Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gerhard Fröhlich (Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


"Schöne, weiße Galerien!"
- Identitätsprozesse und Rassismus in der westlichen Kunstwelt

Marie Elisabeth Müller (Stuttgart)
[BIO]

 

 

How the art world uses the absence of darkness, everything is so overlit: white walls, white galleries, white people. That's the western art world.

David Hammons, 2003

Im Jahr 2002 wurde die Documenta11 in Kassel zum ersten Mal seit ihrer Gründung 1955 von einem nicht-europäischen Leiter und seinem internationalen Team kuratiert. Die documenta(1) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, um die deutsche Öffentlichkeit nach dem Genozid an den europäischen Juden und dem Rassenhaß im Dritten Reich über internationale Tendenzen in der Kunst zu informieren. Die Ausstellung, die alle vier bzw. fünf Jahre einlädt, offenbart in ihrer Ursprungsidee eine dezidiert internationale Ausrichtung. Daß jedoch die Berufung eines Kurators, der nicht aus Europa oder den USA stammt, fast ein halbes Jahrhundert auf sich warten ließ, spiegelt paradigmatisch den eurozentrischen Fokus in der westlichen Welt wider. Dieser enge Fokus bestimmt auch in der Welt der Galerien und Museen die Auswahlkriterien dafür, was einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden soll und was nicht. Gleichzeitig gilt die documenta als ein entscheidender Türöffner zum westlichen Kunstmarkt und als Eintritt in die Kunstgeschichte, wie der einflußreiche deutsche Kunsthistoriker Walter Grasskamp anmerkt:

"Die documenta ist ein Modellfall für die Herstellung von Kunstgeschichte, weil sie das profilierteste Ausstellungsunternehmen der Nachkriegszeit ist, das seine eigene Problematik kontinuierlich überlebt hat."(2)

Mit Okwui Enwezor wurde 1998 der erste afrikanische Kurator nach Kassel berufen. Der nigerianische Politikwissenschaftler und Kurator besitzt auch einen US-amerikanischen Paß, ist in Nigeria aufgewachsen und mit 18 Jahren in die USA gezogen. Innerhalb des deutschen journalistischen Kulturtrosses wurde ihm hinter vorgehaltener Hand sogleich vorgeworfen, als US-Amerikaner könne er Künstler und Künstlerinnen aus Afrika und Südamerika gar nicht mehr vertreten. Diese Argumentation stellt ein Identitätsmuster zwischen Biographie, Paß und Wissensproduktion her, das seine ethnisch-rassistischen Implikationen nur notdürftig verdeckt. Argumente dieser Façon ignorieren zuallererst die fragilen multikulturellen Biographien, die den globalen Migrationsbewegungen entstammen. Deren Wurzeln findet man in Kolonialismus und wirtschaftlicher Ausbeutung und Freihandelszonen, die von Europa und den USA installiert worden sind. Es sind die gleichen Staaten, an deren Universitäten westliche Subjektphilosophie und in deren Museen westliche Kunstavantgarde das unendliche Ensemble nicht-europäischer Denkrichtungen und Ausdrucksformen beherrscht. Europäisches Denken und westliche Kultur werden in den repräsentativen westlichen Institutionen in einer Hierarchie der Kulturen ganz oben angesiedelt. Diese eurozentrische Weltsicht ordnet unterschiedliche Phänomene und Kulturen in ein hierarchisches Feld mit klaren Identitätsbeziehungen ein. Der Kulturtheoretiker James Campbell stellt dieser eindeutigen Hierarchisierung einen offenen komplexen Identitätsbegriff gegenüber. Er schreibt 1988 in seiner Studie "The Predicament of Culture":

"Identität, ethnographisch definiert, beinhaltet immer auch die Komponenten der Vermischung, des Rationalen, des Neuen und des Schöpferischen."(3)

