Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Dezember 2002

Bericht über die Sektion "Gedächtniskulturen und Narrationen"

Gabriella Hima (Budapest)
[BIO]

 

Kulturelle Beziehungsverhältnisse und Gegenstände, die anderen Kulturkreisen oder zurückliegenden Epochen entstammen, werfen die Frage der Alterität auf. Die dialogischen Strukturen zwischen dem Eigenen und dem Anderen im Text selbst stellen narrative Muster her, von deren Konstruktionsprinzipien die Reise eines der wichtigsten ist. Im Rahmen unseres Workshops untersuchten wir verschiedene narrative Muster, in denen die Hauptdarsteller während ihrer Reisen das Andere erfahren und in ihren Reflexionen auf diese Erfahrung hin das Eigene neu deuten, neu erleben oder sogar neu konstituieren.

4 von den 5 Beiträgen unserer Sektion befassten sich mit realen, fiktiven oder imaginären Reiseberichten (Beiträge von Kisery, Propszt, Valkova und Hima), der 5. Beitrag (von Harmat) mit der Rezeption bzw. intertexuellen Verarbeitung eines der bekanntesten Briefromane der europäischen Kultur. Alle besprochenen literarischen Gattungen - Berichte, Recherchen, Memoiren und Briefroman - führen zugleich zwei Zeithorizonte zusammen, nämlich jenen des Geschehenen und jenen der Reflexionen und Beobachtungen des Ich-Erzählers. Die Ich-Erzählung entwirft ein Bild, als ob es tatsächlich so wahrgenommen worden wäre und deshalb auch als wahr anzunehmen ist.

Alle 5 Beiträge versuchten Verflechtungen der europäischen und nicht nur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte aufzuzeigen, die zeitliche (Harmat, Propszt), räumliche (Kisery, Valkova, Hima) und soziale Grenzen (Harmat) überschreiten. Alterität, Identität und Interkulturalität stehen im Zusammenhang mit realen oder inneren Reisen, die räumlich-zeitlich-soziale Distanzen überwinden und die verschiedenen kulturellen Interaktionsformen in ein neues Spannungsverhältnis bringen.

2 von 5 Beiträgen befassten sich mit realen und fiktiven Reiseberichten. Eszter Kiséry untersuchte Reiseberichte von Debrecziner Bürgern aus den Jahren vor dem Ausgleich mit Österreich 1867. Gabriella Hima untersuchte fiktive Reisegeschichten aus dem Erzählzyklus Kornél Esti des ungarischen Autors Dezsõ Kosztolányi. Beide Beiträge stellen die historisch-anthropologischen Schlüsselbegriffe Alterität und Interkulturalität in den Mittelpunkt. Die Frage nach dem Wesen des Menschen, nach seiner Natur und seiner Lebenswelt, welche die Anthropologie als Wissenschaft einmal begründete, reichte von Anfang an über die eigene Lebenswelt hinaus. Fragen, wie mittels welcher Bilder das Andere dargestellt werden kann bzw. welche Alternativen sich zu vertrauten Mustern eröffnen, tauchten mit Reisen auf. Reiseberichte über völlig unbekannte Formen sozialer und politischer Ordnungen oder über äußerst merkwürdige Dispositionen des fremden Alltagslebens thematisieren den Unterschied zwischen dem scheinbar Bekannten und dem völlig Unbekannten. Die Diskurs- und Systemtheorien, welche als theoretische und methodologische Grundlagen für Alteritäts- und Interkulturalitätsforschungen dienen, gehen davon aus, daß das Andere keine vorfindbare Gegebenheit, sondern eher ein Relationsbegriff ist. Nicht der Unterschied macht einen zum Fremden, sondern seine Institutionalisierung, welche erst zur Wahrnehmung des Unterschieds führt. Schon die Differenz selbst ist eine Bedeutungszuschreibung. Die writing culture-Debatte stellt die strikte Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion in den Beschreibungen fremder Kulturen in Frage. Demgegenüber betont sie die fiktionalen-allegorischen Elemente wissenschaftlicher Beschreibungen. Damit wird einerseits die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem aufgehoben, andererseits die Forschungsrichtung umgedreht: die Reiseberichte sind keine historischen Quellen mehr, sondern nur Dokumente des Wahrnehmenden (Propszt, Valkova, Hima).

