Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 0. Nr. April 2005

Nationales und Internationales. Eine literaturwissenschaftliche Anmerkung aus Indien

Eine Rede anlässlich der Verleihung des Jacob- und Wilhelm-Preises des DAAD 2001

Anil Bhatti (New Delhi)
[BIO]

 

Meine sehr verehrten Damen und Herrn!

Die Bedeutung der Brüder Grimm für die Geschichte der Germanistik ist zwar bekannt, aber es ist immer gut daran erinnert zu werden, dass unser Fach auf Wissenschaftler zurückblicken kann, die sich als progressive Professoren -Mitglieder der so genannten "Göttinger Sieben" durch exemplarische Zivilcourage ausgezeichnet haben und gegen autoritäre Staatstendenzen protestiert haben. Während der Ausarbeitung dieser Worte des Dankes hatte ich Gelegenheit, auf Jacob Grimms berühmte Akademierede "Über den Ursprung der Sprache" (1851) zurückzugreifen. Ich las sie in der von M. Rassem herausgegebenen Ausgabe(1). Mohammed Rassem, der als Kulturanthropologe in Deutschland und Österreich gewirkt hat, betont Grimms klassisch-humanistische Haltung. Für Jacob Grimm war die "Überzeugung, daß Poesie und Sprache aus einem goldenen Zeitalter stammen" wichtig, aber die Neigung, Geschichte dann als Abfallsprozess aufzufassen, wird in seiner Rede durch die sinnlich orientierte Wissenschaftlichkeit gemäßigt. Daß hier die "babylonische Sprachverwirrung" als "höchst naturgemäß" gepriesen wird, zeugt davon, und diese sinnliche Wissenschaftlichkeit ist auch der Grund für Grimms sehr ansprechende urbane Haltung gegenüber der internationalen Geltung des Englischen. Er begreift den sprachlichen Ausdifferenzierungsprozess als Gewinn und verwendet Ausdrücke wie "reich", "frei", "vielseitig" als Vorzüge für eine Sprache. Den größten Fortschritt in dieser Hinsicht, also in Richtung Flexibilität, habe das Englische gemacht:

"Keine unter allen neueren sprachen hat gerade durch das aufgeben und zerrüten alter lautgesetze, durch den wegfall beinahe sämtlicher flexionen eine größere kraft und stärke empfangen als die englische und von ihrer nicht einmal lehrbaren fülle freier mitteltöne ist eine wesentliche gewalt des ausdrucks abhängig geworden, wie sie vielleicht noch nie einer anderen menschlichen zunge zu gebot stand. Ihre ganze überaus geistige, wunderbar geglückte anlage und durch bildung war hervorgegangen aus einer überraschenden vermählung der beiden edelsten sprachen des späteren Europas, der germanischen und romanischen, und bekannt ist wie im englischen sich beide zueinander verhalten, indem jene bei weitem die sinnliche grundlage hergab, diese die geistigen begriffe zuführte. Ja die englische sprache ... darf mit vollem recht eine weltsprache heißen und scheint gleich dem englischen Volk ausersehen künftig noch in höherem maße an allen enden der erde zu walten. Denn an reichtum, vernunft und gedrängter fuge läßt sich keine aller noch lebenden sprachen ihr an die seite setzen, auch unsere deutsche nicht, die zerrissen ist wie wir selbst zerrissen sind, und erst manche gebrechen von sich abschütteln müßte ehe sie kühn mit in die laufbahn träte: doch einige wohltuende erinnerungen wird sie darbieten und wer möchte ihr die hoffnung abschneiden? Die schönheit menschlicher sprache blühte nicht im anfang, sondern in ihrer mitte; ihre reichste frucht wird sie erst einmal in der zukunft darreichen." (S.53 ff.)

Wie frei von Ressentiment ist diese Einschätzung. Und es ist realistisch, die Durchsetzung der Weltrolle des Englischen mit der Macht gleichzusetzen. Für Grimm ist Sprache "werk und tat der menschen", sie trägt die "tugenden und mängel unsrer natur an sich". Deshalb behandelt Grimm ihre Gesetze nicht wie starre Naturgesetze "des lichts und der schwere". Sprachen sind "menschlicher freiheit in die warme hand gegeben, sowohl durch blühende kraft der völker gefördert als durch deren barbarei niedergehalten, bald fröhlich gedeihend, bald in langer, magerer brache stockend." (54f.)

Eine Haltung wie diese wird jemanden, der in einer mehrsprachigen Umwelt lebt, nicht überraschen. Der Schweizer Peter Bichsel zweifelt "übrigens daran, daß das Englische nur wegen politischer und wirtschaftlicher Macht zur Weltsprache geworden" sei, aber er betont das Moment der Flexibilität auch: "Es ist es vor allem geworden, weil es lebt, weil es sich verändert, weil es sich zur Verfügung stellt für Verballhornungen, Minimalisierungen - auch für mangelhafte Rechtschreibung und Grammatik." Englische und amerikanische Sprachpuristen haben keine Chance hier. Die englische Sprache ist "schon viel zu reich, als daß man sie jetzt bereinigen könnte."(2)

Ich verschweige nicht, dass Grimms Text auch zur deutschen Bildungsideologie des neunzehnten Jahrhunderts gehört. Dass die deutsche Zerrissenheit eine Weltmachtrolle erschwert, wird von ihm eher bedauert und das Problem des Kolonialismus wird zweifelsohne verharmlost. Nach Herder und Goethe und vor Marx ist das vielleicht doch zu wenig. Aber trotzdem ist Rassems Fazit aus dieser Rede bedeutsam: "Die Aura der Brüder Grimm, ihre Wirkung auf die Nation...ist unübersehbar. Sie erweckten in dem erstarkenden Nationalgefühl tiefe, dem Kindlichen nahe Seelenschichten und machten die älteste Vergangenheit wirksam. Sie gehören zu den guten Geistern im Ringen zwischen der echten, humanistischen und der bestialischen Nationalität." (72f.) Rassems Fazit basiert auf Grillparzers bekanntem Epigramm aus dem Jahre 1849:

"Der Weg der neuern Bildung
Geht
Von Humanität
Durch Nationalität
Zur Bestialität."(3)

Und dieser Hinweis kann uns vielleicht helfen, einige Optionen in unserer gegenwärtigen Lage zu erwägen. Ich möchte versuchen, auf einige Überlegungen in diesem Zusammenhang zurückzugreifen und sie als Gedankensplitter, als Momentaufnahmen nun vorzustellen.

