Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2003

Der Begriff der Zeit bei den Kasachen

Bachyt Spikbajeva (Almaty)

 

Im gegenwärtigen Territorium von Kasachstan haben schon im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die ersten Stammesvereinigungen der Skythen-Saken ihre Zivilisation entwickelt, deren Kulturerbe mit der Herrlichkeit des Goldschmucks (Skythentierstils) bis heute die Forscher beeindruckt. Die Skythen waren nicht nur durch ihren Goldschmuck bekannt, sondern auch durch ihre Weisheit. Damals gab es einen skythischen Weisen - Anacharsis. Einmal haben ihn die Griechen ausgelacht, weil er nach Griechenland gekommen sei, um die Griechen die Weisheit zu lehren. Darauf antwortete er: "Sie sind mit dem zugeführten Brot der Skythen zufrieden, aber warum muss die skythische Weisheit schlechter sein?" Als man ihn auslachte und sagte: "Sie haben nicht einmal Häuser, nur Jurten, wie kannst du über die Ordnung im Haus, im Staat sprechen?" Der skythische Weise antwortete darauf: "Ist das Haus - die Wände? Das Haus sind die Leute, und wo sie besser leben, darüber kann man noch streiten." Die Skythen leben besser, denn bei ihnen ist alles gemeinsam, es gibt nichts Überflüssiges, sie sind nicht neidisch. Und bei den Griechen haben sogar die Götter alles verteilt: einem gehört das Meer, dem anderen der Himmel, aber die Erde haben sogar die Götter nicht geteilt, und deshalb streiten sie bis jetzt darum. Dieses Pathos des Stolzes auf sein Volk, auf seine Erde auf die Lebensweise hat unser Volk als geistiges Kulturerbe geerbt (Kozybajev, 1994).

Der Geist des Volkes wird laut W. von Humboldt durch die Sprache ausgedrückt und bestimmt. W. von Humboldt hat die unzertrennliche Beziehung der Sprache und der Kultur betont, und die Sprache muss man nur in enger Beziehung mit der Kultur, die ein Volk hat, erforschen (Humboldt, 1985: 41).

In diesem Zusammenhang wird in diesem Beitrag jener Teil der Lexik der kasachischen Sprache analysiert, der die Begriffe der Maßeinheiten der Zeit und des Raumes beinhalten.

Diese Wörter und Wortverbindungen gibt es in allen Sprachen, und sie sind eng mit der Lebensweise, mit der Ethnografie und mit den Sitten und Bräuchen des jeweiligen Volkes verbunden.

Die Maßeinheiten vieler Völker sind einander ähnlich, denn die materielle Grundlage der Urgesellschaften waren die Jagd, die Landwirtschaft und Viehzucht. Und diese Beschäftigungen haben das Vorhandensein bestimmter Maßeinheiten gefordert.

Die Gesellschaft hat mit der historischen Entwicklung bestimmte Maßeinheiten vervollkommnet. Und das betrifft die Wörter und die Wortverbindungen, die die Begriffe der Maßeinheiten bezeichneten. Die Wörter und die Begriffe, die die Maßeinheiten der Zeit, des Raumes, der Länge, des Gewichts bezeichnen, entsprechen semantisch den Zahlwörtern (I. Kenesbajev, Ch.Musabajev: 26-29), (M. Balakajev, 1957: 19).

Die Wörter und Wortverbindungen, die die Idee der Zeit ausgedrückt haben, haben die objektive Wirklichkeit dargestellt.

Die Lebensweise der Kasachen als Nomadenvolk hat sicherlich die Idee der Zeit beeinflußt. Davon zeugen folgende Beispiele (Das etymologische kasachische Wörterbuch, 1966):

- Mamyr - (mal örgende), (bie bailar kez) - die Zeit, während der das Vieh zum Weideplatz gebracht wird.

- August - (kusem schak) - die Zeit, als die Schafe zur Schur gebracht werden.

Die anderen Wortverbindungen sind verbunden mit den Planeten:

- mit dem Aufgang der Venus (Scholpan tuganda);

Den Wechsel der Jahreszeit wird folgendes bezeichnet.

