Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. April 2003

Wird die Suche nach Identität zum Mittel, Orientierung in der Welt zu finden?

Der Fall von Robert Musil und Joseph Roth

Larissa Cybenko (Lviv/Lemberg)

 

 

Die hervorragendsten österreichischen Romanciers der Zwischenkriegszeit - Robert Musil (1880 - 1942) und Joseph Roth (1894 - 1939) - verbindet viel. Sie waren Landsleute und Zeitgenossen. Ins Zentrum ihrer schöpferischen Intentionen geriet die Österreichisch-Ungarische Monarchie kurz vor dem bevorstehenden Untergang, die beiden schufen ihr faszinierendes Gemälde, wurden aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter breiten Leserkreisen in der ganzen Welt bekannt. Mehr aber gibt es davon, was sie in eine große Distanz zueinander bringt: sie schrieben, wie Roths Biograph Helmut Nürnberger bemerkt, "mit ganz unterschiedlichen Wahrnehmungsabsichten und ebenso unterschiedlichen Stilmitteln."(1)

Besonders deutlich wird dieser Unterschied unter anderem hinsichtlich der Deutung solcher existentiell wichtiger Begriffe, wie des Charakters der einzelnen Person (im Sinne des individuellen Gepräges des Menschen durch das Milieu des Landes, in dem er geboren und aufgewachsen war), und ihrer Identität, welche diesen Charakter beeinflußt und für die selbst erlebte innere Einheit der Person unentbehrlich ist. Im "Kakanien"-Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften wendet sich Musil dem Begriff des Charakters eines Landesbewohners zu, der - im Sinne von Ernst Machs Philosophie - als sich ständig verändernde, fließende Substanz nie eine feste Form bekommen kann:

[...] es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.(2)

So weist Musil mit Hilfe der Metapher des schwer zu beschreibenden Raumes, der überall "anders gefärbt und geformt" ist, auf das Problem hin, den Charakter und dementsprechend die Identität des einzelnen Menschen zu definieren. Sie werden zu strategischen "Plastikwörtern", die mehrmals vorkommen, deren Sinn aber schwer zu fassen ist. Nur kurzweilig kann ein Charakter des Menschen, als auch seine Identität relativ stabil werden und zwar dann, wenn "viele Rinnsale" mehrerer Ingredienzien eine von ihnen "ausgewaschene Mulde" füllen. Zu dieser Erkenntnis kommt Musil infolge der Reflexionen über das Schicksal der von ihm mit "vivisektorischer Präzision"(3) abgebildeten k.u.k. Monarchie in der Zeit kurz vor der "Flucht in den Krieg" 1914-1918. Das habsburgische Österreich wird in seinem Hauptwerk zum negativen Weltmodell, dessen Erforschung mehrere Möglichkeiten aufweist. Eine von denen wäre, so Musil, die Wirklichkeit als Aufgabe und Erfindung zu behandeln, ohne festgelegten, starren Eigenschaften und eo ipso kreativ. Das Fehlen der festgelegten Eigenschaften hat aber das Fehlen der festen Bindungen und Sicherheit im Hintergrund, das zu einer der Dominanten des Geisteszustandes des Zeitalters der Moderne wird. Moritz Csáky bemerkt dazu:

Eine Kernfrage in Robert Musils Roman Der Man ohne Eigenschaften betrifft ohne Zweifel das Problem, ob und wie Identität überhaupt möglich bzw. zu erklären wäre angesichts permanenter Delegitimierungsprozesse, denen das Individuum in der Moderne ausgesetzt ist.(4)

Dieser Geisteszustand reicht bis in die heutige postmoderne Zeit, in der laut Jean-François Lyotard "die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung", mit deren Hilfe individuelle und kollektive Legitimierungen, die Konstruktionen von Identitäten stattgefunden hätten oder stattfinden sollten, "für den Großteil der Menschen selbst verloren ist".(5) Die Nähe zu Musils Betrachtungsweise spiegelt sich sogar im Vokabular der neusten Identitätsdeutungen. Man spricht heute - laut den Angaben der Widener Library in Harvard - nicht nur von nationaler, regionaler, ethnischer, religiöser, ethischer, moralischer, eschatologischer, sozialer, politischer, kultureller, künstlerischer und öffentlicher, sondern auch von privater, subjektiver, kollektiver, familiärer, weiblicher, männlicher, homosexueller, heterosexueller, relativer und absoluter Identität sowie den entsprechenden Begriffszusammensetzungen.(6) Musils Interpretation des Charakters und der Identität wird in Hinsicht auf die selbst erlebte innere Einheit des Menschen zu einem transparenten Zukunftsmodell. Sie werden stets angestrebt, bleiben aber relativ und können nie zu einem festen Gebilde werden. Eine entscheidende Rolle bekommt hier aber der Prozeß selbst, das Streben zur Wesenseinheit, dessen Prädikat die Identität wird, wenn sie auch nur erträumt oder erdacht ist. "Die Suche nach Identität wird zum Mittel, eine Orientierung in der Welt zu finden, die ihren herkömmlichen Horizont verloren hat"(7), schreibt Amy Colin in seinem Essay über Paul Celan.

