Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2003

Auf der Schwelle von Natur und Kultur in Trakls Abendland

Hartmut Cellbrot (Herford/Deutschland)

Dem Gedicht Abendland wird geradezu eine paradigmatische Bedeutung für das Geschichtsverständnis einer ganzen Epoche zugeschrieben. In ihm komme die Auffassung von der abendländischen Geschichte als ein fortschreitender Verfallsprozeß zum Tragen, wie sie von vielen Vertretern der kultur- und zivilisationskritischen Strömung des Expressionismus geteilt wird.(1) Indes gilt es hierbei darauf aufmerksam zu sein, inwieweit aufgrund der Topographie des dichterischen Feldes die berufenen kulturellen Ordnungen von solchen der Natur derart durchdrungen werden, daß die Bereiche von Natur und Kultur nicht durch feste Grenzen voneinander zu scheiden sind; vielmehr sind sie vorgängig miteinander verspannt, gehen ineinander über und überkreuzen sich. Im Folgenden soll dieses über die einläßliche Interpretation der Eingangsverse von Abendland näher aufgezeigt werden. Sie lauten:

Abendland

Mond, als träte ein Totes
Aus blauer Höhle,
Und es fallen der Blüten
Viele über den Felsenpfad.
Silbern weint ein Krankes
Am Abendweiher,
Auf schwarzem Kahn
Hinüberstarben Liebende.

[...](2)

I

Bereits das artikellose Nennen des Substantivs in der Überschrift fächert den Bedeutungsspielraum von Natur und Kultur vielgestaltig auf. Abendland beruft zum einen historisch weit ausgreifend die aus der Verbindung von griechisch-römischer Antike und Christentum hervorgegangene europäische Kultur wie deren geographische Ausbreitung in Europa(3), zum anderen, zeitlich umgrenzt, Natur zur Abendzeit. In der Spannung von Wörtlichkeit und Bildlichkeit verschränken und durchdringen sich wechselseitig unterschiedliche Zeiten und Räume, Mythisches, Menschliches und Nichtmenschliches, mithin Natur- und Kulturhaftes - Bereiche, die sich nicht in eine alles umfassende Ordnung einfügen lassen. Die Wörtlichkeit von "Abendland" im Sinne von 'Land zur Abendzeit' bzw. 'Abendlandschaft'(4), die gleich der erste Vers evoziert und die bis zum Gedichtausgang anwesend bleibt, ist in der ersten Strophe mit Bildern des Kranken, Toten und der Trauer verflochten, die sich unter der Optik 'Kultur des Abendlandes' als deren Deutung lesen lassen, wobei offen bleibt, ob sie sich auf deren Beginn oder Ende oder auf sie als Gesamtgeschehen beziehen.

Das Gedicht setzt ein mit der unmittelbaren Ansprache "Mond". In exponierter Stellung am Gedichtanfang und artikellos wie die Überschrift nimmt das Abend- und Nachtgestirn somit gleich den Bezug zu "Abendland" als Naturlandschaft auf. Syntaktisch eine Ellipse bildend und durch ein Komma vom Nachfolgenden abgetrennt, widersetzt es sich einer näheren zeitlichen und räumlichen Bestimmung. Diesem Offenen, dem zugleich eine Fülle innewohnt, da ihm ein Überschuß an Bedeutung wie an Verweisungsmöglichkeiten eignet, sucht das folgende Sprechen in einem ersten Anheben zu entgegegnen. Der nach einer Zäsur beginnende konjunktivische Vergleichssatz "als träte ein Totes / Aus blauer Höhle" kann als ein im Modus des Als-ob gehaltenes Aussprechen dessen, was "Mond" besagen will, verstanden werden. Der vollständige irreale Vergleichssatz würde dann, obzwar bildlich aufgeladen, so doch die freie Positionierung von "Mond" auf ein gewisses Ordnungsgeschehen rückwirkend eingrenzen. Indem "Mond" verglichen wird mit dem Heraustreten von etwas "Tote[m]" "Aus blauer Höhle" käme dem "Totes / Aus blauer Höhle" ein metaphorische Tendenz zu, die die Buchstäblichkeit von "Mond" nicht nur bekräftigte, sondern ihr auch mit dem Attribut der finiten Bewegung des Heraustretens eine raum-zeitliche Koordinate hinzufügte. Das Heraustreten wäre in einer ersten Lesart einer normalstimmigen Orientierung in dem Bedeutungsumkreis von Erscheinen des Mondes am Abendhimmel anzusiedeln.

