Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gerhard Fröhlich (Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Vom Mangel an Überfluss zum Überfluss an Mangel
- über Differenz und Ambivalenz zweier Systeme

Thomas Duschlbauer (Linz)
[BIO]

 

 

"Jeder, der Ungeheuer bekämpft, soll zusehen, daß er im Laufe dessen nicht selbst zum Ungeheuer wird. Und wenn du in den Abgrund blickst, so blickt der Abgrund auch in dich."

Friedrich Nietzsche

Einleitung

Es lebe der Unterschied. Der Unterschied ist das Leben. So etwa könnte man Vilém Flussers Definition von Kommunikation zusammenfassen und damit gleichzeitig einen Versuch wagen, sich seiner Sicht von Differenz anhand des Phänomens der Kommunikation anzunähern. Kommunikation lebt vom Austausch, vom Austausch an Informationen, die ihrerseits vom Unterschied leben. Kommunikation ist in den Augen Flussers aber auch ein Kunstgriff des Menschen, der von Natur aus zum Tode verurteilt ist, gegen die Entropie beziehungsweise den Tod als absoluten Ausdruck der Differenzlosigkeit. Kommunikation lebt nicht nur vom Unterschied, sondern repräsentiert auch die menschliche Existenz aus seiner Erkenntnis der Sterblichkeit heraus(1).

Ausgehend von dieser Definition ist die Fähigkeit zur Kommunikation daher nicht nur eine typische Eigenschaft des Menschen, sondern viel mehr - die Fähigkeit zum Mensch-Sein resultiert aus einer typischen Eigenschaft der Kommunikation, die auf Differenzierung beruht. Wie wichtig der Aspekt der Differenz zur Aufrechterhaltung des Selbst ist, zeigt sich auch anhand einer Analyse der Worte "Ich bin der, der ich bin", mit denen sich Gott gegenüber Moses zu erkennen gab. Für Flusser würde diese Aussage einerseits die absolute Identität mit sich selbst darstellen, andererseits ist sie aber auch Ausdruck einer völligen Differenzlosigkeit. Die Aussage 1=1 ist als Tautologie demnach wahr, jedoch birgt sie keinerlei Informationswert, denn die "Wahrheit ist kein anstrebbares Ziel, sie ist leeres Gerede." (2)

Insofern wissen wir nur von einer An-Wesen-heit, über deren Wesenheit wir aber nichts aussagen können. Unser Wissen über unseren Schöpfer beziehen wir in diesem Fall daher nicht aus einem Inhalt einer authentischen Botschaft, sondern die Authentizität Gottes erschließt sich aus einer Anwesenheit als bloßes Medium das aufgrund seiner Ununterscheidbarkeit zu sich selbst nun selbst - so würde es zumindest McLuhan sehen - zur Botschaft wird.

Mit dieser Betrachtungsweise von Differenz steht Flusser allerdings nicht alleine da. Diese Thematisierung ist typisch für die Postmoderne, insbesondere für den Poststrukturalismus, wobei in der Pluralität ein Schlüssel für die Probleme der Moderne gesehen wird. Diese Probleme resultieren unter anderem angeblich aus der Gleichschaltung von Diskursen und der Verabsolutierung von Vernunft. So bezieht sich beispielsweise Jean François Lyotard auf die Theorie der Sprachspiele von Ludwig Wittgenstein, erkennt darin jedoch keine Möglichkeit von Verbindungen oder Brücken. Ziel eines Sprachspiels ist daher nicht der Konsens, sondern dessen Zustand, weshalb Lyotard für den Dissens und die Divergenz in die Vielfalt plädiert, um gegen den gefälligen Eklektizismus, das Mittelmaß und das Köcheln auf lauwarmer Flamme anzukämpfen.

