Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juni 2004 | |
1.2. Signs, Texts, Cultures.
Conviviality from a Semiotic Point of View / Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Grundlagen/Fundamentals |
Teil 1/Part
1: Theorie/Theory |
Teil 2/Part
2: Sprache(n)/Language(s) |
Teil 3/Part
3: Literatur(en)/Literature(s) |
Teil 4/Part
4: Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs |
Jeff Bernard
(Wien)
[BIO]
Zusammenfassung: 1. Zeichen; 2. Texte; 3. Kulturen; 4. Differentielle (semiotische) Kulturtheorie; 5. Semiotiken here and now; 6. Sozio-Semiotik und Sozio-Kultursemiotik; 7. Zukunft der Semiotik; 8. Semiotik der Zukunft; 9. Alternative Zukunft: Konvivialität; 10. Semiotik der alternativen Zukunft.
Ein Zeichen ist etwas, das für etwas anderes steht, um Bedeutung konstituieren, speichern und vermitteln zu können. Damit es dies tut, muß es interpretiert werden. Damit dies gewährleistet ist, bedarf es der Verknüpfung mit anderen Zeichen. Ein Zeichen tritt also nie vereinzelt auf, sondern stets eingebunden in - im Prinzip endlose - Zeichenketten. Somit ist das Konzept des Zeichens eigentlich eine Abstraktion, um der involvierten Elemente theoretisch habhaft zu werden. Tatsächlich aber handelt es sich um einen Prozeß: den Zeichenprozeß (bzw. Semiosis), den wir mithilfe von Zeichenmodellen nur annähernd beschreiben können. Wer dies außer acht läßt, wird nur eine formale Semiotik zustandebringen. - Ein Zeichen ist etwas, das für etwas anderes steht: es kann auch für etwas ganz anderes stehen, als man annimmt. Es gibt auch Zeichenbarrieren, Zeichenstörungen, Zeichenzerstörungen... Darin drückt sich bereits im Kleinen aus, was das gesamt Sein und Werden bestimmt: der Widerspruch (Heraklit).
Texte (inkl. "Diskurse"), sind Superzeichen, die aus Zeichen zusammengesetzt sind; sie sind also Zeichen höheren Komplexitätsgrades. Die Analyse von Texten ohne Bezug auf deren Zeichencharakter ist daher im Grunde unmöglich und kann nur marginale Aspekte zutage bringen. Der semiotische Textbegriff ist ein umfassender, er betrifft alle verbalen, nonverbalen und kompositen Textsorten, er betrifft materielle Gegenstände in ihrem Zeichenaspekt, alle intentional und nonintentional verwendeten Kommunikationsmittel und schließlich auch die Gedanken selbst (Peircens "thought signs, denn "Modelle" der äußeren Zeichen sind selbst auch Zeichen, und Texte "im Geiste" daher selbst auch Texte). Welterfahrung, Weltaneignung und Weltgestaltung erfolgt zeichenvermittelt und also zwangsläufig textvermittelt (was nicht bedeutet, daß es nicht auch materielle Aneignung gäbe; hier ist trotz umfassenden semiotischen Anspruchs kein Pansemiotismus intendiert). Selbstverständlich beinhaltet auch die Welt der Texte den Widerspruch, der die Welt an sich in Gang hält.