 

I

Legitimationsprobleme in den Geisteswissenschaften plagen uns auch in Indien. Auch bei uns sucht man nach einer humanistischen, anthropologischen Fundierung, welche die "Fremdphilologien" rechtfertigt. Die Thematisierung der "... neuen Frage nach der Geschichtlichkeit des Menschen, nach fremden und vergessenen Möglichkeiten des Menschseins..." (4) verstehe ich in Verbindung mit Wittgensteins Einsicht, dass "...eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen." (5) Danach wären die allgemeinen Formen der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung im geschichtlichen Entwicklungsprozess der Sprache repräsentiert.(6)

Dies könnte auch den Ausgangspunkt für die indische Germanistik als German Studies bilden. Seit einigen Jahren wird unsere Arbeit in der Germanistik geprägt durch die Diskussion um den so genannten Cultural Turn und seiner Kritik: Noch in den sechziger und siebziger Jahren fragten wir nach der gesellschaftlichen Relevanz unserer Arbeit. Die Feststellung, dass alles gesellschaftlich bedingt sei, diente der kognitiven Klarheit. Strukturell ganz ähnlich sagen wir heute, dass alles kulturell bedingt sei und damit ist alles gewissermaßen auch klar. Aber wenn ich Kulturen konstruiere und einen bestimmten Praxiszusammenhang kulturell erkläre, liefere ich mehr als Pleonasmen? Ist die kulturelle Erklärung nicht die einfachste? Man braucht dann nicht weiter zu fragen. Oder ist die kulturelle Erklärung eine Antwort auf bisherige Erklärungsdefizite in den Wissenschaften? Enthält die Sensibilisierung für kulturelle Argumente einen konservierenden Zug? Das Problem des Respekts vor anderen Kulturen, wodurch aufklärerische Kritik innerhalb dieser Kulturen zum Schweigen gebracht wird und legitimierende Funktionen in diesen Kulturen an Bedeutung gewinnen, wird damit angesprochen. Dann darf der Despot sozusagen despotisch regieren, weil er zu einer anderen Kultur gehört, und man ist durch die kulturelle Festschreibung jeder Kritik enthoben.

Aber trotz solcher Bedenken ist es der Verdienst dieser Kulturdiskussion, dass Probleme der Mehrsprachigkeit und der Multikulturalität und deren Verhältnis zu Fragen der Identitätskonstitution und Identitätskonstruktion in internationalen Zusammenhängen zentral geworden sind. Die Erörterung dieser Probleme steht für mich im Zusammenhang mit dem Prozess der Kolonialisierung und Dekolonialisierung und der damit verbundenen Internationalisierung des Felds in dem Sprache, Literatur und Kultur operieren. In der indischen Diskussion dominieren hauptsächlich zwei Modelle.

Das erste Modell (bzw. eine erste Argumentationslinie) begreift Kolonialisierung als Deformation, als Störung eines eigenen, authentischen, historischen Wegs. Dekolonisierung wird als Befreiung vom Außenzwang und von fremder "Superimposition" begriffen. Literaturproduktion und Identitätskonstruktion zielen auf Rückgewinnung der reinen, authentischen, ursprünglichen Wurzeln (roots) der "eigenen" Tradition. Es geht um unterdrückte, verloren gegangene und wiederzugewinnende Identität. Nationale Identitätsgewinnung wird ausgehandelt zwischen dem postkolonialen (z.B. indischen) "Selbst" und dem internationalen "Anderen". Dieses "Andere" ist zwar auch eine komplexe Konstruktion, die historische Erinnerung und gegenwärtige Konfrontation auf eine komplexe Weise vernetzt, aber das theoretische Grundmuster dieses Paradigmas geht letztendlich auf ein "romantisches" Verständnis von Sprache, Nationalität, Staat und Nation zurück. Tendenziell führt dies zu einem "geschlossenen" Kulturverständnis. Die Übersetzbarkeit von Kulturen ist Verhandlungssache. Es geht dann um ihre Gleichberechtigung im internationalen Kräftespiel. Die dichotomisierende Hermeneutik vom "Eigenen" und "Fremden" ist ihr kognitiver Anker.

Das zweite Modell (bzw. die zweite Argumentationslinie) begreift Kolonialisierung als Teil der widerspruchsvollen Gesamtentwicklung eines Weltsystems in einem Prozess der zunehmenden Vernetzung. Als Konsequenz werden Fragen der kulturellen Produktion und der Identitätskonstruktion als wechselseitige Entwicklungs- und Konstruktionsmomente im internationalen "Vernetzungszusammenhang" begriffen. Aus dieser Sicht sind komplexe Kulturformationen wie Europa oder Indien "Resultate" dieser Gesamtentwicklung; und sie sind nicht vorgegebene Wesenseinheiten, die ihrer vollen Entfaltung harren. Europäische und indische Identitätskonstruktionen etwa bedingen sich wechselseitig, und die ökonomische, politische und kulturelle Neuordnung des kolonialen und postkolonialen Zeitalters wird als Prozess begriffen. Tendenziell führt dies zu einem "offenen" Kulturverständnis. Grenzen sind dann porös. Kulturelle Übersetzbarkeit wird bei aller notwendigen Problematisierung stets prinzipiell vorausgesetzt. Hermeneutische Abstinenz wird angestrebt.