- [ sh a z b o j i ] - der ganze Sommer

- [ sh i l b o j i ] - im Laufe des Jahres

Den Wechsel der Zeit am Tage:

- [ s î s k e schak ] - der späte Morgen

- [ i n i r karangysi ] - die Dämmerung

Die Änderungen in der Natur:

- [kar bir shauganda] - die Zeit nach dem ersten Schnee

- [muz buzyla] - die Zeit, nach der das Eis gebrochen ist - Ende des Winters.

Für die Bezeichnung der Zeit gebrauchte man auch Wörter in der Traditionen des Islam:

- [auyz ascharda] - die Zeit des Abendessens während der Fastzeit;

- [ekindi mezgili] - die Zeit des dritten Gebets vor dem Sonnenausgang.

Die Idee der Zeit in der kasachischen Sprache drückt somit die notwendigen und täglich neu entstehenden Erscheinungen des Lebens aus. Den Begriff der Zeit kann man danach in fünf kleinere thematische Gruppen einteilen, die sich auf folgendes beziehen:

Besonders oft werden für den Ausdruck der Zeit die Planeten und die Sterne benutzt: Sirius, Plejaden, Venus, Mond, Sonne (Sh. Achmedova, 1973).

Die Kenntnisse über Astronomie, wann und von welcher Seite die Planeten und die Sterne aufgehen und in welcher Richtung sie sich bewegen und zu welcher Zeit sie untergehen, hat man von Generation zur Generation weitergegeben. Nach den Sternen hat man die Jahreszeit und die Zeit in der Nacht errechnet. Das hat den Kasachen geholfen, ihre landwirtschaftlichen Arbeiten zu beginnen oder ihre Schafe scheren zu lassen oder den Anfang der Weidezeit in den Steppen und in den Bergen zu bestimmen. Es gibt daher auch sehr viele Volkslieder und Sprichwörter über die Planeten. Zum Beispiel:

- [tandy Scholpan ojatar] - die Nacht vergeht, weil die Venus den Morgen weckt

- [urkerli aidyn bari kys] - man sieht die Plejaden; das bedeutet: die Wintermonate haben begonnen

- [urker tobege kelgende - kys ortasy bolgany] - wenn diePlejaden im Zenit sind; das bedeutet: die Mitte des Winters

Zu der Besonderheit der semantischen Reihe der Wörter und der Wortverbindungen, die den Begriff der Zeit ausdrücken, gehören die Benennungen der Lebensmittel und der Körperbewegungen des Menschen (Bolatowa, 1966:61):

- [et, sut, schai] - das Fleisch, die Milch, der Tee

- [koz, kaz, auyz] - das Auge, die Augenbraue, der Mund.

Diese Wörter in Verbindungen mit anderen Wörtern drücken die Benennungen der Zeitabschnitte aus. Zum Beispiel:

- [bir et asym] - die Zeit, die für das Kochen des Fleisches benötigt wird

- [bir sut pisirim] - die Zeit, die für das Kochen der Milch benötigt

- [bir schai ischim] - die Zeit, die man für das Trinken des Tees braucht

Sehr oft werden die Begriffe der Zeit mit Substantiven ausgedrückt. Dazu einige Beispiele:

- die Benennungen der Planeten und der Sterne:
die Venus, der Mond, die Plejaden, der Große Bär (der große Himmelswagen), der Sirius (der Hundsstern), (Scholpan, Ai, Urker, Sumbili, Sheti Karakschy) (A.Iskakov, 1964: 291-294; A. Chasenov, 1954: 259);

- die Benennungen der Lebensmittel:
[et, schai, sut], das Fleisch, die Milch, der Tee;

- die Benennungen der Haustiere:
[bie, at, koi, kozy, shabagy] -die Stute, das Pferd, das Schaf, das Lamm, das Frühlingsfell;

- religiöse Begriffe:
[akscham] - die Zeit des Abendgebets;
[besin] - die Zeit des Mittagsgebets;
[sakar] - der frühe Morgen, zu der Zeit wird bei den Muslimen gegessen, wenn sie fasten.

