Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Mai 2002

Die Besonderheiten des kulturellen Dialogs um die Wende des XX. Jahrhunderts

Elena Bogatyreva (Moskau)

 

In diesem Vortrag möchte ich auf einige Besonderheiten der heutigen Kultur und Geisteswissenschaften eingehen. Im Verlauf von zwei letzten Jahrzehnten erörterten die Philosophen, Geistes- und Kulturwissenschaftler die Fragen nach "der Postmoderne", "postmoderner Kultur", ihrer Stellung in der Kulturgeschichte und ihrer Entwicklungsperspektive. Viele Gelehrte, die verschiedene Stellungen zu diesen Fragen nahmen, waren einer Meinung bezüglich des "Übergangscharakters" dieser Situation (oder dieses Begriffs). Aber diese Vorstellung wurde von ihnen ganz verschieden interpretiert. Um die Wende des XX. Jahrhunderts traten diese Diskussionen in den Hintergrund. Die neue Problematik, die mit den Integrationsprozessen verbunden ist, ersetzte sie. Sind diese Prozesse die Erscheinung einer neuen kulturellen Etappe oder sind sie eine Transformation derselben kulturellen Situation?

In diesem Beitrag möchte ich auf folgende Fragen eingehen. Genauer gesagt, diese Thesen sind eher einige Fragestellungen, und zwar:

  1. Ist die heutige Kultursituation eine Fortsetzung derselben (vorangegangenen) kulturellen Situation oder stellt sie eine neue kulturelle Etappe dar?
  2. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Kulturwissenschaften?
  3. Als Beispiel möchte ich einen Dialog zwischen verschiedenen Versionen der naiven Kunst betrachten. Genauer gesagt, es handelt sich um "den Primitivismus". In der Kunst entfalteten sich die Integrationsprozesse viel früher. Paul Gauguin war einer der Begründer und Vertreter dieser künstlerischen Tradition im westeuropäischen Kontext. In der russischen Kunst gehörten zu dieser künstlerischen Richtung die Vertreter der russischen Avantgarde Natalja Gontscharova und Michail Larionov. Ich habe vor, auf den Dialog, der sich um die Wende des 19. Jahrhunderts entfaltete, zurückzukommen.

Bei der Betrachtung dieser Frage gehen wir von folgenden Prämissen aus. Vor allem: jede Nationalkultur ist am Ende des XX. Jahrhunderts gewissermaßen schon ein Ergebnis des kulturellen Dialogs, ein Ergebnis der interkulturellen Wechselwirkungen. Es ist es in höherem Grad, als wir uns das vorstellen. Jede Kultur ist ein Ergebnis des Dialogs nicht nur im Sinne der hochgradigen Differenzierung der gegenwärtigen regionalen Kulturen. Das heißt, nicht nur dadurch, dass jede Kultur eine bestimmte Struktur hat. In deren Rahmen (ko)existieren verschiedene kulturelle Gruppen, verschiedene Schichten und Subkulturen. Sondern auch dadurch, dass jede Kultur ein Vorhandensein der interkulturellen Wechselwirkungen voraussetzt. Die interkulturellen Wechselwirkungen bedeuten sowohl einen Dialog mit der Tradition (mit den Traditionen), als auch die Kommunikation zwischen den verschiedenen kulturellen Gruppen, die im Rahmen einer regionalen Kultur und auch im Rahmen der verschiedenen Kulturen existieren. Einige gemeinsame Traditionen und allgemeine Werte, die verschiedene Sprachen der Kulturen vereinigen, stellen das Konsolidierungsprinzip dar. Zu den Elementen dieser gemeinsamen Tradition gehört am Ende des XX. Jahrhunderts die Philosophie des Dialogs. So kann man sagen. Verschiedene Denker und Philosophen, die verschiedene Kulturen und Konfessionen vertreten, entwickelten im Verlauf des XX. Jahrhunderts die Philosophie des Dialogs. Am Ende des Jahrhunderts verbreitete sie sich als die Gesamtheit der Vorstellungen von der Gleichberechtigung verschiedener anderer Kulturen, anderer Positionen und so weiter. Diese Vorstellungen könnten zur Grundlage für Vereinigung der breiten Kreise der Kulturen werden. Am Ende des XX. Jahrhunderts, zumindest im letzten Jahrzehnt, scheinen die Ergebnisse dieses interkulturellen Dialogs vielversprechend zu sein. Die Vorstellung von den allgemeinen Werten und von den Wegen der Lösung des gemeinsamen Problems wurde erreicht. Viele Fragen, die selbstverständlich waren, benötigen jetzt der ergänzenden Erwähnung.