Bis heute aber fokussiert an europäischen Universitäten beispielsweise der Fachbereich Soziologie auf die westlichen Gesellschaftsformen, während alle anderen nicht-europäischen Gesellschaften im Fachbereich Anthropologie oder Völkerkunde abgehandelt werden; also quasi im prä-gesellschaftlichen und prä-wissenschaftlichen Bereich. Genauso wird Kunst europäischer Künstler und Künstlerinnen im Museum für moderne Kunst ausgestellt, während die Kunstwerke von Künstlern und Künstlerinnen aus dem nicht-europäischen Raum im Völkerkundemuseum landen. In Interviews mit nicht-europäischen Künstlern und Künstlerinnen wird häufig allein das Biographische in den Vordergrund gerückt, während bei europäischen Künstlern und Künstlerinnen das Werk (eventuell - wie beim ostdeutschen Superstar Gerhard Richter - im Kontext der Biographie) besprochen wird.(4)

Es ist zwangsläufig, daß diese eurozentrische Perspektive eine Sprache des Mangels produziert und gebraucht, wenn sie - wie üblich - auf alle Gesellschaften in der Welt gleichermaßen angewendet wird.

Der Eurozentrismus beruht auf zwei Annahmen, die die Geschichte unterschiedlicher Kulturen und Völker auf einen einheitlichen Maßstab reduzieren. Erstens, die moderne Geschichte gilt ihm als Ausbreitung allein westlicher Errungenschaften. Und zweitens, die europäische Entwicklung funktioniert demzufolge sui generis, Europa und sein "Anderes" entwickeln sich angeblich unabhängig voneinander. Dabei ist seit den 1980er Jahren und im Zuge der Postcolonial Studies vielseitig herausgearbeitet worden, daß es sich bei dieser eurozentrischen Herangehensweise um einen "nostalgischen Diskurs" handelt, der sich auf "reine" und "authentische" Traditionen beruft, die so "rein" und "authentisch" nie existierten. Die indisch-deutsche Soziologin Shalini Randeria betont in ihrem 2002 publizierten Sammelband "Jenseits des Eurozentrismus", daß Europa schon zu Beginn des Entdeckungszeitalters und der kolonialen Epoche keine autonome Einheit war, sondern ein Produkt des Austauschs mit afrikanischer und asiatischer Kultur. Randerias eigenes Konzept spricht deshalb von "entangled histories", es ist ein Konzept der "Geteilten Geschichte(n)", das berücksichtigt, daß die Einheiten der Verflechtungsgeschichte von Kulturen selbst historische und diskursive Produkte sind(5).

In ähnlicher Vorgehensweise ordnet Okwui Enwezor die moderne europäische Kunstavantgarde in das epistemologische Schema der großen eurozentrischen Erzählungen ein, die durch die Postcolonial Studies als historische Transformationen und Vorurteile relativiert worden sind. Enwezor und sein internationales Kuratoren-Team in Kassel stellte ihre Documenta vor die Herausforderung, mit neuen sinnstiftenden Modalitäten das traditionelle westliche Identitätsregime in ein Ensemble vielstimmiger Gleichzeitigkeiten zu überführen:

"Postkolonialismus hebt die großen Erzählungen auf und erhebt neue ethische Ansprüche an die verschiedenen Arten historischer Interpretation."(6)

Die häufig ausnehmend skeptischen Reaktionen auf die globale Kunstshow von 2002 zeigen, wieviel Aufklärungsbedarf in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit besteht, bevor hierzulande Kunst- und Wissensproduktion als Prozeß der Verschmelzung verschiedener Elemente aus verschiedenen Kulturen akzeptiert werden wird. Einerseits ging der ethische Anspruch der Ausstellungsmacher, der zum Widerstand gegen die totale Vereinnahmung der Wissensproduktion und Kunstproduktion durch westliche Standards auffordert, den vielen Kritikern schon zu weit, die zeitgenössische Kunst offenbar im politikfreien Nirgendwo verorten wollen.

