbar an die Präferenzstruktur politischer Eliten geknüpft (vgl. zur Rolle von Eliten bei der Identitätskonstruktion Giesen 1993, Haller 1992). Umgekehrt basieren die Entscheidungs- und Handlungsmuster der Akteure im Konfliktverlauf auf diesen Identitätskonstruktionen und lassen sich daraus erklären.

 

1. Die Fälle Nordirland und Südtirol

1.1 Südtirol

Die regionale Identität der deutschsprachigen Südtiroler, von den Annexion Südtirols durch Italien (1920) bis heutzutage, ist eine primodiale konventionelle Identität, mit zusätzlich sakralen Elementen. Der Konflikt verlief entlang der ethnischen Konfliktlinie und basierte auf dem Unterschied der deutschsprachigen Kultur gegenüber der italienischen. Trotz der Regulierung des Südtiroler Konfliktes mit dem Autonomiepaket von 1972 hat die deutschsprachige regionale Identität ihren primodialen Charakter nicht abgelegt. Diese Tatsache hat das Neben-Einander-Leben der ethnischen Gruppen innerhalb der Südtiroler Gesellschaft und nicht deren Zusammenleben zum Resultat.

Die Regulierung des Konfliktes in Südtirol beruht im Wesentlichen auf der ethnischen Trennung in der Kultur- (schulische und universitäre Ausbildung, Freizeitverhalten, Kunst, Medien) und Wirtschaftspolitik(2). Die dahinter liegende politische Strategie der Südtiroler Volkspartei (SVP)(3) geht davon aus, daß nur die Trennung der beiden Sprachgemeinschaften die politische Stabilität und friedliche Kooperation in der Region gewährleisten könne. Die ethnische Polarisierung ist bis heute eine der wichtigsten Ziele der Politik der SVP. Damit konnte sie einerseits sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart die Einheit ihrer Wählerschaft und eine Optimierung ihrer Wahlergebnisse erreichen. Um diese politische Strategie argumentativ abzusichern, beziehen sich die Eliten immer wieder auf primordiale, völkische Anteile der Südtiroler Identität unter Verwendung entsprechender plausibilisierender Beispiele aus der Geschichte der Region. Auf der anderen Seite gründet sich die Politik und Stärke der SVP auf die Kontrolle eben dieser primordialen Identitätsanteile, so daß verhindert werden konnte, daß der Konflikt gewaltsam eskalierte. Die Fähigkeit der Partei zur Kompromißschließung mit der italienischen Regierung und die wirtschaftliche Prosperität der Region sind die Voraussetzungen der zivilisierten Konfliktregulierung in der Region. Die Führungsfähigkeit der SVP und die damit verbundenen festen Gefolgschaftsverhältnisse ergeben das Bild einer Politik des 'Teile und Herrsche' und gründen sich:

Für eine ethnisch gespaltene Gesellschaft zeigt die Südtiroler Gesellschaft einen hohen Grad an politischer Integrität (Nordlinger 1972: 3ff). Dem liegt die Tatsache zugrunde, daß erstens keine Gewalt zwischen den beiden ethnischen Gruppen ausgeübt wird und zweitens die beiden ethnischen Gruppen eine 'security community' (Deutsch, 1957) formiert haben, d.h. beide ethnische Gruppen befürworten den Weg der Verhandlungen, um ihre Konflikte zu lösen und haben sich gegen den Weg der gewalttätigen Auseinandersetzungen entschieden. Dazu hat auch die stark hierarchische Organisationsstruktur der SVP beigetragen. Ihre Verhandlungsfähigkeit basiert auf der Tatsache, daß die Eliten der Partei den Weg der Kompromisse als adäquate Strategie zum Erwerb und Erhalt politischer Macht erkannt haben und zugleich in der Lage waren, diesen Weg gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung glaubhaft zu vertreten (Nordlinger 1972: 4, 48). Seit dem Zweiten Weltkrieg führten die Kompromißbereitschaft der SVP gegenüber der italienischen Regierung und ihre Fähigkeit zur Kontrolle ihrer Mitglied- und Wählerschaft zur beispielhaft erfolgreichen und vor allem nachhaltigen Regulierung des Konfliktes in Südtirol (Nordlinger 1972: 27). Nach wie vor weisen die Wahlergebnisse auf ein großes Vertrauen der Gesellschaft in die Eliten der SVP hin, sie erhält regelmäßig die absolute Mehrheit der Stimmen (vgl. Bekridaki/Weck 1999).

