Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Mai 2003

Du sollst dir kein Bild machen! (Nicht)Visualisierung in der Soziologie

Klaus Feldmann (Hannover)

 

Anthropologische und historische Aspekte

Menschen sind multimediale, multimodale und multicodale Wesen - unabhängig von ihrer spezifischen Kulturzugehörigkeit. Menschen haben Bilder hergestellt, um etwas zu bewirken, z.B. um ihre Jagd erfolgreicher zu gestalten, haben sie die Tiere abgebildet, oder um anderen etwas zu erklären, ihnen zu imponieren, oder um ihr Heim zu schmücken etc. Heute ist die Bilderherstellung fürs Überleben notwendig: Röntgenbilder, Ultraschall, Satellitenbilder und andere - unverzichtbar zur Theoriebildung und -prüfung.

Allerdings zeigen Kulturvergleiche, wie vielfältig und auch einschränkend diese anthropologischen symbolischen und visuellen Kompetenzen entwickelt werden. Bild- aber auch Schreib-, Sprech- und Vorstellungsge- und -verbote wurden aufgestellt und ihre Einhaltung durch eigene institutionelle Instanzen überwacht. Besonders bekannt sind die Bilderkämpfe im byzantinischen und islamischen Bereich geworden.

Die prototypische Visualisierung der europäischen Epistemologie, das Höhlengleichnis von Platon in seiner Politeia, weist auf die Fesselung der Menschen hin, die nicht auf die "Wirklichkeit" blicken können, die mit Schatten abgespeist werden. Doch in der fatalen Lage wächst die Hoffnung der Befreiung von den Fesseln, ein prophetischer Hinweis auf das Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologien? Platon selbst sah wohl die Befreiung in reinen Ideen, die er sich als Texte vorstellte, nutzte somit sein Gleichnis als Leiter, die der freischwebende Intellektuelle dann wegwerfen sollte - ein bekanntlich gefährlicher Hochseilakt. Inzwischen gibt es zwar für die herrschende intellektuelle Weltklasse ein festes naturwissenschaftliches Text-Bild-Fundament, doch auf diesem bzw. um es herum herrscht ein inter- und multikulturelles Chaos von Wirklichkeiten, Modellen, Ideologien, das durch keine Metabilder oder -texte mehr verbindlich verstanden, interpretiert oder visualisiert werden kann (vgl. Freud, Adorno, Horkheimer, Elias, Foucault, Maturana etc.).

Die europäische Kultur kennt zwar nicht strikte Bilderverbote, wie sie in manchen islamischen Kulturbereichen erfolgten, doch sie hat eine Hierarchisierung in der Verwendung von Zeichen ausgebildet. Die Schrift war ein elitäres Medium - lange Zeit waren Schreibkompetenzen nur kleinen ausgewählten Gruppen vorbehalten - und ist es trotz der weiten Verbreitung über Buchdruck, Schulbildung, Demokratisierung und mediale Inflation geblieben. Vor allem sind bestimmte Formen der Verwendung von Schrift und Sprechen distinktiv für bestimmte Gruppen, d.h. die Nachahmung ist schwierig und es kann relativ schnell festgestellt werden, ob jemand die richtige über Jahre, ja Jahrzehnte laufende Sprachsozialisation durchlaufen hat (kulturelles Kapital nach Bourdieu).

Im Gegensatz zu dieser elitebildenden Schriftverwendung sind viele Bilder in der europäischen Tradition speziell für Personen hergestellt worden, die nicht über ausreichende Schriftkenntnisse verfügten (biblia pauperum).

Die Schriftsprache ist aufgrund von Gruppeninteressen differenzierter als die Bildsprache ausgebaut worden, so dass wesentliche Herrschaftsbereiche von ihrer angemessenen Nutzung abhängig sind.

Für die meisten realistischen Bilder gilt wohl, dass sie vieldeutig sind, zu nicht-linearem Denken führen, sie sind im Politik-, Wirtschafts- und Rechtsbereich eher nachrangig bzw. randständig.