"Devise in Kassel: Kunst ist das Gegenteil von Genuß"(7), hieß es beispielsweise im "Spiegel". Die"Süddeutsche Zeitung" erinnerte zustimmend an den Kommentar des rechtskonservativen "Merkur"-Herausgebers Karlheinz Bohrer, der schon anläßlich der legendären gesellschaftsbewegten documenta 5 von 1972, kuratiert vom Schweizer Harald Szeemann, eine Dekoration der Welterkenntnis"(8) diagnostiziert hatte. Bohrer will die Bereiche Ästhetik versus Politik wie zu Zeiten der "L'Art pour L'Art" sauber getrennt halten. Aber auch Kritiker, die die Documenta11 als gelungenen Versuch ansahen, die globale kulturelle Vielstimmigkeit zu repräsentieren, kritisierten andererseits genau diese prononcierte Vielstimmigkeit, die die unterschiedlichsten Werke und Kulturen trotz fehlender konzeptueller Gemeinsamkeiten in einen großen Zusammenklang brachte. Deshalb kritisierte die "New York Times" die Kunstausstellung als "puritanische und fast humorlose Show, die die Anliegen der Antiglobalisierungsbewegung homogenisiert"(9) .

Ein unleugbares Problem der Documenta11 war der gewisse Gleichklang der Arbeiten, die überdurchschnittlich viele Videoarbeiten repräsentierten. Dadurch wurde die Vielfalt der Kulturen und Künstler und Künstlerinnen doch wieder durch die ethnische Zugehörigkeit und persönliche Biographie herausgestellt. Genau diese Bewertung lehnen viele nicht-europäische Künstler und Künstlerinnen aber ab. Beispielsweise weigerte sich 1991 der indianische-amerikanische Künstler Edgar-Heap-of-Birds sich mit einem Beitrag an der Zeitschrift "Kunstforum" zu beteiligen, deren Schwerpunktthema die "Kunst der amerikanischen Indianer" sein sollte. Edgar-Heap-of-Birds aber will nicht als native-Künstler oder Außenseiter betrachtet werden, sondern selbstverständlich in seinen künstlerischen Arbeiten mit denen seiner Altersgenossen wie Julian Schnabel oder Kollegen wie Andy Warhol und Josef Beuys verglichen werden.

Für Kenner der nicht-europäischen und nicht-nordamerikanischen Kunstszene, wie den Schweizer Bernhard Lüthi, erschien die Documenta11 dagegen viel zu moderat und als Ausschluß radikaler politischer Künstler und Künstlerinnen aus dem südpazifischen und afrikanischen Kulturraum. Der Schweizer Künstler und Kurator für zeitgenössische Kunst australischer Aborigines beschäftigt sich seit den 1970er Jahren mit dem Phänomen des "kulturellen Ethnozentrismus", das auf dem europäischen und US-amerikanischen Kunstmarkt dafür sorgt, daß Künstler und Künstlerinnen aus nicht-europäischen Ländern und außer-europäischen Kulturen ausgeschlossen bleiben. 1983 veröffentlichte Lüthi sein kollagiertes Gemälde "Cultural Ethnocentrism". Eine Weltkarte mit zentimeterdick aufgetragener teerartiger Farbe, auf der nur Europa und Nordamerika zu sehen sind. Anläßlich der großen Kunstshow "Art" 2003 in Basel, bei der einmal mehr keine zeitgenössischen afrikanischen und australischen Künstler repräsentiert waren, erklärte Bernhard Lüthi:

"Die Kuratoren heute haben Angst, sich lächerlich zu machen, wenn sie etwas gegen Künstler und Kunst aus Afrika oder Australien sagen - aber der Ausschluß besteht weiter."(10)

Seit Erfindung der bigotten "political correctness" in der Ära der Clinton-Regierung, die auch Europas Öffentlichkeit prägte, ist das Ausschlußverfahren subtiler geworden, aber nicht weniger effektiv. Der US-amerikanische Politologe und Theologe Cornel West stellt im 2001 erneuerten Vorwort zu seinem Buch "Race Matters" fest:

"Offenkundige Formen der Diskriminierung sind attackiert und gezwungen worden, verdeckter zu werden."(11)