Der Vergleichssatz nimmt aber ebenso deutlich eine Wertung bzw. Umwertung vor, die "Mond" in eine Bildlichkeit taucht. Dies geschieht durch eine Verschränkung, der eine solche von Wörtlichkeit und Bildlichkeit, Sinnlichem und Nichtsinnlichem, Metaphysischem und Physischem einhergeht. Die kosmische Weite des Himmels, seit jeher Ort und Zeichen uneinholbarer Ferne, Wohnsitz der Götter und Garant metaphysischer, und das heißt entworfener menschlicher kultureller Ordnungen, kehrt sich um zu der dichten erd- bzw. gesteinsharten Abgeschlossenheit einer "Höhle". Darüber hinaus ist, vermittelt über das Farbadjektiv blau, dessen sinnlich wahrnehmbare Seite betonend, die Phänomenalität von Himmel in "Höhle" mit anwesend, was infolge der isolierten Stellung von "Mond" noch verstärkt wird. Mitten im Vergleichssatz zeigt sich der Bereich des Verglichenen; es entsteht eine Verschränkung der Vergleichsglieder. Das Vorzeichen des Irrealis schwächt sich ab und "Höhle" gerät in eine unvermitteltere Nähe zum implizierten Himmelsraum. Dieser selbst wird sowohl mit "blaue Höhle" verglichen als er auch immer schon diese buchstäblich ist, aus der der Himmelskörper "Mond" als "ein Totes" heraustritt. Dem Himmel wächst gleichsam nichtmetaphorisch der Höhlencharakter zu; andererseits lichtet sich der Höhlenraum qua "blau[..]" auf, was die Zeilenbrechung unterstreicht. Als selbständiger Vers deutet "Aus blauer Höhle" gleichermaßen auf "Mond" und "ein Totes".

Den Verhöhlungsaspekt akzentuierend, verschließt sich der ins Unendliche weisende offene Kosmos und damit die Möglichkeit einer metaphysischen Orientierung wie auch ein am Sternenlauf geknüpftes Zeitgeben, Voraussetzung allen Lebens. Dergestalt losgelöst von allen umgreifenden kosmischen Ordnungs- und Sinnzusammenhängen ist "Mond" allein noch "ein Totes".(5)

In dem Farbwert 'blau' überkreuzen sich demnach Vergleich und Verglichenes, ohne daß beide Glieder sich anzugleichen vermochten und zur vollkommenen Deckung kämen. Das Erdhafte und das Kosmische durchgehen einander so, wie das wörtliche und bildliche Sprechen sich miteinander verschränken. Einen Kreuzungsort einnehmend, stellt das Farbwort zugleich einen ausgezeichneten Feldort vor, indem es die Dimension bildet, die in Gestalt eines fortwährenden Differenzgeschehens Kosmisches und Erdhaftes derart durchgreift, daß sie beide Bereiche sowohl umgreift als auch scheidet. Der Farbwert 'blau' trennt und verbindet beide Bereiche gleichermaßen, in dem einen ist der andere immer schon mit anwesend, weil er selber in keinem von ihnen ganz aufgeht. Weder 'Himmel' noch 'Höhle' ganz zuordbar, behält der Farbwert einen nicht weiter ableitbaren Eigenstand, eine Tendenz zur Wörtlichkeit, die "Höhle" mit ergreift, so daß die Konjunktion "blaue Höhle" eine sinnliche Präsenz gewinnt, die allerdings das, was sie gegenwärtigt, offen läßt. "blaue[..] Höhle" fungiert und figuriert jetzt im ganzen als der Ort des Übergangs, als eine Schwelle, die zugleich eine Zwischensphäre darstellt, in der sich 'Himmel' und 'Erde' begegnen und wechselseitig durchgehen.

Die ins Kosmische deutende Dauer der Abendzeit verhärtet sich zu einer felsigen Höhle wie umgekehrt der erdhafte oder felsige Innenraum eine ätherische Transparenz gewinnt. Die Abendzeit verräumlicht sich, rollt sich gleichsam in den Höhlenraum zusammen, während dieser sich zum Firmament entfaltet.