Anzuzweifeln ist, dass nur die Wortsprache Diskursivität zulässt, dass das ikonische Denken vom nicht-ikonischen prinzipiell "getrennt" ist bzw. getrennt werden sollte. Immer vermischen sich in diesen Meta-Diskursen im Kampf zwischen den Verbal-Gruppen und den Visual-Gruppen Tatsachen- und Werturteile. Auch die Scheidungen zwischen linearem und nicht-linearem oder konvergentem und divergentem Denken und Kommunizieren sind interessengenerierte wissenschaftliche Konstrukte und Modelle und keineswegs unhinterfragbare "Wirklichkeitsbeschreibungen". Diese Erkenntnisse werden inzwischen auch auf nicht-elitäre Bereiche angewendet. In der PISA-Untersuchung wurde Lesekompetenz nicht mehr traditionell definiert, wie es noch im Deutschunterricht der Gymnasien großenteils geschieht, sondern es wurden "Bilder", d.h. "nicht-kontinuierliche Texte", wie Diagramme, Tabellen, Landkarten, Zeichnungen, Piktogramme etc. einbezogen (vgl. Baumert 2001, 69 ff).

Schwieriger ist der kulturelle Wandel bezüglich der Text-Bild-Probleme zu beurteilen. Faßler (2002, 49) weist auf die jahrhundertelangen Anstrengungen hin, dem Text Bilder auszutreiben bzw. Bildern Texte aufzuzwingen. In modernen Gesellschaften sind - primär technologisch induziert - multisensorische (visuelle, optische, akustische) Umgebungen und multimediale Strukturen entstanden. Sie verändern die Zusammensetzung und Gestaltung der Kommunikationsräume (Faßler 2002, 45).

Der "Bildschirm" hat in vielen Bereichen das Papier als kulturelles Trägermedium abgelöst. Auf dem Bildschirm erscheint zunehmend auch die verbale, wortsprachliche und wissenschaftliche Kultur. Dadurch wird ein gemeinsamer Ort für Worte und Bilder für die gesamte Kultur geschaffen. Die Trennung von Worten und Bildern, die durch die Bücherkultur betrieben wurde und wird, schwächt sich ab bzw. wird abhängig vom Nutzerverhalten. Die Nutzer werden durch den Bildschirm im Vergleich zum Buch souveräner.

 

Bilderfeindlichkeit der Soziologie

Die Soziologie ist eine relativ junge Institution in der europäischen Kultur, die sich im Kontext der Universalisierung und Globalisierung der Wissenschaften weltweit ausgebreitet hat. Sie ist eine im 19. Jahrhundert entstandene Abspaltung von der Philosophie, der politischen Schrifttradition, der Geschichtsschreibung, der Literatur etc. und schließt somit an eine Tradition an, die im 18. und 19. Jahrhundert bereits stark von Bildern gereinigt war. Die Bilderlosigkeit wurde dann von den Vätern der Soziologie - Comte, Marx, Weber und Durkheim - noch betont, in stärkerem Maße als in der verwandten Psychologie.

Die heiligen Schriften der Soziologie von Marx, Durkheim, Weber, Parsons, Luhmann, Habermas, Giddens etc. sind meist bilderlos, selten mit Statistiken besudelt. Du sollst dir kein Bild machen! Doch nicht nur die Klassiker, sondern auch die neuen soziologischen Schriften über die alten und neuen Medien und das Internet sind großteils bildfrei (Münker/Rösler 1996; Gräf u.a. 1997; Bühl 1998; Schroer 2001; Schnierer 1999; Zurstiege 1998; Zurstiege/Schmidt 2001).

Da soziologische Bücher im deutschen Sprachraum meist geringe Auflagen haben, ist die Bilderarmut nicht unbedingt ein paradigmatisches Kennzeichen der Disziplin, sondern die banale Konsequenz von ökonomisch bedingten Verlagsregeln. Doch der Saure-Trauben-Effekt amalgamiert sich mit Legitimations- und Distinktionsideologien, die allerdings viktorianisch-schamhaft meist implizit bleiben.