Die offenkundigen Formen der Diskriminierung, auf die Cornel West anspielt, sind rassistisch motivierte Formen der Diskriminierung, die über den Zugang zum Markt auch das finanzielle und deshalb auch das soziale Gefüge in den kapitalistischen Gesellschaften Europas und Nordamerikas und ihre Wissensproduktionen tangieren und sogar installieren. Schrieb der afroamerikanische Soziologe W.E.B. Du Bois schon 1903 den unvergesslichen Satz nieder: "Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem der Rassentrennung", so wiederholt Cornel West fast hundert Jahre später, im Jahr 2001, dieselbe Diagnose: "Das Problem des 21. Jahrhunderts bleibt die Rassentrennung."(12)

Rasse und ethnische Kriterien spielen immer noch eine fundamental wichtige gesellschaftliche Rolle, weil rassistische Kriterien die soziale und ökonomische Ungleichheit in westlichen Gesellschaften mitbegründen, insbesondere in den USA. Während die globalisierte Welt von transkontinentalen Migrations- und Geldströmen bestimmt wird, entsteht auf den globalisierten Märkten eine zunehmende soziale Ungleichheit und ein wachsender Rassismus gegen Einwanderer und Asylanten. Cornel West faßt anhand der USA zusammen:

"Das multirassische Amerika geht zusammen mit einem ansteigenden Level sozialer und ökonomischer Ungleichheit, die vor allem die schwarzen Amerikaner, die indianischen Amerikaner und die spanisch sprechenden Latino-Amerikaner trifft."(13)

Für Aktivisten und Aktivistinnen der außerparlamentarischen Bürgerrechtsbewegungen geht es auch im 21. Jahrhundert weltweit immer noch darum, die kollektiven Rechte und die gleichen ökonomischen Chancen für alle ethnischen Gruppen in einer Gesellschaft zu sichern. Zum Beispiel waren mit Beginn des 21. Jahrhunderts in den USA immer noch über 80% der Gefängnisinsassen Schwarze. Und während nur 12% der illegalen Drogen in den USA von Afroamerikanern konsumiert werden, werden 70% der Verurteilungen bei Drogendelikten gegen Schwarze ausgesprochen.(14)

Der Kampf um die kollektiven Rechte findet auch im Kunstbetrieb sein Äquivalent. Kunst und Medien berühren den Bereich der Wissensproduktion, in dem fremde Kulturen und die Mitglieder anderer Kulturen repräsentiert und abgebildet werden. Es geht nicht darum, alle Unterschiede zu egalisieren, sondern eine Balance zwischen Vergleichbarkeit und Differenz zu finden, die eine synchrone Verständigung im Prozeß der "geteilten Geschichte(n)" ermöglicht. Die Synchronisierung dieser transkulturellen Kommunikation findet unter anderem in der Kunst und Kunstrezeption statt. Bernhard Lüthi erinnert daran:

"Wir sollten nicht vergessen, daß die Bilder, die in Balgo Hills, in Utopia und anderswo entstehen, für Weiße, für Außenstehende in Australien und in Europa, in den USA und sonstwo in der Welt und nicht für den Eigenbedarf entstehen. Es sind Mitteilungen für andere, sozusagen für den außerkulturellen Export. Sie machen auf eine andere kulturelle Existenz aufmerksam."(15)

Künstler und Künstlerinnen, die am (eurozentrischen) internationalen Kunstmarkt teilnehmen wollen, wollen mit ihrer Kunst den Betrachter, den Zuschauer als Mitproduzenten und potentielle Käufer erreichen. Der von Europäern und US-Amerikanern dominierte Kunstmarkt verlangt deshalb eine bestimmte Kompatibilität für das 'Auge des Betrachters'. Künstler und Künstlerinnen produzieren daher in allen Kulturen ein Ensemble von Symbolen und Materialien, die einen Abstraktionsgrad erreichen, der ethnische und kulturelle Eigenheiten ausblendet oder sublimiert. Dieses undefinierte abstrakte Ensemble befreit die Künstler und Künstlerinnen von einer eindeutigen Vereinnahmung durch ethnische Indices, und es erleichtert den Eintritt in den westlichen Markt und die transkulturelle Verständigung.(16)