In topographischer Hinsicht bezeichnet "blaue[..] Höhle" eine wesentliche Paradoxie, die darin besteht, zugleich innerhalb der Welt und außerhalb der innerweltlichen Dinge, sie umfassend, als das alles Innerweltliche Umschließende zu sein. Denn infolge der doppelten Position, die "blaue[..] Höhle" einzunehmen vermag - einmal die des Himmelsgewölbes zum anderen die der buchstäblichen Höhle - bedeutet das erdhafte Innen zugleich ein Draußen. Das Umfangende, das das Bedeutungsfeld 'Mond und Abendhimmel' darstellt, wird ebenso umfangen, wie das Umfaßte der Höhle selbst umfaßt. In dieser paradoxen Struktur, wo ein Drinnen und ein Draußen sich wechselseitig umgreifen und durchdringen, sind die Grenzen zwischen drinnen und draußen flexibel.

Das Entscheidende hierbei ist, daß es keinen direkten Weg von drinnen nach draußen und umgekehrt von einer Außenwelt zu einer räumlichen Innenwelt gibt, und daß diese Bereiche außerhalb des paradoxen Differenzierungsgeschehens nicht für sich bestehen. Vielmehr handelt es sich hier um eine feldhafte Verspannung des Gegensätzlichen im Übergang, wie sie immer wieder als eine Grundstruktur des Traklschen Gedichtfeldes beobachtet werden kann. An dieser paradoxen Kreuzungsstruktur wird zudem äußerst sinnfällig, wie Trakl hier das vorstellende Denken und Wahrnehmen auf dem Weg des strukturellen Vollzugs verabschiedet. Wie sich Wörtlichkeit und Bildlichkeit nicht mehr trennen lassen, sie aber auch nicht miteinander verschmelzen, vielmehr im Gedichtfeld in der vorgängigen Beziehung einer Inkommensurabilität zueinanderstehen, wodurch der Übergang des einen zum anderen die Form einer Schwelle behält oder in der Weise einer Wendung oder Drehung geschieht, so läßt sich das im Gedicht zur Sprache Gelangende auch nicht von einem Standpunkt außerhalb in den Blick nehmen. Dementsprechend wird der Leser in den sich ständig kehrenden Differenzierungsprozeß mit hineingezogen. Weder der Leser noch ein im Gedicht zur Sprache kommendes Ich vermag daher die Position eines Kosmotheoros einzunehmen, von wo aus sich der Textsinn bzw. die von diesem intendierte Welt überblicken ließe.

Mit der Gestaltung der flexiblen, wandernden Grenzen, die sich zu überkreuzen vermögen und dadurch drinnen und draußen, Kosmisches und Erdhaftes wechselseitig einbilden, verschwindet auch die Möglichkeit der metaphorischen Bedeutungsübertragung einer Seinsart auf die andere und damit die einer metaphysischen Zweiweltenscheidung, sei es die von Sinnlichem und Nichtsinnlichem oder Zeitlichem und Ewigem.

Da sich die Abendlandschaft, wie sie sich bisher zeigt, dem vorstellenden Blick eines Betrachters, d. h. eines Subjekts, entzieht, geschieht hier wie in vielen anderen Gedichten eine Entsubjektivierung, der eine Entobjektivierung korrespondiert.

Erkennbar wird, daß und wie sich in den ersten beiden Versen infolge des Feldcharakters ein Rückgang hinter den im abendländischen Denken geschichtlich gewordenen Subjekt-Objekt-Gegensatz, dem das vorstellende Denken entspricht, zugunsten eines vorgängigen Differenzierungsprozesses vollzieht, innerhalb dessen sich erst so etwas wie Dinglichkeit und räumliche Ordnungsformen abheben; aber so, daß sich die Raum-Ding- und auch Zeitbezüge in wechselnden Konstellationen untereinander herausbilden. Der Primat der feldhaften Bezugsstruktur bewirkt gleichsam eine kopernikanische Wende, die den Standpunkt des Betrachters in die Feldbewegung mit hineinnimmt. Dem dergestalt auf dem Wege der Umkehrung und der Verschränkung zur Sprache Gelangenden eignet ein Schwellencharakter, der das Sein selbst betrifft. Denn das, was die Verse zu verstehen geben, vermögen sie auch hier wieder nur in der Weise einer wechselseitigen Überlagerung und Überkreuzung von Bezugsmöglichkeiten, die nach Maßgabe ihrer jeweiligen Realisation unterschiedliche Ordnungsaspekte erscheinen lassen.