1.2 Nordirland

Im nordirischen Konfliktfall lassen sich im Gegensatz zum Südtiroler Beispiel keine entsprechend kontinuierlich aufrechterhaltenen und gleichzeitig kontrollierten kollektiven Identitätskonstruktionen ausmachen. Vielmehr veränderte sich in verschiedenen Phasen des Konfliktverlaufes bis heute das jeweilige Gewicht der genannten Aspekte kollektiver Selbstthematisierung und damit das Konfliktverhalten der involvierten Akteure.

Nach der Teilung der irischen Insel 1921 vollzog sich zunächst ein Wandel vor allem der protestantischen kollektiven Identität. Hatte vor der Teilung noch ein gesamtirisches Bewußtsein durchaus zum Bestand der Selbstdefinition vieler Protestanten gehört, so schloß die neue Identitätskonstruktion zunehmend alles 'irische' als 'nicht-britisches' aus. Die gesamte irische Insel verlor als territorialer und gesellschaftlicher Bezugsrahmen an Bedeutung, und die Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich wurde betont. Die militärische Unterstützung der alliierten Streitmächte im Zweiten Weltkrieg demonstrierte die neue Loyalität und das Zugehörigkeitsgefühl Nordirlands zum Empire und es gelang den protestantischen Eliten, ein entsprechendes Bewußtsein dafür in ihrer Bevölkerungsgruppe zu stärken. Auf Seiten der wirtschaftlich und sozial stark benachteiligten katholischen Bevölkerungsgruppe herrschte lange Verunsicherung über die veränderte eigene Situation im nun von der Republik Irland getrennten Norden.

Dennoch gelang es in den 50er und 60er Jahren, dem 'golden age' Nordirlands, die Spannungen und das Mißtrauen zwischen beiden Gemeinschaften abzubauen. Vor allem die Verbesserung der katholischen Lebensverhältnisse aufgrund des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs sowie einer moderaten, auf Verständigung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen gerichteten materiellen Politik des Ausgleichs des nordirischen Premiers O'Neill(5), trugen dazu bei. Zivile Anteile dominierten über primordiale Elemente der Identitätskonstruktionen beider Gruppen, so daß sie als zwei zumindest gesellschaftlich verbundene Ethnien gewaltfrei nebeneinander lebten. Konventionelle, Kooperation und Kompromißbereitschaft favorisierende Deutungsangebote sowohl der protestantischen als auch der katholischen Eliten konnten in dieser Phase die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile gewinnen. Durch die Abnahme sozialstruktureller Ungleichheitsstrukturen zugunsten der Katholiken konnte sich einerseits ein gemäßigter irisch-katholischer Nationalismus der SDLP (Social Democratic and Labour Party) durchsetzen, der wirtschaftliche und gesellschaftliche Problemfragen innerhalb der gegebenen konstitutionellen und institutionellen Rahmenbedingungen Nordirlands zu lösen suchte und nicht zu allererst die Wiedervereinigung der Insel thematisierte. Andererseits gelang es radikalen irisch-republikanischen Kräften, wie zum Beispiel der IRA, nicht, Unterstützung für ihre militante separatistische Politik zu mobilisieren (Bekridaki/Weck 1998).

Auf protestantischer Seite konnten Vertreter des liberalen Protestantismus zur führenden Elite der Unionisten aufsteigen und zivil kodierte Anteile der kollektiven Identitätskonstruktion durchsetzen, die auf dem Bezug zu britischem Recht und politischer Kultur Britanniens im Sinne eines mehr-ethnischen Verbandes (Kearney 1991) fußten.