"Kultur" ist ein viel- und vielleicht überstrapazierter Begriff. Seine Bedeutung oszilliert gewaltig, von einem sehr engen, (auch politisch) restriktiven Verständnis mit manchen je verschieden breit konventionalisierten Übergangsstufen bis hin zu jenem sogenannten "objektiven Kulturbegriff" der (Kultur)Anthropologie, der alle Hervorbringungen des Menschen umfaßt, externe wie interne. Es stellt sich also die Frage, ob "Kultur" überhaupt ein operationaler Begriff oder eben in Anführungszeichen zu setzen ist. Der seit Entwicklung der Kultursemiotik gängige semiotische Kulturbegriff stützt sich auf die vorfindbare Hierarchie "Zeichen - Text - Kultur". Wenn ein Text ein aus Zeichen gebildetes Superzeichen ist, dann ist Kultur ein aus Texten gebildetes Super-Superzeichen, oder auch ein aus Texten gebildeter Supertext. Nun ist allerdings der Punkt erreicht, angesichts des bereits zweimal erwähnten Widerspruchs die Frage aufzuwerfen, ob dies in bezug auf Kultur nicht eine allzu vereinfachende Sicht ist. Ich schlage in Hinblick auf den Kongreßtitel vor, "Kultur" als "Intertext" aufzufassen, d.h. damit jenen Raum zu bezeichnen, in dem sich die empirisch-realen Kulturen entfalten und auch miteinander interagieren, ob nun friedlich oder auch nicht, denn es gilt, einem reduktionistischen Scheinholismus entgegenzutreten, der in letzter Konsequenz "Kultur" als Herrschaftsinstrument mißverstünde. Eines jedenfalls steht fest: wenn Semiotiker von Zeichen oder Texten reden, reden sie zugleich auch über Kultur(en), explizit oder implizit.
Diese differenzierende Sicht wird unterstützt von Forschungsrichtungen wie Cultural Studies, Gender Studies, Black Studies, Post-colonial Studies, Subkulturtheorie etc., denen es ein Anliegen ist, die Deckungsungleichheit von "Gesellschaft" und "Kultur" nicht aufzuheben, sondern genau in ihrer Widersprüchlichkeit zu thematisieren und Kulturen (Teilkulturen, Subkulturen, Gegenkulturen etc.) in ihrer Gesellschaftlichkeit und damit Geschichtlichkeit zu deuten. Es kommt hinzu, daß besagte Richtungen bei genauerer forschungsgeschichtlicher Betrachtung selbst in gewissem, teils beträchtlichem Ausmaß Derivate semiotischer Konzeptionen sind und somit als die "andere Kultursemiotik" betrachtet werden dürfen, wodurch sich das Korpus nicht unversöhnlicher Ansätze erweitert. Resultat dieses Vorgangs muß sein, daß die singuläre Hierarchie "Zeichen - Text - Kultur" durch die plurale von "Zeichen - Texte - Kulturen" ersetzt wird (in welcher Kultur-an-sich nur mehr als der oben erwähnte Intertext fungiert) sowie mit erweiterten Feinabstufungen der Textualität versehen wird.
Was hat dies für Konsequenzen angesichts des state of the art heutiger Semiotik(en)? Die Semiotik hat eine (zumindest) zweieinhalbtausendjährige (Krypto)Geschichte hinter sich und hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. und er ersten des 20. Jhdts. in den Werken der Gründerväter als jenes grundlegende transdisziplinäre Feld manifestiert, das dann in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. eine Proliferation, eine Disziplinwerdung erfuhr, die noch keineswegs abgeschlossen ist. Zur Jahrtausendwende ist diese Bewegung nun in die enzyklopädische Phase getreten, wie die diesbezüglichen, von Sebeok, Bouissac, Nöth und Posner et al. herausgegebenen Großwerke belegen. Dies förderte die Entwicklung einer Intersemiotik, die letzliche eine "global semiotics" (Sebeok) a(n)visiert. Doch bleiben die Wurzeln noch klar erkennbar: vereinfachend möchte ich (in genetischem Sinne) als major currents unterschieden: 1) die Strukturalismen, 2) die pragmatizistisch-philosophischen Ausprägungen (samt engen Verwandten), 3) den bio-evolutionären und 4) den sozio-evolutionären Flügel. Während bis dato Kontroversen hauptsächlich zwischen 1) und 2) das Feld belebten, rückt nun im Hinblick auf die Grundlagendiskussion zusehends der Gegensatz zwischen 3) und 4) in den Vordergrund (der allerdings kein unüberwindlicher ist).