 

II

In Abendland setzt sich die Wirkung der schwellenförmigen unfesten Grenzen auf die Seinsweise und die topographische Ortung des Gesprochenen im Nachfolgenden fort. Der mit der Konjunktion "Und" eingeleitete Hauptsatz "Und es fallen der Blüten / Viele über den Felsenpfad" übt Rückwirkungen auf den vorhergehenden Vergleich aus. Das Felsige der Abendlandschaft akzentuiert sowohl das Buchstäbliche der Höhle, indem es diese in eine erdhafte Umgebung einbettet, als es auch umgekehrt das Höhlenförmige des Abendhimmels fortschreibt, indem der "Felsenpfad" den Bereich grundiert, über den "Mond" "Aus blauer Höhle" heraustritt. Damit verschiebt sich der Umfang der räumlichen Dimension von "Höhle" hinsichtlich der Lesart 'Himmelsgewölbe'.

Im Unterschied zu der Verschränkung von 'Höhle' und 'Himmel', wie es die beiden Anfangsverse vorgeben, deckt 'Höhle' auf dieser Bildebene nicht mehr das ganze Firmament ab. Die wörtliche Bedeutung beginnt zu überwiegen und setzt sich durch. 'Höhle' ist jetzt der verborgene Ort, aus dem "ein Totes" hervorkommt in ein Draußen. Gleichwohl bleibt der Bezug zu "Mond" und Abendhimmel bestehen, doch wird die Zahl der Relationsglieder erweitert, so daß sich zusätzliche Anschluß- und Verbindungsmöglichkeiten ergeben. Die felsige Landschaft zusammen mit der Höhle als deren Bestandteil belegt nun - von der Bildebene des irrealen Vergleichsatzes aus gelesen - den Himmel mit der Qualität des undurchdringlich Harten. Das Fallen der "Blüten" "über den Felsenpfad" läßt sich in Fortführung der anfänglichen Verschränkung mit einer unbestimmt großen Anzahl schimmernder Sterne in Verbindung bringen, wenn auch die Isotopie zwischen intendiertem Sternenhimmel und den "Blüten" sich nur lose herstellt.

Parallel hierzu und in einer Spannung zu dieser Bildebene konturiert sich aber auch die Felsenlandschaft deutlicher. Deren indikativer Modus hebt zum Teil wieder die Überkreuzung von "Mond" am Abendhimmel und "Höhle" auf. Die fallenden Blüten im Dunkel der Abendzeit berufen unwillkürlich eine Helle, in der sie sichtbar werden. Der Vorgang des Blütenfalls kann verstanden werden als das Aufleuchten niederschwebender Blüten in dem Augenblick, da der Mond sich zeigt und sein Schein die Erde trifft. Die koordinierende Konjunktion "Und" würde dann "Mond", 'fallende Blüten' und "Felsenpfad" einander zuordnen und das stimmige Bild einer Abendlandschaft evozieren, die sich zudem zusätzlich jahreszeitlich eingrenzte.

Es bleibt indes eine Abweichung bestehen, die die Kohärenz der Bildebene wiederum überschreitet. Die "Blüten" sind zwar in ein Landschaftsbild in der genannten Weise integrierbar, doch bewahrt das 'Fallen' in kausaler wie temporaler Hinsicht eine fragwürdige wie rätselvolle Mehrdeutigkeit. Temporal gesehen, ist es unbestimmt, ob das Niederfallen der Blüten erst mit dem Leuchten des Mondes einsetzt oder schon andauerte, ehe der Mond erschien. Die erste Lesart ergäbe eine untergründige kausale Beziehung zwischen dem Mondschein und der Fallbewegung derart, daß das aufgehende Mondlicht in einer sachlogisch nicht weiter zu beschreibenden Weise das Niederfallen auslöste.

Das Widerständige in dieser verdeckten Korrespondenz lockert zugleich den Bezug und motiviert eine andere Bildebene und einen neuen Ordnungszusammenhang, der das Beziehungsgeflecht der ersten vier Verse abermals wandelt, sobald die den Vorgang des Blütenfalls einleitende Konjunktion "Und" nicht in erster Linie in ihrer verbindenden Funktion gesehen, sondern als Zeichen eines erneuten Anhebens des Sprechens aufgefaßt wird, das das Heraustreten von "ein Totes" reflektierend aufnimmt und sich auf das unmittelbare Ansprechen von "Mond" wieder bezieht.

