Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. April 2003

Täuschungs- und Enttäuschungsstrategien im Kriminalroman.

Dargestellt am Beispiel Gerhard Roths "Der Plan"

Vladimira Valkova (Veliko Tarnovo)
[BIO]

 

Möglicherweise ein authentischer Fall: 1958 verschwindet bei einer Ausstellung in Brüssel von Mozarts Arbeitspartitur "Das Requiem" die unterste Ecke und damit "die letzte sichtbare Spur, die der Unsterbliche auf der Erde hinterlassen hat" (P, 18). Der Bibliothekar Konrad Feldt gelangt unter verblüffenden Umständen in den Besitz dieses kostbaren Autographs: Der Dieb (der Oberaufseher der Österreichischen Nationalbibliothek) begeht vor seinen Augen Selbstmord. Dieses Ereignis sieht Feldt als die größte Herausforderung seines Lebens an und nimmt Kontakt mit einem japanischen Antiquitätenhändler auf. Weil es um eine kriminelle Geldaffäre geht, gestaltet sich der diskrete Kontakt mit dem dubiosen Dr. Hayashi jedoch schwierig und gefährlich. Das Unheimliche gipfelt im Mord am Kunsthändler, der ebenso vor den Augen Feldts erschossen wird. Der nun unter Mordverdacht stehende Feldt gerät in die faszinierende fremde Zeichenwelt Japans, in der er sich verfolgt und bedroht fühlt. Der als eine Vortragsreise getarnte Aufenthalt in Japan entwickelt sich für Feldt zugleich zu einer Entdeckungsfahrt in seine Innenwelt und wird zu seinem Verhängnis.

Makrokompositorisch gesehen, besteht der Text aus drei Teilen: ein kurzes, als eine Art Expositium dienendes Kapitel, sechs weitere durchnummerierte Kapitel mit entsprechenden Untertiteln, die den Hergang der Story darstellen und ein "Epilog" (Bericht des Sekretärs der Österreichischen Botschaft), bei dem durch eine objektive Zusammenfassung versucht wird, die Tatsachen aus einer "Summe von Spekulationen herauszufiltern" (P, 292). Trotz der analytischen Erzählweise dieses letzten Teils handelt es sich um keinen Detektivroman, da das Wichtigste, die begleitende Ermittlungsarbeit (die Detektion) eines exzentrischen Einzelgängers fehlt. Michael Wallner ist kein echter Vertreter der Staatsgewalt, der den Verbrecher überführt und damit Licht auf die Tat wirft. Eher agiert er als eine Nebenfigur, die aus Mitleid beinahe zum Komplizen des Verbrechers wird. Sein Bericht klärt den Tod nicht auf, sondern verschleiert ihn zusätzlich und spricht den Kriminellen von Schuld frei.

Von seiner dramatischen Struktur her gibt sich Roths Roman wie ein Krimi: Ausgangspunkt des Plots ist ein Selbstmord, der den illegalen Handel mit einem nationalen Kulturgut als eine Krise in Gang setzt. Der Tathergang unterliegt unterschiedlichen Peripetien wie Verfolgung, Feuer, Mord und endet mit der "Strafe" des Verbrechers, mit dessen Tod. Zu den Forderungen an den Kriminalroman gehören auch die Motive, die erzählerisch nicht völlig entwickelt werden, damit das Rätsel bleibt: Das Motiv des Selbstmordes ist ein von der Bibliotheksdirektion eingeleitetes Disziplinverfahren, das Motiv des Mordes ist Hasard und das Motiv des Diebstahls ist - oberflächlich gesehen - Geld bzw. finanzielle Unabhängigkeit. Aus diesem Tatbestand wird das Wichtigste - der Beweggrund für das Verbrechen des Protagonisten - ausgeschlossen. Obwohl der Plan von Anfang an als ein Delikt angegeben wird, erscheint es nicht als bereits begangenes, sondern als geplantes Vorhaben, das bis zum Ende des Romans auch nicht ausgeführt werden kann.

Der Zweifel des Lesers hängt einerseits mit Feldts Zögern und andererseits mit der personalen Erzählperspektive zusammen, die sich nirgends in eine Person einortet. Die Frage, wer erzählt die Geschichte, bleibt offen. Diese Frage ist insofern wichtig, als die Perspektive sich ausschließlich an eine paranoide Sicht auf die Welt bindet, so dass der Leser bei der Ermittlung des Falls nur auf seine eigene Perspektive angewiesen bleibt. Dadurch, dass die Geschichte aus der Perspektive eines personalen Mediums vermittelt wird, entstehen "Unbestimmtheitsstellen", die durch den Erzähler nicht erhellt werden. Sie lassen den Leser vermuten, dass "außerhalb des erfassten Sektors der dargestellten Wirklichkeit (...) etwas existiert oder geschieht, was für Bedeutung des Erzählten wäre."(1) Der Leser überschaut nur so viel wie auch der Detektiv. So wie dieser im Dunklen tappt, bleibt auch der Leser im Ungewissen.