Von den angesprochenen Strömungen scheint mir in bezug auf das Thema Kultur(en) als a priori sozialem Phänomen die sozio-semiotische am grundlegendsten zu sein. Die Konturen dieser Strömung sind in der gängigen semiotischen Literatur, z.B. den erwähnten Enzyklopädien (aus wissenschaftskulturellen Gründen) noch zu wenig offensichtlich geworden. Ich möchte dem hier entgegenhalten: Die sozio-semiotische Richtung besitzt ihren Gründervater im (Anti-Strukturalisten) M.M. Bachtin und fand ihre entschiedenste, hoch-elaborierte Ausprägung in Ferruccio Rossi-Landis Werk, dessen Zeichenbegriff besagt, daß ein Zeichenträger der Identifikator eines Stücks Gesellschaft ist, und beide zusammengeschweißt (auf Zeit) das Zeichen bilden, nämlich basierend auf Zeichenarbeit. Hierauf beruht auch Rossi-Landis große Matrix der Homologie sprachlicher und materieller Produktion (vom mir erweitert zum Allgemeinen Homologiemodell, das auch die interne Ideologieproduktion umfaßt; s. Semiotica 148(1/4)2004: 47-68), all dies mit dem späten Rossi-Landi eingebettet in die gesamtgesellschaftliche Reproduktion, mit den Zeichen(systemen und -prozessen) als zentralem Agens. Eine Sozio-Kultursemiotik, wie sie mir vorschwebt, verbindet diese Theoreme mit Ansätzen der bereits erwähnten kultursemiotischen Strömungen klassischer und alternativer Herkunft.
Semiotik ist die Wissenschaft von den drei großen (und miteinander verschränkten) "K": Kommunikation, Kognition, Kultur. Bei Rossi-Landi ist erstere als Zeichenaustausch definiert, zweitere v.a. im Inhalt gefaßt, nämlich Ideologie (im weitesten, nonpejorativen Sinn), letztere das gesamtheitliche Resultat aller Zeichenarbeit (als Umwandlung von Natur in Kultur). Die Natur kommt also auch mit ins Spiel. Daher möchte ich Punkt 5 noch etwas vertiefen: die Strukturalismen haben bisher die breiteste semiotische Literatur geliefert und unverzichtbare Methoden entwickelt; die pragmatizistisch-philosophische Strömung erbrachte die bisher umfassendst konzipierte Fachsemiotik (Peirce/Morris/Bense) in bezug auf die Binnenstruktur des Zeichens; Biosemiotik befaßt sich (im Gefolge J. von Uexkülls) mit den organismischen Grundlagen und dem zeichenvermittelten Innenwelt/Umwelt-Bezug, und Sozio-Semiotik tut dasselbe letztendlich in bezug auf die komplexeste Umwelt, nämlich die menschgemachte, die dies zudem mehr und mehr wird, sodaß die Natur in Bedrängnis gerät, und wir letztlich mit ihr - bleiben wir doch (im Sinne der Aufhebung und zugleich Bewahrung des Widerspruchs) biotische Wesen. Der oben dargelegte Grundlagenstreit ist zwar notwendig, doch nicht um Sieger und Besiegte zu ermitteln, sondern zwecks Abklärung der Kompetenzen und finaler Komplementarität.
Die Semiotik, schon vorschnell als Organon der Wissenschaften apostrophiert, wird sich diese Zuschreibung erst erringen, d.h. ihr Potential tiefer ausschöpfen müssen. Diese (noch) utopische Semiotik zeichnet sich jedoch schon ab, behaupte ich, und zwar in zwei Tatsachen: erstens in der Möglichkeit, das gesellschaftlich-historisch Gewordene und Bestehende zu modellieren und zu extrapolieren. Ich umreiße dies hier nur im Sinne größtmöglicher Verknappung: Man stelle sich eine Triade vor; sie steht für die fundamentale und unhintergehbare Bewegungsform Produktion-Austausch-Konsumtion (Marx), eingeschrieben und im Apex mit ersterer zusammenfallend eine kleinere Triade von Zeichenproduktion-Zeichenaustausch-Zeichenkonsumtion (Rossi-Landi), und noch einmal in dieser gleichsinnig als dritte Triade: Ideologieproduktion, -austausch und konsumtion (Bernard). Man hebe die mittlere Triade äußerst fett hervor; sie steht dann pejorativ für "communication-production" (Petrilli/Ponzio), d.h. für die dominante und expansive Produktionsweise des Zeitalters der sog. Globalisierung (IT & Telematik samt Überbau frei flottierender Hochfinanz, Neoliberalismus etc.). Es erhebt sich sofort die Frage: Kann diese sich in eine neue Hegemonie und den "Rest der Welt" aufspaltende Produktionsweise endlos weiterbestehen? Was sind ihre "natürlichen" wie "kultürlichen" Grenzen? - Zum zweiten Punkt einer Semiotik der Zukunft siehe These 10.