- die Benennungen der Jahreszeit und der Zeit am Tag und in der Nacht:
[ai]- der Mond (der Monat)
[shyl] - das Jahr
[kun] - der Tag (die Sonne)
[apta] - die Woche
[tan] - der Morgen
[tus] - der Mittag.

Es werden für die Bezeichnungen des Begriffs der Zeit auch Adjektive gebraucht. Zum Beispiel: [besin, kysyl] - die mittägliche Zeit, die Dämmerung (Kononov, 1956: 117-118).

Die Kasachen haben das Leben des Menschen in Zyklen bemessen. Das hat man den zwölfjährigen Zyklus [muschel] genannt. Der erste Zyklus besteht aus 13 Jahren und danach kommen 12 Jahre u s.w.

Und jeder Zeitabschnitt des Lebens des Menschen hatte seine Bedeutung. Jeder zwölfjährige Abschnitt im Leben des Menschen bedeutete die jeweilige Reife des Menschen und ein Übergang zur anderen Qualität des Alters.

Die Monate des Jahres werden auch entsprechend der Jahreszeit bezeichnet:

1. [kantar] - Januar - die Pferde stehen nach dem langen Weg

2. [akpan] - Februar - der weiße Schnee

3. [kokek] - März - die Kuckuckszeit

4. [saur] - April - der milde Wind

5. [mamyr] - Mai - die warmen Tage

6. [mausym] - Juni - die Übergangszeit

7. [schilde] - Juli - Hitzezeit

8. [tamys] - August - Regentropfenzeit

9. [misam] - September - Spinnwebenzeit

10. [kazan] - Oktober - Ende der Erntezeit

11. [karascha] - November - wenn die wilden Gänse abfliegen

12. [sheltoksan] - Dezember - Zeit der neunzig Winde.

Die Jahreszeiten sind auch entsprechend den Bedingungen der Viehzucht benannt:

[koktem - kokteu] - der Frühling, das Erscheinen des grünen Grases

[shaz shailau] - der Sommer, die Zeit, wenn das Vieh am Weideplatz ist

[kuz] - kuzeu] - der Herbst; wenn die Schafe zur Schur gebracht werden

[kystau] - der Winter, die Zeit, da das Vieh im Stall steht.

Was die Kategorie der Zeit in der Grammatik angeht, so hat man beim Vergleich dieser Kategorien zwischen der deutschen Sprache und der kasachischen Sprache festgestellt, daß die kasachische Grammatik nur eine Bedeutung - nämlich die Zeit als Zeit - kennt. Die Zeitverhältnisse (Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit, Nachzeitigkeit) als zweite grammatische Bedeutung dieser Kategorie sind nicht bekannt.

© Bachyt Spikbajeva (Almaty)

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LITERATUR

Sh. Bolatowa, Das etymologische kasachische Wörterbuch. Almaty, 1966.

Das etymologische kasachische Wörterbuch, II.Bd., Almaty, 1961.

A. Chasenow, Die moderne kasachische Sprache. Almaty, 1954.

A. Iskakov, Die moderne kasachische Sprache, Almaty, 1964.

A.N. Kononov, Die Grammatik der modernen literarischen usbekischen Sprache, M.-L. 1960.

Sh. Achmedova, Mittel der Bestimmung der Zeit im Kasachischen. Vestnik Akademie der Wissenschaften der Kasachischen SSR. Nr.6, 1973.

M. Balakajev, Die Haupttypen der Wortverbindung im Kasachischen, Alma-Ata, 1957.

I. Kenesbajev, Ch.Musabajev, Die moderne kasachische Sprache, Lexik, Phonetik. Almaty, 1962.

M. Kozybajev, Die Geschichte von Kasachstan. Almaty 1994.

W. Von Humboldt, Die Sprache und die Philosophie der Kultur M. 1985.


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Bachyt Spikbajeva (Almaty): Der Begriff der Zeit bei den Kasachen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
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