 

Bilder in der Soziologie

Wo tauchen Bilder in soziologischen Werken auf? In Einführungen und Lehrbüchern, vor allem in angelsächsischen. Die US-amerikanischen Lehrbücher sind standardisierter, erscheinen in relativ hohen Auflagen und verfügen über eine opulente Bildausstattung im Vergleich zu den deutschen.(1)

In der sozialwissenschaftlichen Peripherie, die sich mit Medien, Kunst und anderen Kulturen beschäftigt, tauchen um so mehr Bilder auf, je geringer der eigentliche Soziologieanteil ist. Außerdem dürfte es von der Verlagsausrichtung abhängen. Die Medienliteratur in den soziologischen Hauptverlagen Suhrkamp, Westdeutscher Verlag und Leske + Budrich ist in der Regel bilderlos, bei Suhrkamp sogar radikal bilderlos, d.h. ohne Statistiken und Diagramme. Die Starsoziologen sind meist Oberpriester der abstrakten Texte, Bilderfeinde. Doch im Hauptwerk von Bourdieu "Die feinen Unterschiede" finden sich - vor allem im französischen Original - eine Reihe von Fotografien, Statistiken und Diagrammen.

Abweichend für ein Werk eines Starsoziologen ist das Buch "Geschlecht und Werbung" von Erving Goffman, in dem selbst im Suhrkamp-Verlag viele Werbebilder einmontiert wurden.

Auch in Internetdarstellungen soziologischer Institute und Positionsinhaber erscheinen kaum Bilder, wenn ja, dann z.B. die lächelnden Portraits der Homepage-Inhaber.

Dann ist noch die Kategorie der soziologischen Multimediaanwendungen zu nennen, für die meisten SoziologInnen eine Nullmenge. Im deutschen Sprachraum sind tatsächlich nur sehr wenige zu finden, z.B. Bardmann/Lamprecht 1999, Wendebourg/Feldmann 2002.

 

Explizite Visualisierung

Visualisierung wird in der professionellen soziologischen Diskussion kaum thematisiert. In der Soziologie ist explizite Visualisierung - wie gesagt - in amerikanischen Lehrbüchern, in ethnologischen und ethnographischen Studien und in der Architektur-, Medien- und Kunstsoziologie aufzufinden. Auch wenn der analysierte Gegenstand "visueller Natur" ist, bei Gemälden, Gebäuden, Filmen etc., wird meist selbst eine schematische oder partielle Visualisierung vermieden. Jedenfalls wird sehr schnell auf die reine Verbalisierung eingeschwenkt. Eine Visualisierung findet - wenn überhaupt - als Illustration oder zu Zwecken des impression managements statt, wird im Gang der Argumentation und in der Theorievermittlung als unwichtig angesehen.

Soziologische Diskurse in Schriften, Vorträgen oder im Unterricht vollziehen sich nach professionellen Regeln. In diesem Zusammenhang sind nur bestimmte Formen der Visualisierung üblich, vor allem Tabellen, Diagramme, selten Begriffsnetze (concept maps).

 

Implizite Visualisierung

Implizite Visualisierung ist in allen Kulturen weit verbreitet. Die Begünstigung von visuellen Vorstellungen wird unabhängig von "manifesten Bildern" durch Metaphern, die innere Bilder im Leser oder Hörer produzieren; und bilderproduzierende Beschreibungen und Erzählungen betrieben. Einige Beispiele für implizite Visualisierung seien hier genannt:

"Engels gebraucht einmal das Bild: daß ebenso, wie seinerzeit der Planet Erde in die Sonne stürzen werde, ebenso diese kapitalistische Gesellschaft zum Untergange verurteilt sei." (Weber 1988, 505)

Max Weber nennt die bürokratische Organisation "geronnenen Geist", "lebende Maschine" und "Gehäuse der Hörigkeit". Um die Vorstellungen noch anzureichern, stellt er eine Analogie zu den "Fellachen im altägyptischen Staat" her (Weber 1980).

Strukturell haben diese impliziten Bilder von Engels und Max Weber Warncharakter, sind säkulare Nachfolger der christlichen Tradition, der Bilder von Himmel, Hölle und Jüngstem Gericht.