Die fallenden Blüten lassen sich mit Totem konnotieren, sofern sie ihrer natürlichen Bestimmung, zu Früchten zu werden, verlustig gegangen sind. Darüber hinaus ist in ihnen vermittelt über "ein Totes" "Mond" bzw. Mondschein mit anwesend. Das Geschehen reflektiert die Verschränkung von "Mond" und "Totes / Aus blauer Höhle", indem Vergleich und Verglichenes in "Blüten" als einer neuen Qualität aufgehen. Der Vorgang der fallenden Blüten draußen vor der Höhle wäre dann sowohl das Resultat des Heraustretens als mit ihm auch ein erneutes Sprechen anhebt, das dem elliptischen Nennen von "Mond" zu entsprechen trachtet.

 

III

Da "Mond" aufgrund der isolierten verblosen Positionierung sich einer räumlichen und zeitlichen Zuordnung widersetzt wie semantisch der Scheidung in Wörtlichkeit als Naturding und Bildlichkeit als Zeichen für die Kultur des Abendlandes vorausliegt, eignet "Mond", worauf eingangs bereits aufmerksam gemacht worden ist, ein Überschuß an Bezugsmöglichkeiten, in deren Fülle sich ein Anspruch formuliert, der das lyrische Sprechen auslöst und dem es zu antworten und zu begegnen sucht. Der irreale Vergleichssatz "als träte ein Totes / Aus blauer Höhle" stellte den ersten Versuch eines Antwortens auf dasjenige vor, was in der Fülle des anfänglichen unmittelbaren Ansprechens von "Mond" erfahren wird. Vom antwortenden Sprechen aus betrachtet, bedeutet die Fülle aber auch zugleich eine Leere, die es erst ermöglicht, daß der Vorgang des Hervorkommens rückwirkend auf "Mond" überzugreifen und dort einen Anhalt zu finden vermag.

Der konjunktivische Modus des Vergleichssatzes würde hingegen wieder die unvermittelte Fülle des Anspruchs "Mond" betonen, die es zunächst nur erlaubte, indirekt zu antworten. Mit dem sodann einsetzenden indikativische Hauptsatz erfolgte ein weiterer Versuch des Entgegnens. Der Reflexivität dieser Struktur kommt hier durchaus eine Dialogizität zu, die indes nach beiden Seiten hin asymmetrisch verfaßt ist. Eine derartige Dialogstruktur hebt sich auf dieser Betrachtungsebene ab, sobald der Anspruch seinerseits als ein Antworten verstanden wird. Denn unter dem Aspekt der semantischen wie syntaktischen Unbestimmtheit motiviert er nicht nur das nachfolgende Sprechen, sondern wird gegenläufig von diesem derart angereichert, daß die Bestimmungen, die er in der Lage ist aufzunehmen, zurückstrahlen auf die Folge der Antworten. Sieht man diese widerwendigen Beziehungsmöglichkeiten des dichterischen Feldes zusammen, so überkreuzen sich Anspruch und Antwort wie Leere und Fülle wechselseitig. Vom semantischen Überschuß des Anspruchs "Mond" aus betrachtet, ist das Antworten immer unzulänglich und nachträglich; es ist prinzipiell außerstande, ihm restlos zu entsprechen und ist daher zu wiederholten Ansätzen genötigt. Andererseits zeigt sich die Fülle im Anspruch erst rückwirkend über die Summe der zur Sprache gelangenden Antworten. Die Dichte des Beziehungsfeldes konstituiert den semantischen Reichtum von "Mond" und das ist nur aufgrund der anfänglichen unbestimmten semantischen Leere möglich. Umgekehrt zeigt sich "Mond" in der Position einer nicht unmittelbar sagbaren Fülle, der das Gedicht in immer neuen Ansätzen Sprache zu verleihen sucht.

Es ist offenkundig, daß die Rede von der inneren Dialogizität der Gedichtstruktur nur einen Teilaspekt berührt. Denn tatsächlich handelt es sich angesichts des ganzen Gedichtfeldes nicht allein um eine Dialogstruktur, vielmehr um einen Polylog(6), um eine Vielstimmigkeit, in die Natur und Kultur, Menschliches und Nichtmenschliches - was insbesondere die ausstehenden Verse erweisen - gleichermaßen einbezogen sind.