Beide Modelle drücken wohl zwei Aspekte einer widersprüchlichen Simultanität der historischen Situation aus: Globalisierung und Universalisierung einerseits und Regionalisierung und Relativismus andererseits. In diesem Zusammenhang wäre auf die Bedeutung der Kritik an der "Monadologie" in der Kulturdiskussion hinzuweisen. Die wissenschaftliche Diskussion nach "Orientalism" (Edward Said) betont die Kritik an Dichotomisierungs-verfahren, Setzungen (auch "eigen" und "fremd" wären als Setzungen zu begreifen), und Wesenheiten (Essentialisations) von Kulturen. Stattdessen werden in der Kolonialismusdiskussion shared histories betont (Indien bzw. Europa wurden zu den "Kulturen", die sie heute sind, im Verlauf des wechselseitigen Kontakts und nicht aus Eigendynamik). Die Verschränkung von Innenlagen und Außenlagen wird gesehen und die Konstruktion von Kulturen als "Einheiten", als Monaden wird nicht als arbeitsökonomisches Verfahren eingestuft, sondern als Resultat des Dichotomisierens begriffen und kritisiert.

Der Prozesscharakter von Kulturen führt zur Einsicht in die Normalität multikultureller und multilingualer Zusammenhänge. Die nationale These in der sprachorientierten Herderschen Variante wird damit historisiert und als Spezialfall gedeutet. Identität kann nur im Plural und komplex konstruiert und gedacht werden. Sprachwechsel, Hybridität, Migrantentum sind Signaturen dieser Prozesse. Die Entstehung von multikulturellen Gesellschaften auch dort, wo traditionell relativ monosprachige und weitgehend monokulturelle Traditionen vorhanden sind (Deutschland zum Beispiel) und spezifische multikulturelle Erfahrungen gesammelt werden müssen, entsprechen der gesellschaftlich-politischen Seite der Frage.

Welche methodische Implikation hat dies? Ist der Primat der Verstehenshermeneutik weiterhin aufrecht zu halten? Kommt es auf das Verstehen der "Anderen" und ihrer "Kulturen" an? Oder kommt es darauf an, mit einander auszukommen? Die Implikationen für den Toleranzbegriff sind evident, denn allzu leicht kann Toleranz in strategisches Desinteresse umschlagen. Die Literatur und zunehmend auch die Literaturwissenschaft sprechen davon. Deshalb die größere Aufmerksamkeit für Komparatistik, Übersetzungstheorie (Übersetzung als Repräsentation, kulturelle Übersetzung) Intertextualität und Intermedialität und die erneute Diskussion von sozialer Mimesis als ästhetischer Kategorie. Deshalb auch die Verabschiedung des Authentizitätsdiskurses.

Konkret werden diese Probleme sichtbar, wenn man z.B. die Germanistik im Ausland (hier: Indien), erst zu German Studies und dann zu European Studies erweitert. Hier wird das Problem von Geographie und Geschichte, von Raum und Zeit sichtbar. Wer konstruiert die "Area" für diese area studies? Konvention? Selbstbehauptung? Konsensus? Wie ist das Verhältnis zwischen "area" als kultureller Untersuchungsgegenstand und den staatspolitischen Grenzen? Letztere sind bekanntlich wandelbar. Wird eine Erinnerung an unwandelbare "Kulturkreise" in den area studies immer noch wach gehalten? Lassen sich Erkenntnisinteressen formulieren, aus denen der Vorteil von area studies gegenüber Einzeldisziplinen ersichtlich wird? Wie begegnet man dem Dilettantismusverdacht? Ist die Interdisziplinarität in den area studies nur eine additive Disziplinarität? Die einzelnen Disziplinen der area studies betreiben harte Forschung, die vom Erkenntnisinteresse des jeweiligen Forschungsabnehmers in seinem Gehirn inter-disziplinär zusammengeschmolzen werden? Sind interdisziplinäre projekt- und problemorientierte Fallstudien vorzuziehen? Sind areas nur erweiterte Monaden? Und ist die Leitmethode immer noch eine Hermeneutik des Verstehens?

Das historische Privileg monosprachlicher und monokultureller Nationalität und Staatlichkeit (die "romantische" These) wird jetzt zunehmend international mit konkurrierenden Gegenmodellen der Pluralität und Diversität konfrontiert. Bedenkt man, dass sich Europa tendenziell zu einem mehrsprachigen und multikulturellen Gebilde hinbewegt, also dorthin, wo Indien auf Grund der Diversität schon zu sein vorgibt (mit welchem Recht, muss man heute im gegenwärtigen Indien fragen) und bedenkt man, dass - historisch gesehen- multikulturelle, mehrsprachige Modelle auch in Europa vorhanden waren (das Habsburger Modell, Mitteleuropa) und bedenkt man ferner, dass sowohl Europa wie auch Indien als Kulturformationen Resultate komplexer mehrsprachiger, multikultureller historischer Prozesse sind, so wird die Spannung in der Vergleichsperspektive umso deutlicher.