Auf seiten des westlichen Kunstmarkts funktionieren die Begriffe "Authentizität" und "Tradition" aber weiterhin als terminologische Bollwerke der Ausgrenzung. Abstrakte Ausdrucksformen in der Kunst werden nur Künstlern und Künstlerinnen der westlichen Moderne zugestanden. Nicht-europäische Kunst wird auf ein ethnisches Ausdrucksensemble festgelegt und gleichzeitig als naive Ethno-Kunst denunziert. Auf diese Weise wird mit dem unpräzisen Argument "Tradition" anderen Kulturen die Fähigkeit zum innovativen, formalen und ästhetischen Wandel abgesprochen. Demgegenüber werden Innovation und Mut zur Veränderung allein als westliche kulturelle Praxis definiert. Auch Bernhard Lüthi sieht im angeblich liberalen westlichen Kunstbetrieb nur vordergründige Toleranz, die zur Imagepflege benötigt wird:

"Europa hat sich lange hinter dem Trugbild der unverletzlichen 'Authentizität' und der unveränderlichen 'Tradition' fremder Kulturen verborgen."(17)

Die US-amerikanische Kuratorin Judith Wilson äußert 1990 ebenfalls die Überzeugung:

"Die Kunstwelt ist eine der letzten Bastionen weißer Vorherrschaft durch Ausschluß."(18)

Wer nicht dem weißen und europäischen oder nordamerikanischen Kulturkreis angehört, wird in die Ethno- und Volkskunde-Ecke abgedrängt. Der Machtkampf zwischen Klassen, Rassen und Völkern wird maßgeblich auch im kulturellen Feld ausgetragen wird. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Tatsache, daß es den schwarzen Sklaven in den USA verboten war, lesen und schreiben zu lernen, das heißt, es war Ihnen unter Androhung der Todesstrafe verboten, sich als kulturelle Menschen zu definieren. Genauso galten die 1789 in Paris proklamierten Menschenrechte nur in Europa und für weiße Nordamerikaner, aber keinesfalls in den Kolonien und für Menschen dunklerer Hautfarbe.

Der afroamerikanische Künstler David Hammons beschäftigt sich seit Ende der 1960er Jahre in seinen künstlerischen Arbeiten mit Rassismus. Hammons lebt in New York und stellt sich in seinen Arbeiten offensiv den Fragen und alltäglichen Verletzungen, die durch Rassismus verursacht werden. Dafür benutzt er ein Netzwerk visueller Kodes, Symbole und Icons, von denen viele aus der afroamerikanischen Tradition stammen, aber nicht alle. In seinen Arbeiten, die er häufig in non-profit-Galerien und öffentlichen Räumen ausstellt, insistiert er darauf, daß Künstler Symbole und Elemente aus einem bestimmten Kulturkreis verwenden können, ohne auf eine bestimmte ethnische Herkunft oder Aussage festgelegt und begrenzt zu werden.

1990 entstand seine Arbeit "Whose Ice is Colder?" Er hängte drei Phantasieflaggen in den hohen Raum, die alle drei bekannte Symbole verwendeten, die an reale Flaggen erinnern: mit US-amerikanischen, asiatischen und arabischen Attributen. In der US-amerikanischen Flagge verschränkt Hammons zwei Flaggenmotive: die "Stars and Stripes" der USA und die schwarz-grün-rot gestreifte Flagge der scharzen Amerikaner. Hammons spielt damit auch auf die Phantasieuniformen und phantastischen Fahnen an, die die Führer und Mitglieder der schwarz-nationalistischen Bürgerrechtsbewegung UNIA (Universal Negro Improvement Association) zu Zeiten der Harlem Renaissance, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, trugen.(19) Unterhalb der drei Flaggen stehen drei Behälter mit großen Eisblocks, auf die die Titelfrage der Installation gemünzt ist: "Whose Ice is Colder?"

Eine Technik, die David Hammons häufig anwendet, besteht darin, auf etwas "Beyond of" zu verweisen. Diese Technik hat der Kulturtheoretiker Homi Bhaba als kulturelle Technik der Postmoderne überhaupt bezeichnet: Kunst und Kultur sind nicht kommensurabel, sondern verschiedene Elemente aus unterschiedlichen Kulturen greifen ineinander und bei jeder Kommunikation bleiben Restbestände und unverdauliche Fragmente übrig.