Die möglichen Lesarten des Satzes "Und es fallen der Blüten / Viele über den Felsenpfad" machen deutlich, wie dieser auf unterschiedliche Weise dem Gesprochenen der ersten beiden Verse antwortet und wie hierbei die verschiedenen Antworten von dem, worauf sie sich beziehen, wiederum Rückwirkungen erfahren, die das Sagen im Fortgang des Gedichts erneut anheben lassen. Der Begriff des Polylogs, wie er jetzt Verwendung findet, soll stärker als der ebenfalls verwendete Begriff der Reflexivität den dynamischen Aspekt der Feldstruktur akzentuieren. Denn das Dia- bzw. Polylogische streicht das mit dem Anspruchscharakter verbundene Moment der uneinholbaren Differenz oder Kluft zwischen Anspruch und Antwort heraus. Diese wesentliche Differenz ist Ausdruck davon, daß sich Anspruch und Antwort von keiner übergreifenden Ordnung abdecken lassen.

Das mag ein abermaliger Blick auf den Vorgang der fallenden Blüten in einer weiteren Hinsicht verdeutlichen. In der zuletzt aufgewiesenen Verbindungsmöglichkeit gab er sich als ein solcher zu erkennen, der in einem Draußen vor der Höhle vonstatten geht. Nach dieser Lesart ist er sowohl das vorläufige Resultat des Heraustretens als mit ihm auch ein erneutes Sprechen anhebt, das dem elliptischen Nennen von "Mond" entgegnet. Das Entsprechende liegt zunächst darin, wie gezeigt worden ist, daß die "Blüten" als niederfallende auf die Verschränkung von Vergleich - "ein Totes / Aus blauer Höhle" - und Verglichenem - "Mond" - zu antworten vermögen, indem das mit "Blüten" konnotierbare Verwesen bzw. Tote - sie können keine Früchte mehr hervorbringen - an "ein Totes / Aus blauer Höhle" anknüpft. Über den Vergleich vermittelt, ist zwar "Mond" mit gegenwärtig, aber eben unter dem Aspekt von Totem. In dieser Konstellation tritt der Irrealis des Vergleichs zugunsten einer indikativischen Präsenz zurück. Den "Blüten" verbleibt in dieser Feldauflichtung eine Wörtlichkeit, in die indes das Geschehen der Verschränkung mit eingegangen ist. Der Vorgang der fallenden Blüten erhält sich buchstäblich und doch weist er über sich hinaus auf ein hervorkommendes "Totes", mit dem "Mond" verglichen wird.

Festzuhalten ist, daß die "Blüten" in ihrer sinnlichen Konkretion bestehen bleiben, aber sie geraten hier unter die Optik ihres Abgestorbenseins, das das Fallen auf den unfruchbaren harten Grund des Felsenpfades bekräftigt.

Eine Änderung des Beziehungsfeldes stellt sich ein, sobald der Ort, von wo aus der Blütenfall seinen Ausgang nimmt, bedacht wird. Dieser Ort enthüllt sich als einer der Leere. Dessen Unbestimmtheit evoziert eine Offenheit und Weite, wodurch sich der Einsatz der Fallbewegung in den Himmelsraum hinein verlängert. Die fallenden Blüten stiften so eine Beziehung zwischen Himmel und Erde, derzufolge sie unmittelbar dem Hervortreten von Mond zu entgegnen vermögen. In dieser Beziehungsänderung verbindet sich der Aspekt von "ein Totes" in "Mond" mit den fallenden Blüten. Der Himmelskörper Mond wird jetzt zum Ausgangsort der Fallbewegung. Dadurch vermögen die Blüten das blasse Licht von Mondstrahlen zu konnotieren, wie diese in dem Augenblick, da "Mond" hervortritt, vielfach gebrochen "über den Felsenpfad" niederscheinen. Im Hinblick auf den unbestimmten Ausgangsort ihres Herkommens sind die Blüten nun selbst Mondstrahlen, die, sich zerstreuend, wie fallende Blüten aussehen und nicht mehr nur Blüten, die vom Mond beleuchtet werden. Aber auch in diesem Feldzusammenhang behalten die Blüten ihren buchstäblichen Eigenstand, der allerdings nun mit der Nebenbedeutung 'Mondstrahlen' semantisch angereichert ist, wobei die unterschiedlichen Auflichtungen die Raumkoordinaten einschneidend verändern.