Vergleichbar sind die komplexen Kulturprozesse, die sich zwischen Internationalisierung und Regionalisierung etablieren, bzw. sich zu stabilisieren versuchen. Vergleichbar sind Situationen, in denen Kulturproduktion auf entsprechende mehrsprachige und multikulturelle historische Erfahrungswerte zurückgreifen kann, bzw. solche Werte als erstrebenswerte Werte in Geschichtsentwürfe hineinprojizieren kann. In dieser Problematik, die auch das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie mit enthält, geht es um eine breite Palette von Debatten und Kontroversen, die in letzter Zeit mit eindrucksvoller Intensität geführt wurden. Ich nenne etwas summarisch einige Probleme, die in Indien wichtig sind, und frage mich, ob ich nicht auch europäische Fragen berühre, die im Spannungsfeld von sprachlicher und kultureller Mehrdimensionalität artikuliert werden: Sprachenpolitik (Amtssprache, lingua franca und Eigenwert der regionalen Sprachen und deren relative Hierarchisierung bzw. Funktionalisierung); Sprachliche Kreativität auf dem Hintergrund von real verwirklichter bzw. historisch geerbter Multikulturalität, womit auch das Dichten in Zweitsprachen gemeint ist; Utopien nationaler Selbstverwirklichung; Positive wie negative Besetzung von Diversität, Fremdheit; Gleichzeitigkeit verschiedener nationaler und internationaler Lebenswelten; Nomadentum, Exil, Emigration, Hybridität; die Diskurse der Moderne und der Postmoderne, der Säkularisierung und der Demokratisierung.

 

II

Diese Problembereiche sind zunehmend international zu begreifen. In diesem Sinne betont der indische Schriftsteller K. Satchidanandan, dass die Reflexion über Modernisierung und Demokratisierung für die Entwicklung der Literatur im unabhängigen Indien charakteristisch sei. Es geht keineswegs also um "importierte" Fragestellungen. Ersteres bedeutet eine "radical transition of sensibility, perception and idiom", und letzteres bedeutet "the engagement of literatures with collective destinies reflected in content as well as the employment of popular speech and folk traditions at the level of form."(7) "[M]ulti-layerdness of Indian life with its uneasy coexistence of different time-worlds, of the rational and the spiritual, of the real and the surreal..." sind für die polyphone Moderne Indiens kennzeichnend. (S. 355)

"Modernism was a demand of our own history and not a command from the West as some of its detractors would argue. Western models might have been employed at times as tools of subversion; but the agenda for the new aesthetic was set by our own literary history. (S. 356)

Satchidanandan wendet sich gegen die eurozentristische Kritik, die literarische Entwicklungen in Indien (die indische Moderne und Postmoderne) als westlich subsumieren möchte. Die indischen Post-Modernismen haben mit harter indischer Realität zu tun. Dezentralisierung, kulturelle Differenz, Kastenmacht, gender power, ökologische Probleme, der Neoimperialismus einer unipolaren Welt, der sich als Globalisierung einschleicht, Konsumindustrie, die Staatsautorität, die Autonomie fürchtet und Korruption fördert. (S. 356f.) Die zeitgenössische Literatur (modern, post-modern, wie man will) glaubt, dass Multikulturalismus und Heteroglossia notwendige Bestandteile des Widerstands gegen den Atavismus, die Wiederherstellung ("revivalism") einer ethnischen Vergangenheit, gegen eine Abschwächung des staatlichen Föderalismus und gegen den Standardisierungsdruck der Kulturindustrie sind. (S. 358) Die Auseinandersetzung mit der postkolonialen Situation kennzeichnet die Entwicklung der indischen Literaturen in den Jahren nach der Unabhängigkeit 1947. "Our creativity has been dialogic and our literary discourse marked by the negotiation of a necessary heterogeneity, by a conception of identity that lives through difference and hybridity..."(S. 370)

Solch postkoloniales Denken will nicht zur Vergangenheit, zu den Anfängen zurückkehren. Man weiß, dass es keine "Anfänge" gibt, sondern nur das Moment der konstanten Erneuerung in dem Sinne, wie Fanon es meinte: "A national culture is not folclore, nor an abstract populism that believes it can discover a peoples true nature. A national culture is the whole body of efforts made by a people in the sphere of thought to describe, justify and praise the action through which that people has created itself and keeps itself in existence."(zitiert nach Satchidanandan, S. 370)

Unter den vielen Aspekten, die Satchidanandan erwähnt, ist der folgende für die indische Postmoderne wichtig: "a pursuit of the politics of difference reflected in an attempt to forge collective identities based on differences of class, caste, gender, region, language and culture as a response to the homogenization of Indian culture sought by hegemonic forces..."(S. 371)

 

III

Aus der oben skizzierten Situation geht so etwas wie eine Verpflichtung zur Komparatistik fast naturwüchsig hervor. Lämmert weist aus europäischer Sicht darauf hin, dass "ein abendländischer und später ein welthistorischer Welthorizont" für den "kultivierten Literaturkenner" selbstverständlich blieb, auch dann, als sich die Nationalphilologien etablierten.(8)

Und er schreibt ferner: "Es ist denkwürdig genug, daß erst der Kriegs- und Revolutionsaufruhr und sodann die blutigen Vertreibungen des 20. Jahrhunderts zu einer international verstrebten, allgemein und vergleichend arbeitenden Literaturwissenschaft den Grund gelegt haben." (S.176f.)