Obwohl der Erzähler die Geschichte als miterlebend darstellt, wobei das epische Präteritum seine Vergangenheitsbedeutung verliert, bleiben wesentliche biographische Momente ausgespart. Der Leser erfährt von dem Protagonisten nur, dass der 35-jährige Germanist und Historiker Konrad Feldt ein lesesüchtiger Asthmatiker mit hochbegabter Phantasie ist, die zusammen mit seiner zweiten Leidenschaft (dem Sammeln von Landkarten) ihm "eine surreale Macht über Zeit und Raum" gewinnen hilft (P, 7). Dieser Zustand zwischen "entrückter Klarheit" und "Wachtraum" (ebd.), der abrupte Übergang von Bücherwelt zur fiktionalen Realität wird bis zum Ende des Romans beibehalten, so dass der Leser zwischen Traum und Wirklichkeit kaum unterscheiden kann. Diese Texteigenschaft hängt zusammen mit der ständigen Ablösung der Intro- von Retrospektive, die aber keine exakte Charakterisierung des Reflektierenden schafft. Feldt bleibt konturlos, ein Name mit einigen Neurosen und Eigenschaften, die sich jedoch niemals zu einem glaubwürdigen Charakter verdichten. Um ihn zu porträtieren, beschränkt sich Roth auf nüchtern vorgetragene Informationen wie: "Häufig waren Bücher, die gedruckten Buchstaben und Wörter, wie Drogen für ihn."(P, 7) Diese Bemerkung, die dem Exposé entnommen wird, dem Plan also, der dem Roman zugrunde liegt, postuliert eine Leseexistenz, die sich im Laufe des Erzählten als Besessenheit erweist und der der Protagonist zu entgehen versucht. Die Suche nach neuen Reizen kann auch in der vorgenommenen Reise nicht erfüllt werden, da er den Sinn des Lebens nur im Lesen findet, so dass er für jede neue Lebenslage die entsprechende Lektüre parat hat. Die Identifikation Feldts mit Protagonisten aus düsteren, ausweglosen Lektüren, der Stolz über sein Leiden und der explizit betonte Voyeurismus wirken verfremdend auf den Leser, so dass der für die Trivialliteratur typische Identifikationsprozess fehlt. Der Verfremdungseffekt ergibt sich auch aus dem um sich greifenden Misstrauen gegenüber den anderen, nur knapp umrissenen Figuren.

Die Lust des Lesers wird bei der Komplettierung des lückenhaften Lebenslaufs Feldts besonders stimuliert. Als Vergangenheitsbezüge dienen der Tod seines Vaters (eines Militärarztes), das deprimierende Abbrechen der als lästig empfundenen Beziehung zu seiner Mutter nach der Promovierung und die Trennung von seiner Freundin wegen seiner Leseleidenschaft, die er als eine leichte Erschütterung erlebt. Erwähnt wird noch eine Krise während seines 30.Geburtstags, die auf den Leser irritierend wirkt: Hingewiesen wird auf eine Vorstellung von Altwerden, die im vorangestellten Satz bei der Betrachtung im Spiegel durch ein jugendhaftes Aussehen widerlegt wird (P, 20). Solche Unstimmigkeiten können auch hinsichtlich der Handlungsmotive festgestellt werden: Obwohl Feldt als Bibliothekar tätig ist, fasst er den Plan, eine Stelle in der Nationalbibliothek zu erhalten. Als ein anderes Motiv wird die Angst vor dem Zurückkehren zu seinen alten Verhältnissen angeführt, die nicht erklärt werden. Auch die zahlreichen Reflexionen, die gegen die Regeln des Thrillers verstoßen,(2) vermitteln keine Konkretisierung der Tatmotive. Unerklärt bleiben sowohl die Ursachen für den Selbstmordversuch, der mit dem Tod des Vaters zusammenfällt, sowie die Anfangssituation, die Frage nach dem Motiv der Übergabe des Autographs an den Bibliothekar, als auch die Endsituation, die Umstände um dessen Tod. Die Informationsverweigerung bedingt die Spannung des Lesers und verlangt von ihm eine detektivische Sicht bei der Zusammenstellung der bruchstückartig vermittelten, verstreuten biographischen Stationen. Dabei wird auch die Bereitschaft des Lesers zur Fixierung des kausallogischen Zusammenhangs angeregt, die als "die hauptsächlichste intellektuelle Vergnügung"(3) beim Lesen von Kriminalromanen angesehen wird.