Ich möchte mich nun der Sprachtheorie des bekannten Kulturforschers und Philosophen Michail Bachtin zuwenden. Er ist auch durch seine Philosophie des Dialogs bekannt. Seine Gedanken auf dem Gebiet der Sprachtheorie waren im Verlauf der letzten Jahrzehnte sehr populär. Aber ich meine, dass seine Gedanken jetzt in der neuen kulturellen Situation noch aktueller werden. Bachtin behandelte die Kultur als einen Schnittpunkt der verschiedenen Sprachen und der verschiedenen Horizonte ("krugozor"). (Der Horizont ist eine kulturelle Einstellung, die Gesamtheit der Redegenres, die den bestimmten kulturellen Gruppen eigen sind.) Und die gesamte menschliche Kultur betrachtete er als einen Großdialog, in dem jedes "Wort", jeder "Zwischenruf" mit dem Subjekt, mit der Persönlichkeit verbunden ist. Die Kultur nach Bachtin ist die Ontologie des menschlichen Seins. Dieser Dialog ist nicht immer offensichtlich. Als minimale Sinneinheit der Rede zeichnet Bachtin "die Äußerung" aus. Ich zitiere Bachtins Worte über die Äußerung: Zwei zusammengestellte fremde Äußerungen, die voneinander nichts wissen, treten unbedingt in dialogische Beziehungen zueinander, wenn sie sich wenigstens für das gleiche Thema (denselben Gedanken) interessieren(1). Diese These kann man auch auf bestimmte kulturgeschichtliche Situationen, die in dialogischen Beziehungen zur Tradition (zu den Traditionen), zu den anderen Kulturen stehen, ausweiten. Bachtin operiert mit den Begriffen "Verschiedensprachigkeit" (genauer: "Verschiedenredigkeit": "raznorethije") und "Vielsprachigkeit" in bezug auf das Literaturgenre des Romans. Er interpretierte den Roman als ein Modell einer bestimmten kulturellen Situation. Es handelte sich um die europäischen Kulturen, beginnend mit der Neuzeit. Die Entstehung des Romans ist nach Bachtin mit der Zerlegung des mythologischen Weltbildes verbunden. Sie ist mit den kulturellen Epochen, in denen kulturelle Vielstimmigkeit eine einzige Normativsprache ersetzt, verbunden. Die Entstehung des Romans ist mit der sprachlichen Vielfalt und kulturellen Vielstimmigkeit verbunden. In Bachtins Worten: "Die Romansprache ist ein System 'der Sprachen'"(2). Der Roman repräsentiert die Vielsprachigkeit seiner kulturellen Epoche. Ich möchte noch ein Zitat aus Bachtins Werk anführen: "Das Kulturgebiet hat kein inneres Territorium: all das liegt an den Grenzen [...], die systematische Einheit der Kultur geht in die Atome des kulturellen Lebens ein".(3)