Für die Institution "Universität" stimmt dies. Aber die Haltung, die diese komparatistische Perspektive ermöglicht, geht auf bewegte Zeiten des 19. Jhdts. zurück. Schon Goethe (9) betont die "Schnelligkeit des Verkehrs", und die "immer mehr umgreifende Gewerks- und Handelsthätigkeit", bei der es "unausbleiblich" sei, daß Weltliteratur sich bilde. Eine Perspektive, die bekanntlich dann auch Marx und Engels hervorgehoben haben. Auch wenn er- hierin durchaus dialektisch- sonst auch das Negative und, wie er es ausdrückte, "veloziferische" Prinzip in der Geschichte walten sah, spricht er doch von einem "Vorschreiten des Menschengeschlechts". Er bringt eine globale Perspektive hinein, indem er "weite Aussichten der Welt- und Menschenverhältniss" feststellt. Diese Entwicklung findet sein wohlwollendes Gefallen und er drückt es in einem bekannten Gespräch mit Eckermann aus: "Es ist aber sehr artig, daß wir jetzt, bei dem engen Verkehr zwischen Franzosen, Engländern und Deutschen in den Fall kommen, uns einander zu korrigieren. Das ist der große Nutzen, der bei einer Weltliteratur herauskommt und der sich immer mehr zeigen wird".

In "Epochen geselliger Bildung" spricht Goethe von vier Entwicklungsstadien der Bildung. Nur in der ersten hält man sich mit "Vorliebe auf die Muttersprache". Danach "verweigert man die Einwirkung" der "fremden Sprachen" nicht und gelangt zur "Ueberzeugung, wie nothwendig es sei, sich von den Zuständen des augenblicklichen Weltlaufs im realen und idealen Sinne zu unterrichten. Alle fremde Literaturen setzen sich mit der einheimischen ins Gleiche, und wir bleiben im Weltumlaufe nicht zurück". Und emphatischer heißt es: "Die Besonderheiten einer jeden muß man kennen lernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren: denn die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich".

Tzvetan Todorov hat in Goethes Haltung, die wir oben skizziert haben, eine mögliche Lösung jener postkolonialen Problematik gefunden, die zwischen unkritischer Hingabe an die Metropole und dem Isolationismus schwankt. Goethes Forderung in "German Romance" nach "Vermittelung und wechselseitige Anerkennung" antizipiert die multikulturelle Debatte deutlich. Das Wissen um Andere ist für ihn eine Bereicherung. Er ist insofern kein Purist. In diesem Sinne wären weder das Ghetto noch ein melting pot das Ziel, sondern: "The constant interaction of cultures results in the formation of hybrid, crossbred, creolized cultures at every level: from bilingual writers, through cosmopolitan metropolises, to multicultural states." So entkommt man der sterilen Dichotomie zwischen Xenophilie und Xenophobie. (10) So entkommt man vermutlich auch dem Zwang des "Authentizitätsdiskurs", wonach man nach Wurzeln der Identität sucht. Aus dieser Perspektive sind Derridas Paradoxien über den Monolingualismus ("Ja, ich habe nur eine Sprache, aber sie ist nicht meine." "Wir sprechen immer nur eine Sprache. Wir sprechen nie nur eine Sprache.") einleuchtend. Wenn ich eine Haltung einnehme, die bereit ist zu behaupten, dass meine Sprache mir nicht gehört, dann signalisiere ich ein Interesse für grenzüberwindende Phänomene: "For these phenomena that interest me are precisely those that blur these boundaries, cross them, and make their historical artifice appear, also their violence, meaning the relations of force that are concentrated there and actually capitalize themselves there interminably. Those who are sensitive to all stakes of 'creolization,' for example, assess this better than others." (11)

Es ist nützlich, die Problematik der Komparatistik als ein Problem des Weltsystems zu betrachten. Franco Moretti, der diesen Zugang wählt, weist darauf hin, daß Historiker, die auf der Weltebene analysieren, zwei kognitive Grundmetaphern ("two basic cognitive metaphors") benutzen: Der Baum und die Welle. (12) Der Baum führt von "unity to diversity. One tree with many branches: from Indo-European, to dozens of different languages."

Die Welle ist das Gegenteil.

"Hollywood films conquering one market after another."...Trees need geographical discontinuity...; waves dislike barriers, and thrive on geographical continuity.... Trees and branches are what nation states cling to; waves are what markets do." (S.66) Das entscheidende ist, daß beide Metaphern funktionieren.

Aber mir will es scheinen, daß postkoloniales Denken und seine Metaphorik, wie oben angedeutet, eher der Idee des Rhizomes von Deleuze und Guattari sehr nah stehen. Die Wurzelmetaphorik führt zum Denken in dichotomisierenden Kategorien wie das Eigene und das Fremde, zwischen denen im Akt des hermeneutischen Verstehens Beziehungen geschaffen werden. Dies ist ein gewiß wichtiges Unternehmen und vielleicht haben genuin monolinguale und monokulturelle Nationen, falls es sie gibt, gar keine andere Wahl. Aber die Welt ist doch eher in multilinguale und multikulturelle Formationen, die noch dazu stark vernetzt sind, aufgefächert. Hier ist die glückliche Metaphorik des Rhizomes eher angebracht. Nicht eine Hermeneutik des Verstehens, sondern eher eine operative Kunst des Aneignens ist gefragt, zur "Vermittelung und wechselseitigen Anerkennung" wie Goethe es sagt.