Eine der wichtigsten Erzählstrategien, die ein kriminelles Sujet suggerieren, ist die Vortäuschung von Action. Erreicht wird diese Textqualität durch das ständige Fahren, die Vielfalt der Schauplätze und deren jähen Wechsel, der zur Ursache für das Miterleben und die Neugierde des Lesers beiträgt. Auffallend bei dieser Dynamisierung der Wirklichkeit erscheint jedoch die Retardation der Handlung und die Zeitdehnung, die sich aus den ausführlichen Beschreibungen von Interieurs, Landschaften, zahlreichen Reflexionen, Erinnerungssegmenten und Abschweifungen ergibt. Ein anderer Aspekt der Aktion ist die Vortäuschung von Verfolgung, die durch das ständige Überprüfung des Autographs gesteigert wird. Die Erwartungen des Lesers, die durch Bücherreminiszenzen gesteuert werden, erweisen sich als trügerisch, als sich die Jagd als ein Verfolgungswahn herausstellt.

Die Spannung resultiert auch aus der Darstellung von Gefahren, die aus der Unbekanntheit des fremden Raumes hervorgehen, und die durch das Lesen bewältigt werden. Sie stecken in jedem Gegenstand, in jedem Bild. Die exotisch anmutenden Symbole der fremden Kultur verdichten sich zu einem Rätsel, das Feldt fast immer entziffern kann. Obwohl er die japanische Schrift nicht kennt, kann er sich fehlerlos orientieren. Dabei helfen ihm Bücher, die existenzielle Erfahrungen vermitteln. Und umgekehrt: "In der Zusammensetzung der Dinge, ihrer Anordnung und ihrer zufälligen Auswahl (ist) eine geheime Schrift verborgen, die er (...) hin und wieder lesen (kann)." (P, 154) Dabei richtet sich das Leserinteresse auf den Vorgang der Lesbarkeit der Welt und der Enträtselung des Lebenssinns. Die Fülle von Bücherverweisen, die als Ablenkungsmanöver und Schlupfwinkel die nicht linear verlaufende Fabel ausfächern, sind als Vergleichsmomente zur Situation des Protagonisten angelegt und beinhalten (An)Deutungsmuster. Der auf diese Weise gestiftete Palimpsest hat noch eine Funktion: die Darstellung einer gebrochenen Wirklichkeit. Als leidenschaftlicher Leser betrachtet Feldt die Wirklichkeit als Fiktion: die "absolute Erfüllung" wäre ihm, "lesend auf das wirkliche Leben verzichten zu können" (P, 65). Annährungen an diesen Zustand hat es für ihn von Kindheit an gegeben, immer dann, wenn sich ihm, von einem schweren Asthmaanfall körperlich geschwächt und geistig sensibilisiert, die Welt der Worte und Buchstaben, der Bücher und Bilder als sinnlich erfahrbare Räume darstellten. So ist Feldts Reise nach Fernost auch eine Reise durch das Innere eines bibliophilen Gehirns (P, 39), dem sich die Welt als zu dechiffrierendes Zeichensystem offenbart. Feldt bewegt sich so, als wären Welt- und Ich-Erfahrung, Liebe, Angst und Tod ein Secondhand-Erlebnis, das es immer schon irgendwo im "Tollhaus" der Bibliothek als Geschichte, Foto oder Bild gegeben hat. Alle Wahrnehmungen des Protagonisten sind durch die gelesene Literatur assimilierte Empfindungsmuster, so dass Feldt der Wirklichkeit begegnet, als wäre sie Text. Der Verlust des Gefühls für die Realität wird durch die Betrachtung im Spiegel vermittelt, der auch als ein Mittel zur Darstellung seiner "schizophrenen Gespaltenheit" (P, 190) dient. Je intensiver er die Welt in Spiegeln betrachtet, desto mehr verwandelt sich diese in ein rätselhaftes, verwirrendes Buch mit undeutbaren Zeichen. Alles darin scheint mit Feldt in Zusammenhang zu stehen, und wenn seltsame Wiederholungen und unglaubliche Zufälle dargestellt werden, beschleicht den Leser der Verdacht, dass Feldt die Österreichische Nationalbibliothek niemals verlassen hat und dort noch immer träumend über seinen geliebten Büchern und den farbenfrohen Japanplänen sitzt. Dieser Eindruck verstärkt sich einerseits durch die besondere Phantasiebegabung Feldts und andererseits durch den stetigen Zustand des Halbschlafs. Das Verschwinden des authentischen Erlebens und damit eines jeweils an einzelne Subjekte gebundenen Wertsystems als Äquivalent zu einem gierig konsumierenden Egoismus darf wohl als subtile Zivilisationskritik verstanden werden.