Eines der Probleme, das Bachtin erörtete, ist das Problem des individuellen Bewusstseins in der Situation der Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Dieses Problem behandelt er auch in der Romantheorie als das Problem des Autors. Das Thema des Selbstbewusstseins, der Selbstidentifizierung sowohl der Person als auch der bestimmten Kultur ist nach Bachtin mit dem Dialog verbunden. Es lautet sehr aktuell. Er bestimmt das Problem des individuellen Bewusstseins als Problem "des eigenen Wortes" im Kontext der Vielsprachigkeit. Jedes Wort ist nach Bachtin die Stelle, in der sich verschiedene individuelle Intentionen treffen. Das Wort trägt in sich die Spur verschiedener Formen des Gebrauchs. (Diese Spur zeigt sich als individueller Akzent oder Intonation.) In Bachtins Worten: "Das Wort wohnt [...] an der Grenze seines und des fremden Kontextes"(4). Übersetzen wir die Gedanken Bachtins in die Sprache der gegenwärtigen Auseinandersetzungen. In diesem Sinn kann man sagen: Identität entsteht als einen Schnittpunkt der vielen kulturellen Kontexte. Sie befasst sich mit diesen verschiedenen Vorstellungen. Das heißt, die Entstehung des eigenen Worts ist ohne Dialog nach Bachtin unmöglich. Um das eigene Wort zu finden, muss der Mensch in den Dialog treten (Dialog mit der Tradition, mit den anderen, fremden Wörtern usw.). Bachtin beschreibt ausführlich das Verfahren des Werdens des eigenen Worts, das mit der Sprachauswahl beginnt. Dabei verstand Bachtin die Auffindung des eigenen Worts als ethisches Problem. Er war bestrebt, eine ethische Dimension in die Sprachtheorie zu bringen. Er strebte an, die Individualität in die Koordinaten der gegenwärtigen Kultur einzuschreiben. Nach der Logik Bachtins kann man sagen, dass das Problem des Bewusstseins der eigenen Identität das Vorhandensein des "Anderen" voraussetzt. Im Dialog mit dem Anderen, im Vergleich zu ihm, verwirklicht sich das Bewusstsein. Das betrifft sowohl eine Person als auch gesamte Kultur. Der Andere (oder die Gestalt des Anderen) ist nicht für die Entgegensetzung nötig, aber als Ausgangspunkt. In den frühen Werken sprach Bachtin über "die maßgebliche Wertposition" des Anderen, die eine Vorstellung über sich, eigene Gestalt konstituiert. Das betrifft auch die Kulturgestalt. Die Rolle des Anderen können sowohl die nähere als auch die entfernte Kulturtradition spielen. Die Formen des Dialogs können unterschiedlich sein. Zu den einfachen Beispielen kann man die Antike und die Renaissance rechnen. (Wir verwenden Beispiele, die Bachtin nicht betrachtete.) Die Antike tritt hier in der Rolle der Tradition, mit der ein Dialog geführt wird. Aber es ist die vorangehende Tradition, deren Gestalt ausgehend von den eigenen Vorstellungen rekonstruiert wurde. Aber der Kulturdialog hat nicht immer eine solche offensichtliche Äußerung und Verwirklichungsweise. (Im Kontext unseres Gesprächs wäre der Dialog der koexistierenden Kulturen aktueller.) Noch einige Beispiele: ein Interesse für den Osten (genauer gesagt, "für die Gestalt des Ostens"), die in der Rolle des Anderen am Ende des XIX. Jahrhunderts auftrat. Dieses Interesse kam in den europäischen Kulturen in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts zur Geltung. In erster Linie äußerte sich dieses Interesse in der Kunst. Verschiedene Kunstarten rekonstruierten die Gestalt des anziehenden Anderen. Ebenso die Philosophie. Es wurde zur Erscheinung der allgemeinen kulturellen Einstellungen. Oder das Interesse für lateinamerikanische Kulturen in Europa und das traditionelle Interesse für europäische Kulturen in Lateinamerika und so weiter. In den verschiedenen Etappen der russischen Kulturgeschichte trat z. B. "die Gestalt des Westens" in der Rolle des anziehenden Anderen auf. Man kann viele Beispiele zu diesem Thema anführen. Eine der interessantesten Fragen ist die Frage: wie entsteht diese Gestalt? Aus welchem kulturellen oder sozialen Grund gerät die Gestalt einer oder einer anderen Kultur in den Mittelpunkt? Offensichtliche Erscheinungen dieses Interesse kann man auf dem Gebiet der Mode beobachten. Und die Kunst spielt natürlich in der Bildung und in der Translation dieser Gestalt eine große Rolle. Die Gestalt des Anderen bildet sich vor allem in der Kunst und verbreitet sich durch die Kunst. Natürlich, es ist die Gestalt der anderen Kultur. Es ist der Andere in "meinem" Vorgriff. Und hier kann man vermuten, dass der Charakter und die Besonderheiten der Prozesse, die mit dem Selbstbewusstsein der Kulturen verbunden sind, auch davon abhängen, welcher Gesichtspunkt oder die Gestalt welcher Kultur für sie in diesem Moment "eine Wertposition des Anderen" darstellt.

Die Situation der Verschiedensprachigkeit und der Vielsprachigkeit wurde im Verlauf von den Auseinandersetzungen zum Thema Modern-Postmodern festgestellt. Welche Perspektive haben Kulturwissenschaften in der neuen Situation?

Die Integrationsprozesse in der multikulturellen Situation führen aller Wahrscheinlichkeit nach zur Aktivierung des kulturellen Dialogs. Aktivierung des kulturellen Dialogs bedeutet die Intensivierung der Wechselwirkungen (der Kommunikation) zwischen verschiedenen Schichten und verschiedenen kulturellen Gruppen sowohl im Rahmen einer Kultur, als auch zwischen verschiedenen Kulturen. Das bedeutet die Aktivierung der kulturellen Kommunikation. In diesem Fall könnten die Geisteswissenschaften eine Funktion der Aufklärung der dabei entstehenden Fragen und der eventuellen Unverständnissituationen erfüllen. Das kann die Aktualisierung der hermeneutischen Methoden, die in der letzten Zeit nicht so populär waren und die Aktualisierung der Theorien des Dialogs bedeuten. Die Formen der interkulturellen Kommunikation können sich unter dem Einfluss zum Beispiel der Computerkommunikation, der Computersprachen verändern. Und hier entstehen einige neue Probleme. Wenn also die Möglichkeit der realen Kommunikation mit der Erfindung eines neuen Verkehrsmittels am Anfang des XX. Jahrhunderts aktiviert werden, so führt die Verbreitung der Möglichkeiten der Computerkommunikation zur Aktivierung des Computerdialogs.