Der "sozialistische Monarchist" Joseph Roth mochte Robert Musil den kalten Spott über das "Kakanien" nie verzeihen.(8) Denn genau sie, diese k.u.k. Monarchie, bildete bei ihm den herkömmlichen Horizont. Roths Herkunftsland war das österreichische Galizien, ein typisches pars pro toto des multikulturellen und mehrsprachigen Reiches, wo slawisch-deutsch-jüdische Elemente die Hauptrolle spielten. Das Zusammenwirken der Kulturen dieser Völker, die Fähigkeit, kulturelle Einflüsse gegenseitig wahrzunehmen, erwies sich hier als höchst produktiv, wovon die reiche literarische Landschaft Galiziens, zu welcher Literaturen in mehreren Sprachen gehören, zeugt. Das feste geistige Fundament dieser Gemeinschaft brachte das durch die gemeinsame historische und politische Situation im Rahmen eines Staates entstandene Gefühl der Zusammengehörigkeit und fester Bindung hervor. Das Ineinander vieler Völker und vieler Kulturen bildete trotz des verschiedenen Charakters der Landesbewohner und der heterogenen ethnischen Identität eine homogene nationale Wesenseinheit. Vom heutigen Standpunkt der Forschung ausgehend, könnte man sie als kollektive mitteleuropäische Identität bezeichnen. So spricht Moritz Czáky vom Paradigma Zentraleuropa, das dank der Gesamtheit mehrerer gemeinsamen Formen, die im Rahmen der Habsburger Monarchie entwickelt wurden (Fahnen, Wappen, Uniformen, Kaffeehäuser, Küche etc.) und dem von einer Vielfalt von Codes besetzten "kulturellen Gedächtnis" entstand.(9) Im Laufe von einigen Jahrhunderten der österreichischen Geschichte gewann dieses Paradigma Züge eines festen monolithen Gefüges, in dem sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der gemeinsamen Identität entwickelte. Gerade dieses Gefühl findet im Werk von Roth seinen Niederschlag und wird von ihm mit dem Zerfall der Monarchie nostalgisch umjubelt. So beschreibt er den Protagonisten der Novelle "Die Büste des Kaisers" (1935) den Graf Morstin, den er zu seinem Sprachrohr macht, als einen Vertreter der für ihn so wichtigen altösterreichischen Identität, die von den neuesten Geschehnissen der europäischen Geschichte gefährdet erschien:

In dem Dorfe Lopatyny also lebte der Nachkomme eines alten polnischen Geschlechts, der Graf Franz Xaver Morstin - eines Geschlechts, das (nebenbei gesagt) aus Italien stammte und im sechzehnten Jahrhundert nach Polen gekommen war. Der Garf Morstin hatte als junger Mann bei den Neuner Dragonern gedient. Er betrachtete sich weder als einen Polen noch als einen Aristokraten italienischer Herkunft. Nein: wie so viele seiner Standesgenossen in den früheren Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie war er einer der edelsten und reinsten Typen des Österreichers schlechthin, das heißt also: ein übernationaler Mensch und ein Adeliger echter Art. Hätte man ihn zum Beispiel gefragt - aber wem wäre eine so sinnlose Frage eingefallen? - , welcher "Nation" oder welchem Volke er sich zugehörig fühle: der Graf wäre ziemlich verständnislos, sogar verblüfft vor dem Frager geblieben und wahrscheinlich auch gelangweilt und etwas indigniert. Nach welchen Anzeichen auch hätte er seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener Nation bestimmen sollen? - Er sprach fast alle europäischen Sprachen gleich gut, er war fast in allen europäischen Ländern heimisch, seine Freunde und Verwandten lebten verstreut in der weiten und bunten Welt. Ein kleines Abbild der bunten Welt war eben die kaiser- und königliche Monarchie, und deshalb war sie die einzige Heimat des Grafen.(10)