 

IV

Der indikativische Vorgang der fallenden Blüten antwortet damit in einem erneuten Anheben auf das Nennen von "Mond", indem er als Resultat des Heraustretens aus "blauer Höhle" sowohl die Präsenz eines sinnlichen Blütenfalls gegenwärtig hält, als auch das Leuchten des Mondes aufzunehmen vermag, als auch - und das ist der dritte Aspekt - vermittelt über "ein Totes" in die Abendlandschaft eine Deutung der kulturgeschichtlichen Dimension von "Abendland" einschreibt. Die Blüten eröffnen mit ihrer Fallbewegung eine Zwischensphäre, in der sich vertikal Kosmisches und Erdhaftes aufeinander beziehen wie durchdringen und die zugleich wertend abendländische Geschichte als eine anfängliche Verfallsbewegung evoziert.

Letzteres ermöglicht der semantische Überschuß in dem Vergleichssatz "als träte ein Totes/ Aus blauer Höhle", der auf den Blütenfall überzugreifen vermag, da sich in "blaue Höhle" Kosmisches und Erdhaftes durchgehen, ohne in einem der beiden Bezugsmöglichkeiten ganz aufzugehen.

Die Verflechtung von Kosmischem, naturhaft Erdhaftem und kulturgeschichtlicher Verfallsbewegung verweisen wechselseitig aufeinander. Hierbei vermag keines zum Zeichen des jeweils anderen zu werden, weil sich die Realisierung eines der Aspekte bzw. Sinnzusammenhänge jeweils über die Auflichung unterschiedlicher Kontexte vollzieht, die stets auf dem Hintergrund der Verdeckung anderer statthaben.

Infolge der Verschränkung gewinnt "blaue Höhle" einen Eigenwert, wodurch sie frei wird, einen Ort einzunehmen, von dem aus "ein Totes" in der doppelten Bedeutungsauflichtung von "Abendland" hervortritt. "blaue[..] Höhle" ist unter der jetzigen Feldoptik in gewisser Weise die Dimension, die allen raum-zeitlichen wie kulturell konnotiertenVerortungen vorausliegt. Sie ist gleichsam der semantisch-ontologische Quellort, aus der die Geschichte des Abendlandes, Mythologisches und die Abendlandschaft erst hervorgehen.

In einer etwas anderen Akzentuierung vermag der in Frage stehende Sachverhalt wie folgt verdeutlicht zu werden: Der konjunktivische irreale Vergleichssatz "als träte ein Totes / Aus blauer Höhle" läßt sich - räumlich gesehen - zwei entgegengesetzten Sphären zuordnen, ohne daß der Ort der "Höhle", ebenso das daraus hervortretende "ein Totes", für sich genommen letztlich zu lokalisieren wäre, vielmehr bildet er mit seinem uneinholbaren Bedeutungsüberschuß den puren Kreuzungsort oder Nicht-Ort der Abendlandschaft, ohne selbst Bestand dieser zu sein. Die "blaue[..] Höhle" ist dasjenige, das die Verschränkung ermöglicht, ohne selbst Teil der sich überkreuzenden Raumdimensionen zu sein. Dadurch überschreitet auch "ein Totes" die räumliche Topographie der Abendlandschaft.

Hinsichtlich der Bezugsstruktur von Wörtlichkeit und Bildlichkeit, von Abendlandschaft und Abendländischem in Abendland ist es nun bedeutsam, daß der Übergang von Wörtlichkeit zur Bildlichkeit an dem schwellenförmigen Kreuzungsort "blaue Höhle" statthat, wo er als ein fortwährendes Interferenzgeschehen "ein Totes" miterfaßt, so daß dessen Hervortreten sowohl auf den nicht selbst leuchtenden Himmelskörper als auch auf die abendländische Kultur als eine anfängliche Verfallsbewegung verweist. "blaue Höhle" bildet hier den nicht zu verortenden Umschlagort zwischen Natur und Kultur.(7)

 