Das Rhizome wird charakterisiert durch Heterogenität und durch seine Fähigkeit, beliebige Verbindungen zwischen sehr diversen Bereichen herzustellen. Bäume und Wurzeln peilen einen Punkt an. Das Rhizome dagegen stellt "unaufhörlich" heterogene Verbindungen her. Semiotische Ketten, Machtverhältnisse, Wissenschaft und Kunst und der Bereich des sozialen Kampfs, zum Beispiel, können zu einer Agglomeration werden. Nicht umsonst greifen Deleuze und Guattari Chomskys linguistisches Baummodell an, das von einem Punkt S beginnt und durch Dichotomisierung im linguistischen Feld fortschreitet. Für das rhizomatische Denken fehlt der ideale Sprecher-Hörer, und es fehlt die homogene Sprachgemeinschaft. Das hat zur Konsequenz, dass der emotionsgeladene Begriff der Muttersprache sein Privileg verliert. Das ist durchaus auch politisch intendiert. Denn, wenn wir es statt mit einer Muttersprache "nur" mit einer Machtübernahme durch eine dominante Sprache innerhalb einer politischen Vielfalt zu tun haben, steht der Weg offen für eine positive Konnotierung von Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel. Dichten in der Muttersprache bildet nicht mehr den einzigen authentischen Weg zum kreativen Schreiben, zur Wahrheit oder zum letzten Grund. (13) Wenn man einmal das ideologische Primat der Muttersprache fallen lässt, wird der Blick frei für ein literarisches Feld, das rein individuell gesehen unterschiedliche Biographien, unterschiedliche Zugänge zum Schreiben und unterschiedliche politische Programme versammelt. Dieses Feld wird jedoch gekennzeichnet durch die Frage, dass es in allen Gesellschaften eine beträchtliche Anzahl von Menschen gibt, die im Umfeld großer Sprachen leben, die sie noch nicht genügend beherrschen. Es ist ein Problem vieler Minderheiten, die sich ihr sprachliches Umfeld noch aneignen müssen.

Es ist durchaus möglich, und Derrida weist in seinen oben zitierten Reflexionen über den Monolingualismus darauf hin, dass die Erfahrung des Exils unter dem Faschismus das Festhalten an der Sprache der Geburt als Gestus des Widerstands notwendig macht, ja Dignität verleiht. Die großen Themen von Exil und Sprachverlust berühren die Diskussion über Mehrsprachigkeit und Multikulturalismus aber durch die operative Haltung zur Wiedergewinnung der Sprache. Peter Weiss hat in seiner Rede zum Lessingpreis, 1965 über "Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache" (14) diese Frage thematisiert. Er, der aus der (deutschen) Sprache "verstoßen" (15) wurde, kehrt zu ihr mit einer anderen Haltung zurück. Wäre er 1947 aus Stockholm nach Deutschland zurückgekehrt, hätte er eine Sprache gehabt. "Jetzt mache ich mir die Sprache selbst" (Notizbücher, S. 250). Die Entfernung von der Sprache war auch mit einer Entfernung von sich selbst verbunden. "Gleichzeitig mit dem Versuch, sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten, musste diese Sprache neu errichtet werden." Dieses Neuerrichten ist ganz anders als eine Rückkehr zum Schoß der Muttersprache zu verstehen. Als eine Sprache, die er "zimmert" kann er "immerhin... jetzt sagen, dass dies seine Sprache war. Die Sprache gehörte ihm, mit allen Unzulänglichkeiten, mit ihrer Tendenz zur Selbstauflösung und mit ihrer plötzlich auftretenden Klanglosigkeit. Im Vergleich mit der Leere, durch die er gegangen war, war dies schon viel."

Aus dieser Perspektive wird die Sprache dann deterritorialisiert! Dies ist das entscheidende, denn dadurch wird die Herdersche Triade von Sprache, Raum und Volk aufgelöst. Der Exilierte wurde einmal " aus allen Bindungen herausgerissen und in eine Freiheit versetzt, in der er sich selbst aus der Sicht verlor. Aber die Möglichkeit entsteht, dass er mit der Sprache, die Ihm zur Arbeit dient und die nirgendwo mehr einen festen Wohnsitz hat, überall in dieser Freiheit zu Hause sei." (Notizbücher, S. 186f)

 

IV

Mein Interesse an den produktiven Möglichkeiten mehrsprachiger Konstellationen hängt damit zusammen, dass ich aus einem multilingualen, multinationalen, postkolonialen Staat komme. Die sprachliche Komplexität Indiens ist Teil der allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Komplexität, und sie ist manchmal schwer zu begreifen. Immerhin können wir angeben, dass es zehn Hauptschriftsysteme und (offiziell!) achtzehn moderne Hauptsprachen gibt, deren Literaturen in vielen Fällen mindestens tausend Jahre alt sind. Es gibt drei klassische Traditionen, auf die man sich berufen kann: Sanskrit, Persisch, Arabisch. Die Rolle, die Sanskrit und Persisch (Farsi) im Staatssystem gespielt haben, wurde vom Englischen übernommen. Englisch funktioniert nach wie vor als wichtigstes überregionales Kommunikationsmittel im Bereich der Administration und des höheren Bildungswesens.

Die Stellung des Englischen in Indien ist komplex. Auf der einen Seite ist Englisch keine Fremdsprache, denn als Sprache ist es "eingebürgert"; es wird auch von einem Bevölkerungsteil als Muttersprache reklamiert. Indische Schriftsteller wie Anita Desai, Salman Rushdie, Arundhati Roy, Amitav Ghosh, Vikram Seth, die aus den verschiedensten Sprachregionen Indiens kommen, schreiben auf englisch und haben internationalen Ruhm erlangt. Fortbildungskurse für Englisch als Fremdsprache werden von indischen Institutionen für Teilnehmer aus dem asiatischen Ausland organisiert. Auf der anderen Seite wirkt Englisch als internationale Sprache wie ein Filter, der den internationalen Kommunikationszusammenhang und den internationalen Informationsaustausch nach anglo-amerikanischen Prioritäten bzw. Interpretationsmustern steuert. Zu den wichtigsten Impulsen für die staatliche Förderung der Fremdsprachenphilologien seit den 70er Jahren gehört deshalb die Einsicht, dass das postkoloniale Indien den möglichst direkten Austausch auf allen wissenschaftlichen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Gebieten mit allen Teilen der Welt braucht.