In der neueren Soziologie findet man in dieser Hinsicht eine heterogene Lage: Goffman induziert stark innere Bilder, Luhmann und Habermas nur in sehr geringem Maße. Goffman beschreibt wie ein Schriftsteller Szenen, die innere Bilder hervorrufen. Doch auch Starsoziologen, die das Abstrakte schätzen, wie Anthony Giddens (1990), bemühen manchmal erstaunliche Metaphern, z.B. den Dschagannath-Wagen. Das Bild lässt sich von den meisten europäischen Lesern nicht sofort im Bewusstsein herstellen, da es einem anderen Kulturkreis angehört - es zeugt von britischer Distinktion, da es aus der ehemaligen Kolonie Indien stammt.

 

Neue Medien, Multimedia

Die Medien entwickelten sich prächtig und kräftig, doch die Soziologie - vor allem im deutschen Sprachraum - blieb asketisch und der traditionellen Textproduktion treu. Die Texte sind abgeschlossen, seriell, sequenziell, geschützt. Dagegen werden Hypertexte, die auch von anderen offen und kreativ benutzt und mit Bildern verknüpft werden können, kaum hergestellt. Allerdings existiert traditionell eine "implizite Hypertextorientierung" über Zitate.

Nach wie vor werden der Visualisierung und multimedialen Versuchen kaum Funktionen bei der Theoriebildung und -prüfung eingeräumt, sondern nur bei der Theorievermittlung und in der Didaktik. Eine sowohl für die interdisziplinäre Theoriebildung als auch die Vermittlung innovativ gestaltete Hypermediakonstruktion liegt im Programm "Geschlecht verstehen" vor (vgl. Wendebourg/Feldmann 2002).

 

Widerstände gegen Visualisierung in der Soziologie

Die Soziologie ist wie die anderen Wissenschaften vom Zeitgeist, von den Sozialisationsbedingungen und anderen gesellschaftlichen Prozessen abhängig, was eine Öffnung gegenüber der Visualisierung begünstigt. Doch andererseits herrscht Festungsgehabe, professionelle Widerständigkeit und Exklusion vor. Von wissenschaftlichen Disziplinen wird Eigenständigkeit, Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen und eine eigene Sprache erwartet. Die Sprache der Soziologie ist visualisierungsfeindlich. Somit befinden sich auch aufgeschlossene SoziologInnen in einem Zwiespalt: Wieweit sollen sie die neuen Möglichkeiten der Visualisierung aufgreifen? Verletzen sie dadurch professionelle Codes? Gewinnen sie innerhalb der Disziplin Anerkennung oder werden sie zu Außenseitern? Dass es sich um ein Dilemma handelt, kann man an der multimedialen Askese der meisten Soziologen ablesen.

Man könnte aufgrund der Diagnose den Schluss ziehen, dass SoziologInnen Bilder als gefährlich oder störend für ihre verbalen Botschaften einstufen, sie vielleicht sogar als Ansätze zur Reprimitivisierung und Regression ansehen. Oder sind Bilder schlicht unnötig, erbringen keine wertvollen Informationen, keinen Statusgewinn und keinen Lernerfolg?

Bezüglich der wertvollen Informationen gilt die Self-fulfilling-prophecy: Ist man der Meinung, dass alle wertvollen Informationen im bilderlosen Text enthalten sind, dann können zusätzliche Bilder keine entsprechenden Informationen erbringen.

Innerhalb der Zunft der (deutschen oder österreichischen) SoziologInnen hat Bebilderung bisher nicht zu Statusgewinn, vor allem gemessen am Erwerb von guten Positionen, beigetragen.

Der Lernerfolg der Studierenden ist ein nebensächlicher Faktor, weil er erstens nicht objektiv gemessen wird, folglich sich jeder Soziologe Beliebiges zusammenkonstruieren kann, und zweitens meist nur der Lernerfolg einer kleinen Elite von Interesse ist, die ja im Dienste der Zunft sozialisiert werden soll (siehe Punkt 1).

 

Entwicklung der Visualisierung in der Soziologie

Wie verlief die Entwicklung im expliziten visuellen Bereich der Soziologie, soweit sie stattfand? Einerseits ist keine Entwicklung festzustellen. Die Schriften von Habermas und Luhmann unterscheiden sich visuell kaum von denen von Comte und Marx (modernere Schriftarten).