Der Rothsche Held, der hier an die Stelle seines eigenen Alter Ego eintritt, kann den Verlust des "Hauses mit vielen Türen und vielen Zimmern",(11) wie er seine alte Heimat nennt, nicht verkraften. Die ethnisch multiple Identität eines Altösterreichers stellt er über alle "sogenannte nationale Tugenden".(12) So schafft er aus seiner Erinnerung ein ideales Österreich, eine retrospektive Utopie nationaler Toleranz. Es gab, wie die Geschichtsschreibung beweist, auch in Österreich-Ungarn mehrere Konflikte und Spannungen zwischen den einzelnen Völkern (Deutschen, Ungarn, Italiener, Slawen, Juden). Im Kontext der europäischen Geschichte Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gewann aber das von Roth geschaffene übernationale Ideal des alten Reiches eine besondere Bedeutung. "Die Errichtung der Habsburger Monarchie in Österreich", schreibt er in seiner Publikation "Statt eines Artikels" (1936), "werde die sichere Niederlage der nationalsozialistischen Ideologie bedeuten!"(13) Der Vielfältigkeit seiner alten Heimat stellt Roth die Bestialität des Nationalismus, dessen Höhepunkt der Nationalsozialismus war, gegenüber.

Zu der Zeit aber hat sein mentales Bild der Donaumonarchie die typischen Züge eines Mythos erreicht, das vom Gefühl der gebrochenen Identität und der nostalgischen Sehnsucht eine innere Stütze zu finden, begleitet wurde. Roths seelische Spaltung hatte aber tiefere Wurzeln. Das provinzielle Galizien, wo Roth 1894 geboren wurde, seine Kindheit und Jugend - die Zeit der psychischen Geborgenheit, ungeachtet sehnsüchtiger Blicke auf das Zentrum - verbrachte, verließ er direkt nach der Matura. Zu den wichtigsten Lebensstationen wurden Wien, Berlin, Amsterdam und Paris. Als einer der brillantesten Journalisten seiner Zeit, reiste er viel. Diese ost-, mittel- und westeuropäische Pluralität sollten Roth zu einem Europäer im heutigen Sinne des Wortes machen. In der Emigration wurde aber seine ostjüdische Identität, die er sein ganzes Leben behielt, mit der westjüdischen konfrontiert. Roths Lebensgefährtin aus Berliner Zeit, Andrea Manga Bell, erklärte, sie habe in ihm selbst "ganz stark den östlichen Menschen [...] gespürt. Die Leute des Ostens sind viel unmittelbarer, sie haben noch eine unbefangene und kindliche Herzlichkeit, die man sonst nur bei primitiven Menschen und Völkern findet. Solche Menschen können anstellen, was sie wollen, sie bleiben unschuldig und naiv."(14) Nicht zufällig wurde zu einem der Hauptmerkmale des Rothschen Erzählstils eine leicht verborgene Selbstironie. Wenn er sich noch am Anfang seiner literarischen Tätigkeit als Österreicher jüdischer Abstammung betrachtete (wie z. B. Karl Emil Franzos), so wurde seine Bindung zum Judentum nach dem Zerfall der Monarchie immer schwächer, was sich in seiner durch den Legitimismus immer stärkeren Zuneigung zum Katholizismus als der universellen Konfession des Habsburgerreiches äußerte. Der Holocaust, der bei vielen jüdischen Autoren ihre Beziehung zum Judentum völlig veränderte, war ihm vom Schicksal erspart. Gestorben ist Roth kurz bevor der Zweite Weltkrieg begann. Dagegen erlebte er alle Herausforderungen der Exilsituation, die, wie Bronsen bemerkt, als "archetypische Situation der Unsicherheit und Angst [...] wohl mit dem Erlebnis von Krieg, Konzentrationslager und feindlicher Besetzung des eigenen Landes zu den belastendsten Grenzsituationen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gehört."(15)