David Hammons arbeitet immer "Jenseits von Eindeutigkeit". Er schöpft das vieldeutige Potential seines grundsätzlich einfachen Materials aus und arbeitet poetisch, satirisch, ironisch, rituell und auf viele andere Weisen damit. So aktiviert er auch das individuell unterschiedliche Gedächtnis seiner Zuschauer. Im Falle seiner Installation "Whose Ice is Colder?" konstruieren die drei Flaggen eine fiktive Einheit. Sie zeigen die Willkür von Definitionen, indem sie die Flaggen ironisieren, die nationale Heiligtümer sind. Willkürlich und zur gleichen Zeit von äußerster Plausibilität ist die Vernetzung der Flaggen und der drei Weltreligionen, auf die sie anspielen. Die drei Eisbehälter enthalten ein handfestes natürliches Material, dessen Schmelzprozeß die drei Weltreligionen zusätzlich in eine absurde Konkurrenz zueinander setzt. Was nur sagt uns am Ende das Ergebnis - welches Eis in welchem Behälter unter welcher Flagge am schnellsten geschmolzen ist? - über die Weltreligion?, über uns selbst?

In einer theoretischen Wendung argumentiert diese Installation auch gegen die Vorstellung einer eindeutigen Identität und Nationalität. Die Künstlichkeit und Willkür dieser Setzung wird vorgeführt und die kleinen Phantasieattribute, Beistriche und Symbole auf den Flaggen, erhalten eine viel größere Bedeutung als die originalen Attribute zugeschrieben. Sie besitzen die eigentliche Macht über die Flaggen und haben deren offiziellen und einschüchternden Charakter und ihre ursprünglich definierte Bedeutung transformiert, erweitert und umgedreht. Und das hat auch eine befreiende Wirkung: wer sich im Zeichen dieser Flaggen trifft, tut es freiwillig und als ein in seiner Entscheidung freier Mensch - indem er sich eine Kunst-Installation anschaut.

In allen seinen Arbeiten bringt David Hammons das Dilemma zum Ausdruck, daß den afroamerikanischen Künstlern die afrikanische Kultur als immer schon verwendete, schon mit Bedeutungen belegte, entgegentritt. Man denke nur an die exzessive Rezeption durch die Kubisten und die europäischen Modernen vor und nach dem I. Weltkrieg. Umgekehrt ist aber auch die europäische Kultur nicht rein, war niemals rein. Hammons äußert sich dazu 1992:

"Das ist nicht neu, was ich da mache. Es sind alte Instrumentarien, die die weissen Jungs verwendet haben, aber ich verwende sie, um meine Kultur in ihre einzubringen, so wie wir unsere Kultur bei den europäischen Vorfahren eingebracht haben."(20)

Während Hammons im Sommer 1992 bei der Documenta IX, kuratiert vom Belgier Jan Hoet, eine Installation zeigte, lehnte er es ab, bei der Documenta11 auszustellen. Er ist einer der wenigen schwarzen Künstler, dessen Arbeiten erfolgreich im westlichen Kunstmarkt etabliert sind. Aber zugleich reagiert er feinnervig auf alle Versuche, ihn zu vereinnahmen. Seine Strategien sind für Außenstehende schwer zu durchschauen, und das sollen sie auch sein:

"Ich bin nicht loyal zur Kunstwelt. Ich bin loyal zu mir. Ich bin nicht loyal. Ich springe nicht, wenn sie sagen, spring mal. Ich interessiere mich für das, für das ich mich interessiere, nicht für die Kunstwelt. Ich stehe nicht auf ihrer Agenda. Ich habe keine Wahl. Wenn Du nicht für etwas einstehst, dann läufst Du allem hinterher. Du mußt sehr früh im Leben eine Entscheidung fällen, wohin Du gehst."(21)

Für die Wiener "Galerie König", geleitet von der Kunsthistorikern und Galeristin Christine König, hat David Hammons 2002 die Ausstellung "Quiet as it's Kept" kuratiert. In ihr zeigen Ed Clark, Stanley Whitney und Denyse Thomasos ihre Arbeiten. Drei Künstler, die mit abstrakter Bildsprache arbeiten, Clark und Whitney mit bezaubernden, von innen heraus leuchtenden Farbkombinationen. In den Arbeiten der drei unterschiedlichen Künstler findet man feine Spuren ihrer Beschäftigung mit der afroamerikanischen Geschichte. Aber man kann die Bilder auch frei davon anschauen und genießen. Erfahrbar sind diese Spuren erst nach einer intellektuellen Beschäftigung mit den Strukturen der Gemälde.