Waren Protestanten und Katholiken im 'golden age' also noch durch die gemeinsame Basis des nordirischen Staates und erheblicher ziviler Bestände verbunden, so erodierten diese mit Beginn der Unruhen in den 70er Jahren zusehends. Mit Verschlechterung der ökonomischen Lage Nordirlands trat eine fast unmittelbare Entzivilisierung bzw. Primordialisierung der Identitätskonzepte besonders der protestantischen Bevölkerung ein. Die Ängste protestantischer Arbeiter, denen sich weitere Zugeständnisse an die Katholiken bzw. der Verzicht auf Diskriminierungsvorteile als Nullsummenspiel darstellte, boten Anknüpfungspunkte für die Realitätsdeutungen radikaler loyalistischer Kräfte, die die katholische Bevölkerung aus dem zivilgesellschaftlichen britischen Kontext bis heute noch ausschließen. Primordiale, völkische Anteile der protestantisch-britischen Identität wurden verstärkt betont und durch Bezugnahme auf historisches Material (z.B. Herkunftsmythologie William III, später keltische Ursprungsmythen; vgl. Kockel 1994) plausibilisiert. In der Folge konnten kompromißunwillige Parteien, wie zum Beispiel die DUP (Democratic Unionist Party) des charismatischen Priesters Paisley, die Gefolgschaftsverhältnisse zu ihren Gunsten verändern und gewaltbereite Kräfte mit zunehmender Unterstützung rechnen. Der Druck auf die verhandlungswilligen, damals schon zu einer 'power-sharing'-Lösung bereiten Eliten der UUP wuchs dahingehend, daß eine von ihren Mitgliedern nicht mehr länger mitgetragene Strategie der Kooperation eine Aufkündigung der Gefolgschaft und damit einen unmittelbaren Machtverlust bedeutet hätte. In der Entmachtung des protestantischen Premiers Faulkner 1973/74 durch einen Massenstreik gegen das Sunningdale-Abkommen zur Teilung der Regierungsmacht manifestierte sich diese Gefahr schließlich.

Vor allem die Gewaltbereitschaft der protestantischen Unterschicht und die ausbleibenden politischen Reformen der nordirischen Regierung führten zum Scheitern der gemäßigten irisch-katholischen Bürgerrechtsbewegung und zum Erstarken des exklusiven irisch-katholischen Republikanismus der Sinn Féin. Auch hier konnten die Eliten der SDLP ihre Strategie der Zusammenarbeit mit den Protestanten nicht durchsetzen. Die Enttäuschung über die Reformunfähigkeit des britischen Staates führte zu einer Emotionalisierung des Konfliktes, was der Betonung alter Ängste und Vorurteilstrukturen Vorschub leistete und die gewaltfreien Kräfte der Bewegung verdrängte.

Die Vertrauensbestände der 50er und 60er Jahre zerbrachen im Laufe der 'troubles' also zusehends und primordiale Kodierungen dominierten sowohl die protestantischen als auch die katholischen Interpretations- und Handlungsschemata. Die dabei abnehmende Bereitschaft, zivile Austragungsformen des Konfliktes zu suchen, ließ bis 1985 alle Befriedungsversuche scheitern. Die fehlende Durchsetzungskraft ('predominance'; Nordlinger 1972) gemäßigter Eliten gegenüber der von ihnen repräsentierten Bevölkerung und die mangelnde 'intra-segmental stability' ( McGarry/O'Leary 1996: 338 ff) beider politischer Lager verhinderten eine Kompromißlösung.

Erst mit dem Abschluß des Anglo-Irish-Agreement zwischen den beiden externen Nationalstaaten kamen neue Impulse für die Lösung des Konfliktes ins Spiel. Sowohl das Vereinigte Königreich, als auch die Republik Irland drängten vehement auf die Beilegung der Auseinandersetzungen. Für beide Staaten waren die hohen finanziellen Kosten, die der Krisenherd Nordirland jährlich verursachte, nicht mehr länger tragbar(6) (Schulze-Marmeling/Sotschek 1991) und im Zuge der voranschreitenden europäischen Integration - im Kontakt mit den Institutionen der EU - wurde die Bedeutung von auf Recht und Kooperation basierenden zivilen Politikstilen deutlich (vgl. Wallace 1994: 85). Diese Neukontextualisierung des Konfliktes brachte schließlich auch einen schrittweisen Wandel der Strategien der Konfliktparteien mit sich. Verhandlungsbereite Eliten beider Lager konnten eine erneute Zivilisierung der Verhaltensmuster einleiten und ermöglichten den, wenn auch mühsamen, Friedensprozeß über den Waffenstillstand der paramilitärischen Organisationen 1994 und das 'Good Friday Agreement' vom April 1998. Die große Zustimmung der Bevölkerung Nordirlands zum Friedensabkommen des letzten Jahres zeigte deutlich, daß auch die Mehrheit der Menschen beider Gemeinschaften einen demokratischen Lösungsprozeß dem militanten Weg vorzieht.