Wenn Roths Ausreise aus Galizien (1913) in die Metropole der Monarchie im Rahmen des einheitlichen Staates verlief und mit einer Emigration schwer zu vergleichen war, so beginnt er ab 1918 eine Heimat nach der anderen zu verlieren: dem Zerfall der Habsburger Monarchie folgte der Anschluß der Ersten Republik an Deutschland und die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Exil bedeutete für ihn schon eine endgültige Entwurzelung. Gerade im Exil, wenn man die Möglichkeit zurückzukehren verliert, wird der Sinn der eigenen Identität am besten erkennbar. Eine der wenigen Möglichkeiten bei seinem ursprünglichen Wesen zu bleiben und innere Sicherheit aufzubehalten, bleibt dabei die Sprache, die zur wichtigen Komponente des Identitätsbegriffes wird. Die Tradition, die Sprache als einzige Heimat im Exil zu bewahren, wurzelt noch in der Antike. Cicero ließ einen der Sieben Weisen, Bias (570 v. Chr.), der aus Priene fliehen mußte, sagen: omnia mea mecum porto. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Heimat der Sprache zu einem der wichtigsten Topoi der europäischen Literatur, besonders die deutsche Sprache bei den Autoren, die Shoah erlebten, wie Paul Celan und Rose Ausländer, um nur die bedeutendsten zu nennen. Ingeborg Bachmann schreibt in ihrem Gedicht "Exil": "Ich mit der deutschen Sprache / dieser Wolke um mich / die ich halte als Haus / treibe durch alle Sprachen..."(16)

Im Fall von Roth wurde die deutsche Sprache als lingua franca der Habsburgermonarchie von Anfang an zum wichtigen identitätsbestimmenden Faktor für den deutsch assimilierten und deutschsprachigen Juden in der mehrsprachigen Umgebung der österreichischen Provinz. Auf der einen Seite war dieses Deutsch ein ziemlich geschlossenes und deswegen reines Phänomen der gepflegten Literatursprache gewesen, wie es z. B. auch im Fall von Franzos zu verfolgen wäre, auf der anderen Seite übte die slawische Umgebung einen besonderen Einfluß auf dieses Deutsch auf dem phonetischen und lexikalischen Niveau aus und ließ die nationalen Besonderheiten der ukrainischen und polnischen Sprache sehr wohl vorkommen. "Das gute Deutsch" und die vom scharfen Intellekt kontrollierte "slawische Sprachmelodie" des Erzählstils in Roths Werken werden in der heutigen Literaturwissenschaft hoch gepriesen. Für Roth selbst erschien diese Sprache besonders "rein" und auf bestimmte Weise zeitlos, worin die Illusion der Sicherheit und einer mindestens imaginären Stabilität wurzelte. In Wirklichkeit bedeutete sie aber eine bestimmte äußere Abgrenzung. Nicht zufällig definiert Musil Roths Deutsch als "postklassisch"(17) und "schulgerecht".(18) Sein Urteil über den "Radezkymarsch" (1932) wirkt schockierend: "ein sehr hübsch geschriebener Kasernenroman".(19)

Im Exil der 30er Jahre kommt zur äußeren Abgrenzung immer mehr die innere Abgrenzung hinzu: nationale, soziale, traditionelle aber auch emotionelle. Roth betrachtet sich zu dieser Zeit weiter schlechthin als Österreicher nach dem alten Muster, worin sein Streben nach der monolithischen Identität leicht zu erkennen ist. Sie gewinnt bei ihm immer mehr Züge einer dichterischen Figur, deren Ausdrucksformen auf das Gebiet der Literatur führen. So manifestierte sich in Roths Schaffen neben der Idealisierung und Mythisierung dieses Begriffes das Unfeste der Identität, die Abhängigkeit der Eigenschaften vom Ganzen. Seine nostalgische und unbewußte Verklärung Alt-Österreichs, die mit der Zeit äußerste Größe gewann, verhalf diesem "mondänen Vagabunden"(20) die innere Heimatlosigkeit und Entwurzelung zu überwinden. Der Blick des Künstlers wurde aber immer mehr retrospektiv, seine seelische Verfassung immer zerrissener. Das waren Tatsachen, die Roth endgültig ein adäquates geschichtliches Bild von seiner Zeit zu schaffen hinderten. Visionär wirkt die aus dem Jahre 1926 stammende Beschreibung der russischen Emigranten nach der Revolution 1917, die er in Paris traf:

Die Emigranten hielten noch bei Nikolaus dem Zweiten. Sie hielten mit rührender Treue an der Vergangenheit fest, aber sie vergingen sich gegen die Geschichte. Und sie selbst reduzierten ihre Tragik. [...] Wir standen vor den Überresten, die ihre eigene Katastrophe nicht begriffen, wir wußten mehr von ihnen, als sie uns erzählen konnten, und, Arm in Arm mit der Zeit, gingen wir über die Verlorenen hinweg, grausam und dennoch traurig.(21)

Im Exil begeht Roth aber dasselbe. Er trauert dem Habsburger Mythos nach. Im Feuilleton über "Die k. und k. Veteranen" schreibt er nostalgisch:

Ihren epochalen Charakter unterstützt die historische Tatsache, daß sie verschwunden sind, endgültig verschwunden, wie nur die Kindheit selbst entschwinden kann und wie das Reich der Habsburger, dessen Tod noch wunderbarer war als sein Leben.(22)

Roths Trauer hat heitere Züge. Zum typisch Rothschen wurde aber der letzte Satz in seinem Habsburger-Abschiedsroman "Die Kapuzinergruft" (1938): "Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta?" Die Orientierung in der Welt, der existentielle Platz im Daseinskontext ging für Roth mit dem Verlust seiner genuinen Identität verloren. Alte Wertvorstellungen wurden nutzlos. Ihnen zufolge war die Hingabe der Selbsttäuschung, die Roth immer weiter zur Selbstvernichtung durch Alkohol führte und im vorzeitigen Tod mündete. In seiner letzten Erzählung "Die Legende vom heiligen Trinker" (1939) träumt er zusammen mit seinem Helden, einem schlesischen Emigranten und Pariser Clochard, vom leichten und sanften Tod. Roth starb aber qualvoll und einsam im Zustand der Bewußtseinstrübung im Krankenhaus für die Armen in Paris im Mai 1939.

Die Suche nach Identität als nach selbst erlebter inneren Einheit wurde für Joseph Roth, als Individuum der Moderne, dem das Streben nach der "verlorenen Erzählung"(23) unentbehrlich war, lebensnotwendig. Das bewies er mit seinem Schicksal als Europäer und Dichter der europäischen Moderne, der Epoche der großen Utopien.

© Larissa Cybenko (Lviv/Lemberg)

TRANSINST       Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14


ANMERKUNGEN

(1) Nürnberger H.: Joseph Roth. - Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992. - S. 38.

(2) Musil R.: Der Mann ohne Eigenschaften. - Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1988. - S. 34.

(3) Frisé A.: Zu diesem Buch // Musil R. Der Mann ohne Eigenschaften. - Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1988. - Vorwort.

(4) Csáky M.: "Was man Nation und Rasse heißt, sind Ergebnisse und keine Ursachen". Zur Konstruktion kollektiver Identitäten in Zentraleuropa // Kakanien revisited: das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. - Hg. W. Müller-Funk, P. Plener, C. Ruthner. - Tübingen und Basel: A. Franke Verlag, 2002. - S. 34.

(5) Lyotard J.-F.: Das postmoderne Wissen. - Wien: Edition Passagen 1986. - S. 122.

(6) Colin A. Paul Celan - eine plurale Identität: Bukowiner, Jude, Europäer // Unverloren. Trotz allem. Paul Celan-Symposion Wien 2000. Hg. H. Gaisbauer, B. Hain, E. Schuster. - Wien: Mandelbaum, 2000. - 46.

(7) Ebenda: S. 46.

(8) Stöckmann J.: Der ungläubige Prophet // Hannoversche allgemeine Zeitung. - 2. September 1994. - S. 10.

(9) Csáky M.: Op. cit. - S. 46.

(10) Roth J.: Werke in 6 Bänden. - Köln: Kiepenheuer u. Witsch, 1990. - Bd. 5. - S. 655-656.

(11) Ebenda: S. 675.

(12) Ebenda.

(13) Roth J.: A. a. O. - Bd. III, - S. 689

(14) Nürnberger H.: Joseph Roth. "Rowohlts Monographien". - Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992. - S. 25-26.

(15) Bronsen D.: Joseph Roth. Eine Biographie. - Köln: Kiepenheuer u. Witsch, 1993. - S. 288.

(16) Bachmann I.: Werke in 4 Bänden. - München: Piper, 1978. - Bd. 1. - S. 153.

(17) Musil R.: Gesamtwerk in 9 Bänden. - Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978. - Bd. 7. - S. 838.

(18) Musil R.: A.a. O. - Bd. 8. - S. 1778.

(19) Joseph Roth.: 1894-1939. Eine Ausstellung der deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. - Frankfurt a. M. 1979. - S. 462.

(20) Stöckmann J.: Op. cit.

(21) Roth J. A.a.O.: Bd. 2, 592.

(22) Roth J. A.a.O.: Bd. 3, S. 65.

(23) Lyotard J.-F.: Op. cit. - S. 122.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Larissa Cybenko (Lviv/Lemberg): Wird die Suche nach Identität zum Mittel, Orientierung in der Welt zu finden? Der Fall von Robert Musil und Joseph Roth. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002. WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/cybenko14.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 8.4.2002    INST