Was bei Lyotard als Verabsolutierung der Vernunft oder gar als Terror der Theorie zu verstehen ist, könnte bei Jacques Derrida als eine Form des Zentrismus gedeutet werden. Derrida tritt diesbezüglich für das Prinzip der Simultaneität gegenüber dem der Hierarchie und Chronologie ein, denn verschiedene Denkarten könnten gleichzeitig nebeneinander - als Supplement, als gegenseitige Ergänzung und gegenseitiger Ersatz - existieren. So schreibt er über Europa und die westlich-abendländische Kultur, die entweder stets von äußeren Einflüssen geprägt war oder sich gerade aus der Abgrenzung zu diesen definierte:

Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren, "ich", "wir" oder "uns" sagen und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber identisch ist, als sie, wenn Sie so wollen mit sich differiert. [...] Es gibt keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst.(3)

Ähnlich sehen dies auch Michel Foucault, der von einem geografischen Denken spricht, dessen unterschiedliche Bestimmungen nebeneinander liegen wie die unterschiedlichen Gebiete auf einer Landkarte, sowie Gilles Deleuze, der ebenfalls Gleichzeitigkeit und Gleichursprünglichkeit ortet. In diese Reihe fügt sich auch Jean Baudrillard mit seinen Implosionsphänomenen beziehungsweise der Tendez der Phänomene in sich zusammenzubrechen und damit sich selbst und unsere Annahmen darüber aufzuheben. Ein Beispiel für ein solches Implosionsphänomen wäre das Begriffspaar "öffentlich" und "privat", das immer ambivalenter wird, weil die Medien zunehmend alles Private an die Öffentlichkeit zerren und das an sich Öffentliche immer mehr zur Privatsache einiger Eingeweihter wird.

 

Differenz und Ambivalenz "zweier" Systeme

Ein weiteres Phänomen der Implosion im Sinne von Baudrillard könnte man auch in der Beziehung zwischen dem Kapitalismus des so genannten "freien" Westens und dem als totalitär bekannten Kommunismus sehen. Gemeint sind in diesem Essay allerdings weniger die jüngsten Ereignisse rund um die USA nach dem 11. September, denn Folter und Missbrauch haben genauso wie Genozid und Sklaverei auch hier eine lange Tradition. Viel mehr geht es in diesem Text um neue Formen des Konsums, insbesondere um eine künstliche Mangelwirtschaft in den westlichen Industrieländern.

Obwohl wir angeblich von so vielen kompetenten und innovativen Dienstleistern umgeben sind und wir in einer Zeit des Überflusses leben, müssen wir dennoch häufig lange Wartezeiten in Kauf nehmen, wenn wir als Konsumenten Leistungen einfordern. Dies gilt speziell für moderne Unternehmen wie etwa Provider oder Mobilfunkanbieter, die man eigentlich der ach so schnellen New Economy zuordnen würde - obwohl angesichts der derzeitigen Lage nichts älter ist als die New Economy. Eine solche Situation weckt lebhafte Erinnerungen an die Zeiten des Real Existierenden Kommunismus. Ausgehend von diesem und ähnlichen Phänomenen wie etwa künstliche Knappheiten durch spezielle Aktionen in Supermärkten wie Hofer kann man zur Überzeugung gelangen, dass es in unserem kapitalistischen System einerseits tatsächlich Strukturen gibt, die aus der kommunistischen Mangelwirtschaft übernommen wurden, und dass es andererseits vielleicht sogar eine Käuferschicht - die so genannten "Schnäppchenjäger" - gibt, die sich an den Demütigungen der Marktwirtschaft erfreuen, weil sie im Gegenzug "ja nicht blöd" sind und Geld für teure Markenartikel ausgeben.

So könnte man auch mutmaßen, dass der Kommunismus nicht einfach aufgrund der enormen Veränderungsdynamik und Anziehungskraft des Kapitalismus "zusammengebrochen", sondern von diesem teilweise absorbiert beziehungsweise verinnerlicht worden ist. Dem Real Existierenden Kommunismus wurde das Reale entzogen, so dass er heute lediglich als etwas Imaginäres fortbestehen kann, das sich auf Symbole wie Hammer und Sichel und ikonenhafte Darstellungen wie etwa von Che Guevara stützt, die heute ebenfalls Teil der westlichen Konsumkultur geworden sind und unter anderem sogar auf lustigen Kopfbedeckungen appliziert werden, die an Narrenkappen erinnern.