Dennoch besteht bei anhaltender soziostruktureller Ungleichheit zwischen den Bevölkerungsgruppen weiter die Gefahr des Scheiterns der konstitutionellen Vereinbarungen des letzten Jahres, da radikale, am status quo orientierte Eliten diese politisieren und zivile Vertrauensbestände zerstören können. In dem Moment, in dem die Hoffnung auf eine grundlegende Reform der politisch-institutionellen Strukturen schwindet, können die primordial strukturierten Realitätsdeutungen loyalistischer und republikanischer Eliten an Einfluß gewinnen, da ihre kompromißunwilligen Strategien wieder plausibel erscheinen. Eine zügige Implementation der vorgesehenen Strukturen ist darum die einzige mögliche Garantie für den Aufbau gemeinsamer ziviler Bestände und eine Weiterentwicklung bzw. Stabilisierung des Friedens in Nordirland.

2. Zusammenfassung

Die Konstruktion primodialer Identitäten ist, wie die Beispiele zeigen, ein wichtiger Faktor des Beibehaltens der ethnischen cleavages innerhalb einer Gesellschaft und trägt darüber hinaus auch die Verantwortung für das Verbleiben der ethnischen Spaltung in solchen Gesellschaften. Allerdings ist der primodiale Charakter regionaler Identitäten (und die damit verbundenen Unterschiede wie z.B. Religions- und/oder Sprachunterschiede) nicht nur alleiniger Träger des Konfliktes. Vielmehr scheinen wirtschaftliche und politische Grundlagen und Interessen der Eliten die wichtigeren Determinanten zu sein. Die Betonung primordialer Anteile der jeweiligen Identität erleichtert es aber radikalen kompromißunwilligen Eliten, bei wirtschaftlich schlechten Voraussetzungen Unterstützung zu mobilisieren. Mit der Tiefe inter- und intra-ethnischer Ungleichheitsstrukturen wachsen also die Möglichkeiten radikaler Eliten. Zweitens kann, wie uns der Fall Südtirol beweist, die erfolgreiche Regulierung eines Konfliktes trotz des überwiegend primodialen Charakters der Identitäten stattfinden, wenn die Eliten entsprechend motiviert sind und Verhandlungsbereitschaft zeigen. Darüber hinaus spielt die Durchsetzungskraft dieser Eliten gegenüber ihrer Gefolgschaft eine wichtige Rolle, da der Grad der 'predominance' die Chancen der Durchsetzung gewählter Handlungsstrategien gegenüber dem eigenen Klientel bestimmt. In diesem Zusammenhang bestimmt die Konstruktion der regionalen Identitäten auf primodialer Basis jedoch auf jeden Fall die Intensität bzw. Austragungsform eines Konfliktes.

Zweifelsohne kann das Leben 'nebeneinander' (wie in Südtirol) zwar eine Reihe von Problemen oberflächlich lösen, zum Beispiel das der anhaltenden gewalttätigen Konfrontationen in einer ethnisch gespaltenen Gesellschaft (wie in Nordirland). Auf Dauer können durch diese immer tiefere und vollständigere Spaltung der Gesellschaft aber nur neue, den Konflikt perpetuierende Probleme entstehen (vgl. Kofman/Williams 1989). Die Vermutung liegt nahe, daß bei zunehmenden Verteilungsproblemen, wie sie Ende der 60er Jahre in Nordirland zur Entzivilisierung des Konfliktverhaltens führten, auch in solchen Gesellschaften alte Schließungsmechanismen gegenüber dem 'Fremden' greifen könnten und erneut Konfliktpotentiale freisetzen könnten.

 