Die Begriffe das Fremde und das Eigene markieren die Beziehung von Nähe und Abstand und bezeichnen auf den ersten Blick räumliche Konfrontation. Alterität als Fremdheit hat jedoch nicht nur spatiale, sondern auch soziale und temporale Aspekte. Als Nicht-Zugehörigkeit zu einem sozialen Verband bezeichnet sie das Unvertraute (gilt für alle 5 Beiträge). In diesem Sinn unterscheidet der Philosoph Bernhard Waldenfels zwischen den verschiedenen Stufen der Fremdheit, nach denen sich die "Zugänglichkeit des Unzugänglichen" strukturiert. Die Überwindung der geographischen Distanz durch Reisen lässt die temporale Komponente dieses kulturdifferenten Beziehungsverhältnisses gelten, die in wechselseitiger Wahrnehmung unterschiedliche Zeithorizonte und Entwicklungsstadien aufeinander treffen. In diesem Sinn spricht auch Ortfried Schäffter über die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen".

Eszter Propszt untersuchte die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" als narrative Identität im Roman eines ungarndeutschen Autors. Der Hauptdarsteller dieses Romans trägt seine neu gewonnene Identität seiner Frau an, wobei er die Verhaltenspositionen und Handlungsmuster im eigenen Leben narrativ arrangiert und in eine zusammenhängende Temporalstruktur integriert.

Márta Harmat versuchte, durch komparatistische Analyse von Goethes Werther und Plenzdorfs Werther-Verarbeitung Zusammenhänge der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte zu analysieren, die zeitliche, räumliche und soziale Grenzen überschreiten, und diese aus auch heutiger Sicht zu interpretieren.

Vladimira Valkova untersuchte die Täuschungs- und Enttäuschungsstrategien in Gerhard Roths Kriminalroman Der Plan, wobei sie zeigte, daß diese Pseudo-Detektivgeschichte eher die Modalitäten eines Reiseromans aufzeigt. Der sich als Vortragsreise getarnte Aufenthalt in der exotischen Zeichenwelt Japans entwickelt sich zu einer Entdeckungsfahrt in eine innere Welt.

 

Zusammenfassung schon mit dem Blick auf die Konferenz 2003:

Die entweder in zeitlichem oder in räumlichem Sinn fremde Kultur wird durch die Gegenüberstellung der eigenen Kultur wahrgenommen. Das Fremde als neue, nicht verfügbare Erfahrung gewinnt erst Kontur durch die Kontrastierung zu einem realisierten Eigenen, kulturell Bekannten und Vertrauten. Das Erlebnis des Reisenden ist durch die ambivalenten Kategorien des fremd gewordenen Eigenen und des nicht verfügbaren Fremden zu beschreiben. Der Reisende befindet sich in einer kulturell doppelt deplatzierten Position: weder in der Fremde noch in der Heimat ist er zu Hause. Die Differenzbestimmung zwischen Eigenem und Fremdem spitzt sich in den Reisesituationen zu, durch Raumänderung und gleichzeitigen Zeitausgleich. Durch das Interferieren von Vertrautem und Fremdem brechen nicht nur die Grenzen von historischer (zeitlicher), sprachlicher und kultureller Alterität auf, sondern auch die Fremdheit in uns selbst. Ein Gewahrwerden dieser inneren Fremdheit, das Spiel mit der eigenen Differenz gehören zu den anthropologischen Voraussetzungen eines interkulturellen Austauschhandels.

© Gabriella Hima (Budapest)

TRANSINST       Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Gabriella Hima (Budapest): Bericht über die Sektion "Gedächtniskulturen und Narrationen". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/hima14.htm.

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