So wurde der Kommunismus durch den Kapitalismus dissimuliert, um weiterhin die wichtigsten Grundsäulen des Kapitalismus simulieren zu können. Mehr noch, das für den Westen einst Subversive am Kommunismus wurde geschickt mit dem Schmuddelimage des früheren Ostens vereint, so dass es sich heute ideal in unsere Trash-Kultur fügt und auch bequem vom Spießertum konsumiert werden kann, denn " - nichts ist mehr provokant, da die Mode jedes Aufbegehren im Nu zum Mainstream erhebt. Der moderne Spießer stöbert auf Flohmärkten, liebt Spieleabende und Caipirinha, er findet sich in Fitnesscentern, Altbauwohnungen, Multiplexkinos - und in Swingerclubs."(4)

Insofern ist es für den Kapitalismus auch durchaus dienlich, dass es noch solche Refugien des "bösen" Kommunismus wie Nord Korea oder Kuba gibt, um diese Illusion eines "Anderen" - wie wir es noch von früher her kennen - aufrechtzuerhalten. Durch die Präsenz einer kommunistischen Symbolik und das gleichzeitige Zulassen der Existenz von "Schurkenstaaten" lässt sich weiterhin eine vermeintliche Differenz aufbauen, die in einem scheinbaren Gegensatz zu den Mythen einer kapitalistischen Gesellschaft stehen.

 

Konsumverzicht oder Verzichtskonsum?

Dabei geht es nicht nur schlicht um die Beibehaltung eines traditionellen Feindbildes, um beispielsweise mit Hilfe der Abgrenzung aus der Differenz heraus die eigene Identität zu festigen, sondern auch darum, Strukturen zu übernehmen, die das eigene Überleben sichern sollen. Gerade in einer Zeit, in der alles im Überfluss produziert werden kann, erscheint es ökonomisch durchaus sinnvoll, auch den Verzicht als exklusive Ware oder Dienstleistung zu inszenieren.

So werden etwa das Fasten oder andere Formen der Enthaltsamkeit immer mehr propagiert und die Konsumenten sind heute sogar dazu bereit, mitunter dafür zu bezahlen, dass sie gewisse Leistungen nicht erhalten oder auf gewisse Produkteigenschaften verzichten können. Beispiele dafür sind Lightprodukte wie Kartoffelchips, die nur halb soviel Fett enthalten, dafür jedoch mehr kosten als herkömmliche Produkte dieser Art sowie die aromatisierten Mineralwässer, die lediglich geschmacklich an das erinnern, was ihnen angeblich beigefügt wurde. Dafür dürfen sie sich auch als "functional drinks" bezeichnen, weil sie für die Puristen auf vermeintliche Funktionen reduziert wurden.

Typisch für den Verzicht der Gegenwart ist auch, dass er nicht vom Mangel, sondern vom Überfluss geprägt ist. Man glaubt beispielsweise nicht genug Wohnraum zur Verfügung zu haben und plant das größere Haus daher als Passivhaus, oder man denkt, dass ein DVD-Player nicht ausreicht und nimmt ein solches Gerät gleich im Doppelpack oder mit einer Digitalkamera.

Offensichtlich nähern wir uns immer mehr einer Verzichtskultur mit masochistischen Zügen, denn Geiz, der früher allgemein als unerotisch galt, ist nun etwas geworden, was uns "geil" macht. Das Begehren findet zunehmend um des Begehrens Willen statt. Dies gilt sowohl für den Schnäppchen-Jäger als auch für denjenigen, der um viel Geld in einem Waldviertler Kloster bei Brot und Wasser auf einer Holzpritsche seinen Konsumrausch ausnüchtert. Zudem sind die Fetisch-Objekte unserer Konsumkultur derart konzipiert, dass sie für uns zwar Botschaften - wie etwa Image - transportieren, während sie unser Begehren nicht erwidern können. Wenn man beispielsweise davon spricht, dass die Waren immer stärker zum Ausdruck unserer Persönlichkeit werden, dann ist es an der Zeit, auch die Differenz in der Subjekt-Objekt-Beziehung zu überdenken.

 

Kapitalismuskritik als Kritik am Kapitalismus?