Die globalisierte, doch authetische Kommunikation technologisch verkürzende "communication-production" bringt uns zu dem Punkt, an dem ich bei der Inszenierung der Sektion Zeichen/Texte/Kulturen auf Ivan Illichs Konzept der Konvivialität zurückverwiesen wurde. Er war der wohl schärfste Kritiker der "industrial mode of production", und wäre er noch am Leben, würde er sich in gleichem Sinne der "post-industrial mode of production", also der "communication-production" zuwenden, speziell da sich viele seiner Thesen bewahrheitet haben. Er kritisierte treffend die nach anfänglich positiven Wirkungen negativen Folgen der Proliferation unserer zentralen Werkzeuge bzw. Technologien und setzte dem die Forderung nach "tools for conviviality" entgegen, "to restrain the power of man's tools when they tend to overwhelm man and his goals". Illich war kein Semiotiker (vielleicht allerdings ein impliziter im Sinne Ecos), doch die Verwandtschaft zur oben angesprochenen Konzeption ist offensichtlich: auch Zeichen sind Werkzeuge, Werkzeuge der Weltaneignung, und die inneren Zeichen (Ideen) um nichts weniger. Die von uns vorgeschlagene Sozio-Semiotik ist eine der Artefakte weitesten Sinnes: trivial-materielle, kommunikative und mentale Artefakte. Wir können also die semiotische Verallgemeinerung Illichscher Theoreme wagen.
Futurologie ist ein Produkt der Mitte des 20. Jhdts. und scheiterte an ihrer allzu linearen (undialektischen) Grundkonzeption, die Zukunft selbst aber bleibt ein Problem in Form der challenges. Wir nehmen aus der Blüte der Futurologie mit: Flechtheims Definition dieser als Einheit von Prognostik, Planung und Utopie (samt Schwendters Randbemerkung: widersprüchliche Einheit dieser; samt weiters Rossi-Landis Hinweis auf "social programming" via Ideologie); wir nehmen aus der sog. kritischen Futurologie zudem mit: die Unterscheidung zwischen erwartbarer und wünschbarer Zukunft. Wer die erwartbare negiert, wird keine Nische für die wünschbare auftun können; wer keine wünschbare Zukunft formuliert, wird in blinder Praxis enden. Hier kommt die Ethik als Grundlage des Handelns mit ins Spiel, und mit dieser auch der zweite Punkt zu These 8 (und dazu die Biosemiotik). Die erwartbare Zukunft ist die Vereinigung der Maschinerien von IT und Bionik im Sinne des Trends zur Subsumtion aller Biomasse unter die Verwertungsinteressen des Kapitals. Die wünschbare Zukunft ist auf jeden Fall eine andere, nämlich eine konviviale. Gründend v.a. auf J. von Uexkülls Semio-Umweltlehre, Sebeoks "global semiotics" und Lady Welbys früher semiotischer Befassung mit Ethik haben Susan Petrilli und Augusto Ponzio erstmals eine direkt aus der Semiosis abgeleitete Semioethik postuliert, die für den Umgang mit der ökologische Krise handlungsleitend werden sollte. Neben die sozio-semiotische Beschreibung der Gesellschaft muß die biosemiotische ihrer Umweltinterdependenzen treten, denn Gesellschaft ist eingebettet in das Öko-Supersystem Raumschiff Erde. Wenn es aus Selbstverschulden der Menschheit kentert, gehen wir alle unter.
© Jeff Bernard (Wien)
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