Doch es gibt Bereiche, in denen eine Entwicklung stattgefunden hat: vor allem in der Verwendung von Statistiken und Grafiken. Ferner gibt es schüchterne Ansätze, logische Bilder, concept maps, Pfeildiagramme und ähnliche grafische Darstellungen einzubauen. Allerdings ist dies kaum ein wissenschaftlicher Diskussions- und Ausbildungsgegenstand(2), so dass autodidaktische und ungeprüfte Verfahrensweisen vorherrschen. Wie schon erwähnt, ist die Soziologie auch ein Opfer der "Kultur der Armut" im Bereich "Sozialwissenschaftliche Literatur in Europa". Es handelt sich bei der Zunft der SoziologInnen um eine Art verarmte Adelige, die stolz ihre Armut ertragen und die wenige verbliebene Distinktion um so verbissener pflegen. Man erinnert sich an die "Baumfalken", die zweit- und drittrangigen französischen Landadeligen, die es sich nicht leisten konnten, die meiste Zeit in Paris bzw. bei Hofe zu verbringen. Tocqueville beschreibt sie, die den Bauern als Ausbeuter ohne zureichende Legitimation erschienen und damit unfreiwillige und unbewusste Vorbereitung der Revolution betrieben.

Die entscheidende Dynamik ergibt sich durch das Internet. Diesem jungen Medium wird die Kraft zugeschrieben, die traditionellen disziplinären Grenzen zu sprengen. Zwar gibt es noch immer vorherrschend die Textkultur, vor allem als Pdf-Datei, doch daneben sprießen neue Formen, die über Links in die weite Internetwelt verweisen.

Im Medium "wissenschaftliches Buch" sind neuerdings - freilich wieder hauptsächlich im angelsächsischen Bereich - zunehmend sozialwissenschaftliche Texte zur visual sociology, visual methodology, visual analysis, semiotic analysis etc. aufzufinden (z.B. Rose 2001; van Leeuwen/ Jewitt 2001; Emmison/Smith 2000; Penn 2000; Thomas 2001). Auch in diesen Texten ist kurioserweise die tatsächliche Visualisierung unterentwickelt.

Ein bereits ehrwürdiges Gebiet mit sozialwissenschaftlicher Abteilung ist die Filmanalyse oder Filmsprache, die freilich sowohl in der Hauptfach- als auch in der Nebenfachausbildung und in der Forschung der Soziologie und der dem Autor vertrauten sozialwissenschaftlich orientierten Erziehungswissenschaften bisher hauptsächlich ignoriert wurde (Mikos 2001; Denzin 2000).

Ein weiteres interessantes Feld ist die mit der Kunstwissenschaft verbundene Bildanalyse und -interpretation, die in Schriften zur Kunstsoziologie, ebenfalls einem Randgebiet, ein Schattendasein fristet (Belting 2001).Ein junges interdisziplinäres Feld stellen die cultural studies dar, in denen ein bunter Strauss von alten und neuen Teildisziplinen und Forschungsfeldern vereinigt ist. In den cultural studies wird die "visual culture", nach Barnard (2001) eine "Interdisziplin", inszeniert (Mirzoeff 1999; Evans/ Hall 1999; Hepp 1999).

 

Didaktische Überlegungen

Für die Lehre und das Vortragswesen ist das Praxisfeld "Visualisierung und Präsentation" von Bedeutung. In den 70er und 80er Jahren wurden Dias und Folien immer populärer, auch Videos, vor allem Fernsehaufnahmen, wurden in Präsentationen ab und zu eingeflochten. Eine Professionalisierung der Soziologielehre bzw. der öffentlichen Präsentation von soziologischen Erkenntnissen hat freilich im deutschen Sprachraum nicht stattgefunden, so dass all diese neuen technischen Optionen der Beliebigkeit, dem individuellen Engagement und teilweise einer gruppenspezifischen Normierung überlassen blieben. Soziologen, die ehrgeizig sind und nicht zu den Topgurus gehören, verwenden in zunehmendem Maße Powerpoint, ein Werkzeug, das vielfältige Formen der Visualisierung ermöglicht. Doch die meisten real existierenden sozialwissenschaftlichen Powerpointpräsentationen sind asketisch und formal konservativ angelegt - nutzen die Visualisierungspotenziale des Programms kaum.