Als eines der Beispiele der Logik der Entwicklung der dialogischen Beziehungen möchte ich die Bildung der Sprache der primitivistischen Kunst betrachten. Der Primitivismus entsteht in der zweite Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Ihre Entstehung (wie bekannt ist) ist mit dem Namen des Künstlers Paul Gauguin und mit seinen tahitischen Werken verbunden. Das ist eine bekannte Tatsache: Paul Gauguin verzichtet auf die Darstellungsprinzipien, die sich in der Renaissance entwickelt hatten, und bestrebte sich, die Verfahren der originalen tahitischen Kunst zu rekonstruieren. (Das heißt, er versucht sich an die Stelle des Anderen zu versetzen. Er strebt die Rekonstruktion der anderen Sichtweise an.)

In der russischen Kunst entsteht der Primitivismus als künstlerische Richtung am Anfang des XX. Jahrhunderts. Unter ihren Vertretern waren bekannte Avantgardisten wie Natalja Gontscharova, Michail Larionov und andere Künstler ihrer Kreise. Ihre künstlerischen Verfahren streben zur flachen Malerei, zur symbolischen Interpretation der Farbe (fast wie bei Gauguin). Die formale Suche von Gauguin war ihnen nah. Aber sie hatten andere Vorhaben. P. Gauguin und die russischen Avantgardisten verwenden ähnliche künstlerische Sprachen, aber sie gehen von unterschiedlichen Intentionen aus. Gontscharova, Larionov und andere versuchten, die Traditionen der altrussischen Kunst und der Folklore zu rekonstruieren, um eine Spezifik der eigenen künstlerischen Kultur neu zu schaffen. Und als Ergebnis dieses Dialogs bildete sich eine neue künstlerische allgemeinverständliche Sprache. Der Primitivismus hatte nicht wenige Anhänger. In der gegenwärtigen Kunst wird diese Sprache zum allgemeinverständlichen Äußerungsmittel einer bestimmten Spezifik, der Aufrichtigkeit und der Echtheit. Das heißt, ungeachtet der unterschiedlichen Ausgangsprämissen der Künstler, in deren Schaffen die Sprache der primitivistischen Kunst entstand und sich weiterentwickelte, bildeten sich eine allgemeinverständliche Stilart und allgemeinverständliche Sprache heraus. Diese gemeinsame Sprache integrierte die Darstellungsweisen, die den verschiedenen Kulturen eigen sind. Dies ist ein Beispiel der Entfaltung der Logik der dialogischen Beziehungen.

Und zum Schluss: Wie ich schon ausgeführt habe, waren die Ergebnisse des interkulturellen Dialogs im letzten Jahrzehnt des XX. Jahrhunderts vielversprechend. Ob wir jetzt über Dialog sprechen können? Und in welchem Sinn? Der Dialog ist keine idealisierte Situation, sondern die Logik der Entfaltung der kulturellen Wechselwirkungen überhaupt. Auf verschiedenen Ebenen. Der Gegenstand und die Koordinaten des Dialogs sind in der gegenwärtigen Situation noch nicht klar. Man kann vermuten, dass eine neue kulturelle Etappe mit der Formierung der neuen Probleme und der neuen Themen der kulturellen Wechselwirkungen verbunden ist. Das heißt, die Koordinaten, in denen der Dialog in den nächsten Jahren geführt wird, werden bestimmt und präzisiert.

© Elena Bogatyreva (Moskau)

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ANMERKUNGEN

(1) Bachtin M.M. Problema texta v lingvistike, filologii i drugih gumanitarnyh naukah. Opyt filosofskogo analisa// Bachtin M.M. Estetika slovesnogo tvorthestva. Moskva, 1986. S.310.

(2) Bachtin M.M. Slovo v romane// Bachtin M.M. Voprosy literatury i estetiki. Moskva, 1975. S.76.

(3) Bachtin M.M. Problema sodershanija, materiala i formy v slovesnom hudoshestvennom tvorthestve // Bachtin M.M. Voprosy literatury i estetiki. Moskva, 1975. S.25.

(4) Bachtin M.M. Slovo v romane// Bachtin M.M. Voprosy literatury i estetiki. Moskva, 1975. S.97.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Elena Bogatyreva: Die Besonderheiten des kulturellen Dialogs um die Wende des XX. Jahrhunderts". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/bogatyreva13.htm.

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