Ich erwähnte schon, dass die funktionierende Mehrsprachigkeit in Indien schwer zu definieren ist. Am wenigsten ist sie mit einem behavioristischen Modell von code switching zu fassen. Es ist eher ein Sprachhabitus und es ist eher so, als ob eine multilinguale Kompetenz eine metasprachliche Referenzebene schafft, welche die Kommunikation hinreichend ermöglicht. Dies ist ein historisches Resultat in Indien und hängt mit der Verschränkung von Europa und Indien zusammen. In Europa, wie bereits erwähnt, hat das einzige historische Modell, das mit Indien hätte verglichen werden können, nämlich das Habsburger Modell verloren gegen das romantische, von Herder beeinflusste Modell der Einheit von Sprache, Volk und Nation.

Wie wird das mehrsprachige Europa aussehen? Wird das zukünftige Europa nur eine Art expandierte Schweiz ohne wirklich praktizierte Mehrsprachigkeit sein? Haben wir es auch im zukünftigen Europa mit einer Sammlung von Sprachmonaden, die sozusagen jeweils unmittelbar zum Rest der Welt in Konkurrenz und bilateraler Verhandlung treten, zu tun? Europa, das ein Agglomerat einzelner Sprachen war, steht vor dem Problem, dass die verschiedenen europäischen Sprachen als Resultate von ethnischen Bindungen und temporal sedimentierten Traditionen aufgefaßt werden können. Dies trifft auf andere Weltregionen auch zu. Mit dem Unterschied allerdings, dass die gewissermaßen "natürliche", historisch entstandene Mehrsprachigkeit (etwa Indiens) in Europa ausgeblendet wurde im Zuge der Nationenbildung.

Es mag hilfreich sein, hier an einige Gedanken Umberto Ecos zu erinnern. Eco geht es vornehmlich zunächst um eine Verkehrssprache, die auch eine künstliche Sprache sein könnte, und nicht notwendigerweise eine der natürlichen Sprachen Europas sein müßte. Indien hat als Kommunikationskitt nun keine künstlich verordnete Verkehrssprache, sondern eine historisch eingebürgerte Fremdsprache, die durch die Einbürgerung die gleichen Rechte hat wie die anderen indischen Sprachen. Kann man sich ein zukünftiges mehrsprachiges, multikulturelles Europa vorstellen, das mit dem mehrsprachigen, multikulturellen Indien sich vergleichen ließe? Zumindest strukturell sind die Situationen vergleichbar. Das Grundproblem ist der demokratische Umgang mit Diversität. In Ecos Worten, die in indischen Ohren sehr vertraut klingen, geht es um

"die Möglichkeit des Zusammenlebens auf einem durch Berufung vielsprachigen Kontinent. Das Problem der zukünftigen europäischen Kultur liegt sicher nicht im Triumph der totalen Vielsprachigkeit (...), sondern in der Herausbildung einer Gemeinschaft von Menschen, die in der Lage sind, den Geist, das Aroma, die Atmosphäre einer anderen Sprache zu erfassen. Ein Europa von Polyglotten ist kein Europa von Menschen, die viele Sprachen perfekt beherrschen, sondern im besten Fall eines von Menschen, die sich verständigen können, indem jeder die eigene Sprache spricht und die des anderen versteht, ohne sie fließend sprechen zu können, wobei er, während er sie versteht, wenn auch nur mit Mühe, zugleich ihren 'Geist' versteht, das kulturelle Universum, das ein jeder ausdrückt, wenn er die Sprache seiner Vorfahren und seiner Tradition spricht." (16)

In "Daniel Deronda", einem Roman der englischen Schriftstellerin des neunzehnten Jahrhunderts, George Eliot, lesen wir den erstaunlichen Satz: "He spoke without difficulty in that liberal German tongue which takes many strange accents to its maternal bosom". (17) Dies ist gegen den Strich der gängigen Klischees über die deutsche Sprache geschrieben. Aber Goethe hat es ähnlich gesehen. (Siehe "Deutsche Sprache", 1817) Und so konnte es vielleicht auch eine englische Schriftstellerin des 19. Jhdts sehen und die Utopie einer assimilationsfreudigen deutschen Sprache kontrastieren mit der konservativeren englischen Tradition.

Setzt nun eine assimilationsfreudige Sprache ein assimilationsfreudiges Land voraus? Oder wird ein Land mehrheitlich assimilationsfreudig, nachdem seine Sprache Migranten, Exilliierten und Asylsuchenden Einbürgerungsmöglichkeiten bietet? Wenn es um die Europäisierung und Internationalisierung des Deutschen geht, hätten wir eine interessante Konstruktion, die ich durch einen historischen Rückgriff in Erinnerung bringen möchte. Ausgerechnet Herder, mit dessen falsch verstandenen Volksbegriff so viel Unheil getrieben worden ist, setzte eine Völkermischung gewissermaßen als Vorbedingung für die Nationalisierung in Europa voraus. In den "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" um 1784 schreibt er:

"In keinem Welttheil haben sich die Völker so vermischt, wie in Europa: in keinem haben sie so stark und oft ihre Wohnplätze, und mit denselben ihre Lebensart und Sitten verändert.(...) Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer Europäischen Nationen gemildert und verändert; ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europa's schwerlich hätte erweckt werden mögen." (18)