Sozialwissenschaftliche Visualisierung kann den Zugang zu komplexen Modellen und Denksystemen erleichtern. Sie kann sicher auch dazu verführen, den schwierigen Zugang über ungewohnte Texte zu vermeiden. Allerdings kann man die Frage stellen, ob diese disziplinkonformen Zugänge über die von Soziologen anerkannten Spitzentexte für Nebenfachstudenten oder allgemein für Nicht-Soziologen erforderlich und produktiv sind. Es könnte sein, dass eine visualisierende Soziologie nicht nur mehr Anhänger gewinnt, sondern auch tatsächlich zur Verbreitung wichtiger sozialwissenschaftlicher Konzepte einen bedeutsamen Beitrag leistet.

 

Zukunft der Visualisierung in der Soziologie

Noch ist unklar, was die Visualisierung der Institution Soziologie bzw. einzelnen Soziologen "bringen" soll oder kann. Die normale Karriere dürfte nach wie vor ziemlich unabhängig von Kompetenzen oder Werken in diesem Bereich sein.

Doch Soziologen und die Disziplin Soziologie müssen sich in einem sich dynamisierenden Wissenschafts- und Bildungsfeld bewähren und Visualisierung und Multimedia sind Waffen in diesem Kampf. Im Medienbereich wurden Spezialtruppen geschaffen, die mit diesen Waffen umgehen können. Innerhalb der Institution Wissenschaft handelt sich um ein interdisziplinäres Feld, ähnlich den Bereichen Statistik und Methoden der Forschung. Damit gerät es in einen Konkurrenzkampf zwischen den Nachbardisziplinen Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Ökonomie und anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen.

Die Ansiedlung von Bildanalyse und Bildschaffung in Randgebieten der Soziologie, die sich mit Medien, Kunst, Raum, Stadt und verschiedenen kulturellen Aspekten beschäftigen, wurde schon erwähnt. Dort sind Ausbaumöglichkeiten. Doch wünschenswert ist die Ausweitung der Bildproduktion und -entwicklung auch auf andere soziologische Arbeitsgebiete. Die Attraktivität der Soziologie könnte auf diese Weise gesteigert werden.

Doch dies sind eher berufspraktische und professionsbezogene Argumente. Wie steht es mit Möglichkeiten der Weiterentwicklung von Theorien und Forschungsansätzen mit Hilfe neuer bildgebender und multimedialer Konzeptionen? Skepsis erscheint angemessen, wenn man z.B. die geringe Durchsetzung von formalwissenschaftlichen und mathematischen Modellen in der Soziologie als Analogie heranzieht und die euphorischen Stellungnahmen von entsprechend orientierten Sozialwissenschaftlern aus den 60er und 70er Jahren rückblickend bewertet.

Doch Analogien eignen sich nicht unbedingt für Prognosen. Vermutlich wird es zu weiteren Differenzierungsprozessen kommen, d.h. es wird einerseits die traditionelle Textsoziologie weiterbestehen - wahrscheinlich in Schrumpfform - andererseits werden innovative interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Lehr- und Forschungsfelder entwickelt werden.

© Klaus Feldmann (Hannover)

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ANMERKUNGEN

(1) Im deutschen Feld existiert bisher nur ein bebildertes Lehrbuch nach amerikanischem Vorbild, das "Lehrbuch der Soziologie" von Hans Joas (2001) herausgegeben, dem ein amerikanisches Werk als Vorlage diente.

(2) Im deutschen Sprachraum existiert auch keine Zeitschrift für Soziologiedidaktik vergleichbar "Teaching Sociology".


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Klaus Feldmann (Hannover): Du sollst dir kein Bild machen! (Nicht)Visualisierung in der Soziologie. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/feldmann14.htm.


TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 13.5.2003     INST