V

Unter der Optik der Überschrift Abendland stellt "Mond" zweifellos einen Feldort vor, von dem eine starke semantische Gravitationskraft ausgeht. Die Feldzusammenhänge ändern sich indes in einem nicht unbeträchtlichen Maße, sobald, wie gezeigt, das Augenmerk auf "blaue[..] Höhle" gerichtet wird. Insofern sich nun in "blauer Höhle" Himmel und Erde in der aufgewiesenen Weise eines Chiasmus durchgehen und hierbei "Aus blauer Höhle" zusätzlich eine temporale Schwelle darstellt, von der "ein Totes" hervortritt, das sowohl auf den Himmelskörper "Mond" als auch auf den Anbruch der abendländischen Geschichte als Totgeburt verweist, mithin auf ein schon im Entstehen untergegangenes Abendland, eignet dem ganzen irrealen Vergleichssatz ein mehrdimensionaler Schwellencharakter. So gesehen erweist sich die Schwelle nicht nur als Umschlagstelle zwischen Natur und Kultur, sondern auch als eine Art Niemandsland, das weder eindeutig der Natur noch eindeutig der Kultur zugeordnet werden kann.(8) Die hieraus erwachenden polyvalenten Ordnungsmöglichkeiten belegen, wie aufgrund der spezifischen Topographie des dichterischen Feldes bei Trakl, das Ordnungen hervortreibt, ohne selbst in eine zu passen, die Bereiche von Natur und Kultur nicht durch feste Grenzen voneinander zu scheiden sind. Anstelle eindeutiger Grenzlinien, die zwischen Natur und Kultur gezogen werden könnten, existieren Schwellen und Kreuzungsorte flexibler, wandernder Grenzzonen, wo sich die Bereiche der Natur und Kultur in wechselnden Konstellationen ordnen und gegenseitig durchdringen, ohne ineinander aufzugehen. Durch die dynamischen Übergangsbewegungen von Natur- und Kulturhaftem entstehen polyloge Strukturen, die von keiner übergreifenden, alles umfassenden Ordnung abgedeckt werden können.

© Hartmut Cellbrot (Herford/Deutschland)

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ANMERKUNGEN

(1) Bei Georg Heym ist die Apokalypse der modernen Zivilisation nachgerade das dominierende Thema. Zum Bezug zu Trakls Abendland vgl. Heinz Rölleke, Zivilisationskritik im Werk Trakls, in: Text und Kritik, Heft 4/4a, Georg Trakl, Mai 1985, S. 67-78.

(2) Georg Trakl, Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar, 2 Bde., Salzburg 1969, Bd. 1, S. 139.

(3) Wörtlich meint Abendland bekanntermaßen die westlichen Länder vom alten Italien aus gesehen, den Okzident; im Gegensatz zum Morgenland, dem Orient. Daß für die Herausbildung der Kultur Europas arabische Einflüsse eine gewichtige Rolle spielen, kann hier vernachlässigt werden, da sich die allgemeinsprachliche Verwendung von Abendland in erster Linie auf den griechisch-römischen Kontext bezieht.

(4) Das in der Lyrik besonders seit der Romantik reich bezeugte Motiv der Abendlandschaft stellt wie bei Eichendorffs gleichnamigem Gedicht häufig einen Naturraum vor, an dem sich Immanenz und Transzendenz, Anwesendes und Abwesendes durchgehen, ohne jedoch die kulturgeschichtliche Dimension mit aufzulichten. Dieser Ort wird späterhin noch eindringlicher als schon bei Eichendorff zu einem des Zwielichtes und der Grenze, an welchem dem Menschen sein zweideutiges Wesen, weder ganz der Natur noch einem Reich der Transzendenz anzugehören, offenbar wird, wie es beispielsweise Rilkes Gedicht Abend sagt.

(5) Zum anderen weist "ein Totes" darauf, daß der Mond ein nicht selbstleuchtendes Gestirn ist.

(6) Hier ließen sich Linien zu Bachtins Überlegungen zum polylogischen Charakter schon des einzelnen Wortes in der Rede ziehen, in dem sich Eigenes und Fremdes durchdringen. Vgl. Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hrsg. von R. Grübel, Frankfurt a. M. 1979.

(7) Das nachfolgende "Und" wiederum, das die Buchstäblichkeit der Abendlandschaft mit der kulturkritischen Bewertung von Abendland aufeinander bezieht, hat selbst die Form eines Chiasmus, da die verschiedenen Auflichtungen - die räumlichen wie die kulturgeschichtliche - auf dem Wege der wechselseitigen Verdeckungen erfolgen. Die Topographie der Verse stellt sich infolgedessen als ein komplexes Raum-Zeit-Feld dar, in dem flexible sich überkreuzende Grenzen wirksam sind.

(8) Vgl. Bernhard Waldenfels, Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, hg. vom Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum, Göttingen 2001. Waldenfels ortet den Menschen als das Schwellenwesen, an dem sich Natur und Kultur durchdringen. Vgl. S. 107ff.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Hartmut Cellbrot (Herford/Deutschland): Auf der Schwelle von Natur und Kultur in Trakls Abendland. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/cellbrot14.htm.

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