Literatur

Atz, H., 1999: Schlußbetrachtungen, in: R. Wakenhut, Ethnische Identität und Jugend. Eine vergleichende Untersuchung zu den drei Südtiroler Sprachgruppen, Opladen, 123-131.
Bekridaki, G./Weck, M., 1988: Entwicklungsphasen des Nordirlandskonfliktes. Vom "golden age" über die "troubles" zum "peace process", Arbeitspapiere und Materialien, Nr. 7, Universität Hannover, Institut für Politische Wissenschaft, Abt. Sozialpolitik und Public Policy, Hannover.
Bekridaki, G./Weck, M., 1999: Konfliktlösung in ethnisch gespaltenen Gesellschaften, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Heft 2, 23-35.
Deutsch, K.W., 1957: Political Community and the North Atlantic Are, Princeton.
Eisenstadt, S. N., 1992: The Constitution of Collective Identity – Some Comparative and Analytical Indications, in: B. Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte im neuen Europa. Verhandlungen des 26. Deutschen Soziologentages in Düsseldorf 1992, Frankfurt/M., New York, 485-491.
Frey, H.P./Haußer, K., 1987: Identität. Entwicklungspsychologische Forschungen, Stuttgart.
Giesen, B., 1993: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt/M.
Hallen, M., 1992: New Societies or Social Anomie in the Europe of Tomorrow?, in: Schweizer Zeitschrift für Soziologie, Vol. 18, 635-656.
Holzen, A., 1991: Die Südtiroler Volkspartei, Thaur/Tirol.
Ipsen, D., 1994: Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psychosozialen Raumkategorie, in: R. Lindner (Hrsg.), Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität, Frankfurt/M., New York, 232-257.
Kearney, H., 1991: Four Nations or one?, in: B. Crick (ed.), National Identities, Edinburgh, 1-6.
Kockel, U., 1994: Mythos und Identität. Der Konflikt im Spiegel der Volkskultur, in: J. Elvert (Hrsg.), Nordirland in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart, 495-517.
Kofman, E./Williams, C.h., 1989: Culture, Community and Conflict, in. E. Kofman/C.H. Williams (eds.), Community Conflict, Partition and Nationalism, London, 1-23.
Kokot, W./Dracklé, D., 1996: Ethnologie Europas. Grenzen, Konflikte, Identitäten, Berlin.
McGarry/J./O'Leary, B., 1996: Explaining Northern Ireland. Broken Images, Oxford.
Nordlinger, E., 1972: Conflict Regulation in Divided Societies, Cambridge.
Pallaver, G., 1996: Nationalismus und Kommunikation: Der TV- und Zeitungsblick über den ethnischen Schrebergarten, in: R. Nick/J. Wolf (Hrsg.), Regionale Medienlandschaften – Tirol, Südtirol und Vorarlberg, Innsbruck.
Schulze-Marmeling, D./Sotschek, R., 1991: Der lange Krieg. Macht und Menschen in Nordirland, Göttingen.
Wallace, W., 1994: Regional Integration: The West European Experience, Washington.

ANMERKUNGEN

(1) Der folgende Text ging aus dem DFG-Forschungsprojekt "Regionale Identitäten, politische Konflikte und Europäische Integration" unter Leitung von Prof. Dr. Bernhard Blanke an der Universität Hannover hervor.
(2) Besonders der Medienbereich spielt eine sehr große Rolle für die Aufrechterhaltung der ethnischen Trennung in der Region: "So kommt es, daß in den sprachlich getrennten Medienwelten zwei verschiedene Realitäten vermittelt werden" (Atz 1999: 127; auch Pallaver 1996).
(3) Die Landesregierung wird von der SVP (Südtiroler Volkspartei) gestellt, die seit 1972 die alleinige Regierungsmacht besitzt. Die SVP wurde nach dem Zweiten Weltkrieg begründet. Sie stellt die absolute Mehrheit der Mitglieder in der Landesregierung und damit auch den Landeshauptmann. Das ausgestreckte Organisationsnetz des Parteiapparates bis auf die Ebene der Ortsverbände, ihre enge Verflechtung mit dem Bauernbund und der katholischen Kirche sowie umfangreiche finanzielle Mittel unterstützen ihre Fähigkeit, einen einheitlichen Willen der Südtiroler zu formulieren und Kompromisse gegenüber der eigenen Mitgliedschaft zu vertreten.
(4) Das Phänomen des Klientelismus ist in bäuerlichen Gesellschaften fast immer stark ausgeprägt, zumal, wenn eine klassische Honoratiorenpartei wie die SVP das politische Leben dominiert.
(5) O'Neill vertrat als Mitglied der bis heute wichtigsten protestantischen Partei, der Ulster Unionist Party (UUP), einen modernen, liberalisierten Unionismus, der die katholische Minderheit als benachteiligt erkannte und zu deren Integration in den nordirischen zivilgesellschaftlichen Kontext bereit war.
(6) Die Kosten des für das britische Militäraufgebot in Nordirland betrugen zuletzt ca. 3 Milliarden britische Pfund. Die Republik Irland gab ihrerseits ca. 240 Millionen irische Pfund jährlich im Zusammenhang mit dem Konflikt aus, vor allem zur Grenzsicherung, um eine gesamtirische Dynamisierung des Konfliktes zu verhindern (Schulze-Marmeling/Sotschek 1991)



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