Angesichts dieser Aspekte unserer westlichen Verzichtskultur wird auch deutlich, dass die Kritik am Kapitalismus, wie sie in der Anti-Globalisierungs-Bewegung oder im Anti-Amerikanismus formuliert wird, nicht wirklich greifen kann, denn das "Anti" richtet sich gegen etwas, was der Kapitalismus nur augenscheinlich repräsentiert und nicht gegen das, was er eigentlich ist, was er tatsächlich verinnerlicht hat. Als eine äußerst flexible Gesellschaftsform hat der Kapitalismus nicht nur bis heute überleben können, er ist durch seine Flexibilität überhaupt gesellschaftsfähig geworden. Während man immer nach einem Kommunismus mit menschlichem Antlitz gesucht hat, ist es gerade dieses "Humane", das den Kapitalismus so gefährlich und anfällig für das sublim Totalitäre macht.

Angelehnt an Slavoj Zizek kann behauptet werden, dass das "Du darfst" der Diätprodukte sowie der kapitalistischen Gesellschaften wesentlich totalitärer ist als das "Du sollst nicht" oder "Du kannst nicht" innerhalb der kommunistischen Systeme. Die Freiheit, welche uns im Kapitalismus suggeriert wird, ist daher eher mit einem grenzenlosen Käfig zu vergleichen. Sie wirkt nicht minder zwanghaft, weil sie mit einem nie zu stillenden Begehren gekoppelt worden ist.(5)

 

Das Recht auf das "Ich will nicht"

Das Zwanghafte des "Dürfens" als sublime Versuchung zur Entbergung sowie als Mittel zur Anpassung an die Norm lässt überdies eine paradoxe Interpretation der Menschenrechte zu. So erscheint angesichts der Diskussion um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit das Recht auf Arbeit genauso paradox wie etliche andere Grundrechte. Das Recht auf Meinungsfreiheit müsste demnach heute auch ein Recht auf die Freiheit von einer Meinung sein, denn die Bürger in den kapitalistischen Gesellschaften werden durch die Markt- und Meinungsforschung permanent zur Meinungsäußerung genötigt. Ähnliches gilt auch für das Recht auf Versammlungsfreiheit innerhalb einer Gesellschaft des Spektakels und einer penetranten Eventkultur, die selbst die abgeschiedensten Orte zu Kulissen für Masseninszenierungen macht. Betrachtet man den Konsum heute ebenfalls als eine Weltreligion, dann trifft dies auch auf das Recht der Religionsfreiheit zu, denn mittlerweile ist es so, dass potenzielle Konsum-Atheisten aus manchen öffentlich zugänglichen Räumen verwiesen werden können, nur weil sie nicht an den Ritualen des Kommerzes teilhaben.

© Thomas Duschlbauer (Linz)


ANMERKUNGEN

(1) Flusser, Vilém. Kommunikologie. Mannheim: Bollmann, 1996, S. 9 - 12.

(2) Flusser, Vilém: Vom Virtuellen. In: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. Florian Rötzer, Peter Weibel (Hrsg.). München: Boer, 1993, S. 68.

(3) Derrida, Jacques: Das andere Kap - Die vertagte Demokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992. S. 56

(4) Schaaf, Julia. Hilfe, wir verspießen! Frankfurter Allgemeine, 25. Januar, 2004, S. 51

(5) Zizek, Slavoj. "You May!" in: London Review of Books, Vol. 21. No.6, March 1999.


BIBLIOGRAFIE

Derrida, Jacques. Das andere Kap - Die vertagte Demokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992.

Flusser, Vilém: Vom Virtuellen. In: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. Florian Rötzer, Peter Weibel (Hrsg.). München: Boer, 1993. (S. 65 - 71).

Flusser, Vilém. Kommunikologie. Manheim: Bollmann, 1996.

Schaaf, Julia. Hilfe, wir verspießen! Frankfurter Allgemeine, 25. Januar, 2004.

Zizek, Slavoj. "You May!" in: London Review of Books, Vol. 21. No.6, March 1999.


1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Thomas Duschlbauer (Linz): Vom Mangel an Überfluss zum Überfluss an Mangel - über Differenz und Ambivalenz zweier Systeme. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_5/duschlbauer15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 6.8.2004    INST