Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2003

Bericht über die Sektion "Anschauungen, Denkformen, Tradierungen und Kulturprozesse"

Sektionsleiterin: Alessandra Schininà (Catania)
[BIO]

 

Die Sektion "Anschauungen, Denkformen, Tradierungen und Kultuprozesse" versuchte die Vielfalt von Interaktionen zwischen Altem und Neuem, Zeit und Raum, Vergangenheit und Gegenwart auf verschiedenen Gebieten der Kunst und Literatur sowie in der Geschichte anhand von konkreten Beispielen zu analysieren. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wurde in seinen kulturellen Erscheinungen sowohl in der Theorie und in der Ästhetik als auch in der Praxis und im Alltag diskutiert.

Die 6 SektionsreferentInnen kamen aus sechs verschiedenen Ländern - aus Österreich, Italien, Kirgisistan, Südafrika, Norwegen und der Ukraine - sowie aus verschiedenen Forschungsgebieten. Dies ermöglichte eine multiperspektivische Diskussion, an der sich auch die ZuhörerInnen im Publikum aktiv beteiligten.

Am Beginn ihres Beitrags zeigte Monika Leisch-Kiesl, Kunstwissenschafterin aus Linz, Ausschnitte aus einer Videokunstarbeit, Sarayewo Guided Tours von Isa Rosenberger. Hier stand das Verhältnis zwischen Zeit und Raum im Vordergrund. Kunst wurde als Kommunikationsraum verstanden, wo sich eine zeitliche und räumliche, reale und zugleich simulierte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen abspielt. Die Videokassette gehörte zu einer in Linz präsentierten Kunstinstallation, die den Stadtplan Sarajewos sozusagen wiederzeichnete: einige Bewohner der bosnischen Hauptstadt sprechen über sich selbst und zeigen ihre Lieblingsplätze. Die aufgesuchten, meist peripherischen Orte sind so mit persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen verbunden. Anhand von verschiedenen Kunsttheorien führte die Referentin diese Videokunstarbeit als Beispiel einer fruchtbaren Kombination zwischen Ästhetik und Alltag an.

Immer in bezug auf die Darstellung von Raum und Zeit in der Kunst skizzierte Alessandra Schininà, Literaturwissenschafterin aus Catania, das Verhältnis der Menschen zur Zeit in einer besonderen literarischen Form, im Tagebuch. Im Tagebuch befragen sich die AutorInnen über das eigene Verhältnis zur Zeit noch direkter als in anderen literarischen Gattungen. Die subjektive, die chronologische und die geschichtliche Zeit fließen im Tagebuchführen zusammen, indem sie zu mehr oder weniger bewußten Phänomen von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Anlaß geben. Zum Versuch der AutorInnen dem historischen und biographischen Zeitgeschehen gerecht zu werden, gesellen sich verschiedentlich das Aufholen der Vergangenheit und der Blick in die Zukunft.

Mit dem Beitrag der folgenden Referentin, Tuleeva Chinarbubu, Sprachwissenschafterin aus Bischkek, nahm die Diskussion eine geschichtliche Perspektive ein. Die uralte Geschichte der Kirgisen und der Ursprung von noch heute vorhandenen Namen, Gesellschaftsstrukturen und Traditionen, Thema ihres Beitrages, ließ u. a. zum Vorschein kommen, wie es ganz verschiedene Dimensionen der historischen Zeitrechnung gibt. Das, was für manche Kulturen am Anfang steht, steht für andere Kulturen am Ende oder am Höhepunkt einer bestimmten Phase: aus der östlichen und fernöstlichen Perspektive ist z.B. die Stellung der Hunnen und Attila völlig anders.

Anschließend setzte sich Kathleen Thorpe, Literaturwissenschafterin aus Johannesburg, mit einem Thema auseinander, das selten behandelt wird und fast als ein Tabu gilt: Gewalttätigkeit von Frauen ausgeübt - hier in ihrer literarischen Darstellung analysiert. Man spricht oft von Frauen als Opfer, es gibt aber auch Frauen, die Übeltäterinnen und Mörderinnen sind. Diesbezügliche aus Leben und Kunst entnommene und von der Referentin analysierte Beispiele zeigten, daß es Ungleichzeitigkeiten auch in einem tiefpsychologischen, psychischen Sinn gibt. Vergangenes kann auch Verdrängtes sein, etwas das plötzlich und unkontrolliert ausbrechen kann.

In seinem Beitrag konfrontierte sich Mikhail Blumenkranz, Kulturwissenschafter aus Charkow, mit dem Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive. Politisch-soziale aktuelle Fragen wurden in bezug auf ästhetische Kategorien behandelt. Es ging vor allem um die ästhetische und geistige Zukunft der Menschen nach der Postmoderne, die sich laut Blumenkranz noch nicht überlebt hat. Eine philosophische, existenzielle Dimension kam in die Diskussion. Man fragte sich, was aus einer Gesellschaft wird, die die geistigen Interessen und Bedürfnisse an den Rand drängt, gar ignoriert und so Freiraum für Fanatismus und dubiose "Wunderheiler" schafft.

Nach den von den Beiträgen und den DiskussionsteilnehmerInnen hervorgerufenen Visionen von Gewalt und Tod, brachte Knut Ove Arntzen, Theaterwissenschafter aus Bergen, Beispiele von neuen positiven, ästhetischen und ethischen Formen von Vernetzungen zwischen Kunst und Leben. Es gibt internationale, transmediale, mobile, "nomadische" Prozesse, die Vergangenes und Modernes in einer (re)konstruktiven Zukunftsperspektive vermischen. Interessanterweise sind diese Kunstformen, obwohl es Ambiguitäten gibt, wieder sehr mit dem Alltag verbunden. So kamen wir auf den am Anfang eingeführten Versuch, Phänomenen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowohl in der Theorie als in der Praxis nachzugehen, zurück..

© Alessandra Schininà (Catania)

TRANSINST       Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Alessandra Schininà (Catania): Bericht über die Sektion "Anschauungen, Denkformen, Tradierungen und Kulturprozesse". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/schinina14.htm.

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