Die als natürlich empfundene Verschiedenheit der Nationen und Völker Europas wäre somit als historische Konstruktion aufzufassen. Die Stabilisierung von Europa in der Form verschiedener Nationen (mit ihren Sprachen und Kulturen) war zunächst bestimmt eine Form der Demokratisierung, richtete sich der Vorgang doch gegen eine durch Eliten kontrollierte gesamteuropäische Kommunikationssituation. Heute kommt die Erinnerung an das multisprachige assimilationsfreudige Europa Herders von unten, sozusagen von der Basis, her. Das Zeitalter der Nationen, verstanden als Monaden, geht wahrscheinlich seinem Ende zu. Die Flexibilität, die Änderungen im gesellschaftlichen Habitus, die größere Dispositionsfähigkeit, die jetzt verlangt werden, werden Kosmopolitismus und Urbanität eher fördern, als den Gegenzug in die falsch verstandene Provinz. Durch die Reflexion über Nationales und Internationales entsteht allmählich die kognitive Möglichkeit, die Arbitrarität der Grenzziehungen, Hybridität, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität als Signatur des Multiplen anzusehen. Dies wäre dann auch die Basis für eine produktive Wechselbeziehung zwischen Nationalem und Internationalem in unserer Arbeit.

* Dieser Text ist die leicht adaptierte Variante der Rede, die vom Verfasser anläßlich der Verleihung des Jacob- und Wilhelm-Grimm- Preises des DAAD in Bonn im Mai 2001 gehalten wurde. Ich möchte der Jury, dem Beirat für Germanistik des DAAD und dem DAAD für diese Auszeichnung danken und gleichzeitig betonen, wie viel ich durch die Unterstützung und Anregungen der Studierenden an meiner Universität, von dem indischen und europäischen Kollegenkreis, mit dem ich im Austausch gestanden habe und stehe, und von den Förderinstitutionen, die für den internationalen wissenschaftlichen Austausch zuständig sind, empfangen habe. Auch ihnen allen sei hier gedankt.

Der vollständige Text ist abgedruckt in: Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, Bonn 2001.

© Anil Bhatti (New Delhi)

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Anmerkungen:

.(1) Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache. Gelesen in der preussischen Akademie der Wissenschaften am 9. Januar 1851. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von M. Rassem, Frankfurt a. M. 1985; Insel Verlag.
Mohammed Rassem wirkte als Kulturanthropologe in Deutschland und Österreich (Salzburg). Karl Acham danke ich für den Hinweis auf diese leider vergriffene Ausgabe.

(2) Peter Bichsel, Chaotisch wie die Sprache selbst. In: P. B. Alle von mir gelernt. Kolumnen 1995-1999, Frankfurt a. M. 2000; Suhrkamp; S.141-146.

(3) Franz Grillparzer, Sämtliche Werke. Hg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, 2 Bde. München 1960, Bd.1, S. 500

(4)  Jan Assmann, Ägyptologie im Kontext der Geisteswissenschaften. In: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, hg. v. Wolfgang Prinz und Peter Weingart, Frankfurt a. M. 1990; Suhrkamp; S.335-349;Vgl. auch die Beiträge von Heinich von Stietenkron, Perspektiven des Fachs Indologie. S. 388-402;Wilhelm Vosskamp, Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft. Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. S.240-248.

(5)  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. ; Suhrkamp Nr. 19.
Ich muß allerdings die Vorstellung von "Lebensform" vom Rassischem und Authentischem schützen und sensibel dafür sein, dass der Zugang zu dieser Lebensform nicht durch Privileg eingegrenzt ist.

(6) Vgl.: Feruccio Rossi-Landi, Sprache als Arbeit und als Markt. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 1974 (2. Aufl.), Reihe Hanser 105

(7) K. Satchidanandan, Literature: Signing in Different Scripts, In: Independent India. The First Fifty Years, ed. by Hiranmay Karlekar, Delhi 1998 (O.U.P.); pp353-371, hier S. 353.

(8) Eberhart Lämmert, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. S.175-188. In Prinz u. Weingart, op. cit.

(9) Siehe die Stellen in Goethes Werke, Sophien-Ausgabe, Weimar, 1903, I, 41.2, S.306. 362. 42.2, S.502, 505. Vgl. zu diesem Komplex: Hendrik Birus, The Goethean Concept of World and Comparative Literature, in: CLCWeb: Comparative Literature and Culture: A WWWeb Journal 2.4 (2000)
ISSN 1481-4374 http://clcwebjournal.lib.purdue.edu/clcweb00-4/birus00.html

(10) Tzvetan Todorov, The Morals of History, trnsl. Alyson Waters, Minneapolis 1995 (Frz 1991), University of Minnesota Press

(11) Jacques Derrida, Monolingualism of the Other; or The Prosthesis of Origin. Translated by Patrick Mensah, Stanford, California, 1998 (Frz. 1996), S.9

(12) Franco Moretti, Conjectures on World Literature, New Left Review, Jan-Feb 2000

(13) Gilles Deleuze, Felix Guattari, A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, (Translated by Brian Masumi), London 1988, S 15. ( Milles Plateaux, Paris 1980)

(14) Peter Weiss, Rapporte, Frankfurt a. M. 1968 S. 170-187

(15) Peter Weiss. Notizbücher, 1960-1971. 1. Bd., Frankfurt a. M. 1982. S. 320

(16) Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1995, S. 149.

(17) George Eliot, Daniel Deroda, Harmondsworth (Penguin), S. 598.

(18) Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 1989, S. 287. Vgl. dazu Anil Bhatti, Aspekte der Grenzziehungen: Postcolonial. In: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen, Nationalismus, Regionalismus und Fundamentalismus. Hrsg. v. Horst Turk, Philip Löser u. a ., Göttingen 1998. Erweiterte Fassung in Trans. Internet Zeitschrift für Kulturwissenschaften, O Nr., August 1998: http://www.inst.at/trans/0Nr/bhatti.htm


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