Weitere spannungserzeugende Momente lassen sich mit dem legendenumwobenen Autograph verbinden, auf dem die letzte Notiz Mozarts wie eine mystische Prophezeiung zu lesen ist: die Bemerkung "quam olim da capo" (wie einstmals noch einmal) bezieht sich auf die Wiederholung der Strophe "wie du einstmals Abraham verheißen hast" (P, 48) und lässt zusammen mit der ständigen Zitation von Dantes Werk "Göttliche Komödie" den seltsamen und ausschließlich durch den Zufall bedingten Auftrag als einen Gottesplan erscheinen. Die Apokalypse, sinnbildlich dargestellt im Ausbruch des Vulkans am Ende des Romans, kann jedoch in dem von Feldt selbst entworfenen I-Ging-Rätsel(4), nicht erahnt werden. Das Entkommen dem Abgrund bestätigt die Übermacht des Lesekünstlers, die jedoch durch einen zufälligen Schuss parodiert wird.

Der Mord Feldts durch Vertreter der Staatsgewalt, die ihr Verbrechen verschweigen, entspricht dem vorangestellten Motto des Romans, das dem Kriminellen einen allgemeingültigen Charakter verleiht, der einerseits auf den Leser provozierend wirkt und andererseits die Präsenz der "guten Kräfte" ausschließt. Das Fehlen des bipolaren Modells, eines Protagonist-Antagonist-Stereotyps, bedingt ein Sujet, das sich auf die Angehörigen der asiatischen Rasse als Vertreter der outgroup, als Projektionen der Vorurteile des lesenden Bürgers orientiert. Da aber der Roman aus der Perspektive des Verbrechers erzählt wird, wodurch sich Möglichkeiten ergeben, die für die Motivation des Verbrechens entscheidenden psychischen Zwängen zu erklären, bleibt die Frage nach dem moralischen Anspruch der Ingroup irrelevant.

© Vladimira Valkova (Veliko Tarnovo)

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LITERATURVERZEICHNIS

Primärwerk:

Roth, Gerhard: Der Plan, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1998.

Sekundärwerke:

1. Finckh, Eckhard: Theorie des Kriminalromans. Arbeitstexte für den Unterricht, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1998.

3. Günther, Michael: I Ging. Text und Materialien, übersetzt von Richard Wilhelm, 18. Auflage, Eugen Diederichs Verlag, München, 1993.

3. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 2. Auflage, Band 191, Metzler Verlag, Stuttgart, 1992.

4. Nusser, Peter: Trivialliteratur, Band 262, Metzler Verlag, Stuttgart, 1991.

5. Stanzel, Franz: Theorie des Erzählens, UTB Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1979.

 

ANMERKUNGEN

(1) Zit. nach Franz Stanzel : "Die Opposition Modus und Unbestimmtheitsstellen" in: "Theorie des Erzählens", Vandenhoeck und Ruprecht, 1979, S. 205. Vgl. auch: "Die Unbestimmtheitsstellen ([...]"erhalten daher manchmal einen bedrohlichen oder zumindest ominösen Charakter").

(2) Vgl. dazu Peter Nusser: "Die Figuren des Thrillers" in: "Der Kriminalroman", Stuttgart: Metzler, 1992, Bd.192, S. 65.

(3) Zit. nach Bertolt Brecht: "Diskussion" in "Theorie des Kriminalromans. Arbeitstexte für den Unterricht.", hrsg. von Eckhard Finckh, Philipp Reclam, Stuttgart, 1998, S. 52.

(4) Ein in der chinesischen Kultur als Orakel fungierendes Ideogramm, das mittels Schafgarbenstäbchen oder Münzen entworfen wird. In diesem Fall bedeutet es "Kan, das Abgründige, das Wasser". Vgl. dazu: "I Ging. Text und Materialien", a.a.O.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Vladimira Valkova (Veliko Tarnovo): Täuschungs- und Enttäuschungsstrategien im Kriminalroman. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/valkova14.htm.


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