Stanley Whitney bemalt die Leinwände mit unruhigen Farbblöcken, die sich wie Solisten in der afroamerikanischen Musik gegen den sturen Beat der Liedstruktur aufzulehnen scheinen. In den Farbblöcken taucht außerdem ein wenig bekanntes Detail aus der Geschichte der afrikanischen Sklaven auf, die mit den Linien- und Gitterstrukturen ihrer selbstgemachten Decken geheime Botschaften austauschten, die den Weißen verborgen blieben.

Denyse Thomasos, die jüngste der drei Künstler, arbeitet an großflächigen abstrakten Wandmalereien, die durch ihre politische Arbeit entstanden sind. Sie beschäftigt sich in ihren schraffierten Flächen mit den inneren Formen von Objekten, denen wir sonst eine politische Bedeutung zumessen, Sklavenschiffen und Auffanglagern an der Westküste Afrikas beispielsweise.

Edward Clark, der älteste der drei, hat eine einzigartige Technik entwickelt, um die Farbe mit einem Kehrbesen über die Leinwand zu ziehen und dabei unruhige Spuren und undeutliche Strukturmerkmale in den Farbpigmenten zu hinterlassen. Seine künstlerische Technik enthält subtile Anspielungen auf die lange Tradition der Ausbeutung der afroamerikanischen Sklaven, die nach ihrer Befreiung auf den Plantagen in den Städten Arbeit als Straßenfeger fanden. Dennoch sind Clarks Arbeiten vor allem Improvisationen und stehen darin wiederum dem Jazz nahe. Christine König beschreibt Hintergründe Ihrer Ausstellung:

"Diese drei Künstler repräsentieren jeder für sich eine Malerei, die den Anspruch hat, den selbstverständlichen Anspruch, daß sie nicht bedingt ist, durch ihre Rasse. Alle drei arbeiten eigentlich in einer europäischen Tradition der Malerei. Und ein Künstler wie Ed Clark war damals in der Zweiten Generation der amerikanischen abstrakten Expressionisten und hat eben diese erste internationale und genuin amerikanische Malereirichtung mitentwickelt. Und er hat, er war auch so selbstbewußt, daß er gar nie daran gedacht hat, ich bin schwarz und die anderen sind weiß. Er hat's eigentlich nur dann gemerkt, erzählt er und erzählen seine Kollegen, daß er im großen amerikanischen Kunstmarkt nicht präsent war. Allerdings muß man sagen, auch eine weiße Malerin dieser Generation, Helen Frankenthaler, hat's auch schwer gehabt. Frauen und Schwarze, würde ich mal sagen, haben es bisher in Amerika ziemlich schwer gehabt."(22)

1926 in New Orleans geboren, nahm Edward Clark als GI am Zweiten Weltkrieg im Südpazifik teil. Nach dem Krieg bekam er für seinen Kriegseinsatz eine Ausbildungshilfe vom Staat und studierte Kunst am "Art Institute" in Chicago und an der "Academie de la Grande Chaumiére" in Paris. Später war er Mitglied des 10th Street Studio, einer künstlereigenen Galerie der Brata-Gruppe, an der 10th Street in New York gelegen.

Edward Clark ist einer der wichtigsten amerikanischen Vertreter des abstrakten Expressionismus, der eng mit den europäischen Malern seiner Generation vernetzt ist. In den USA sind abstrakte Expressionisten wie Jackson Pollock oder Willem de Kooning schon seit Jahrzehnten zu Stars der internationalen Kunstszene aufgestiegen. Doch Edward Clarks Werk ist bis heute nicht in den großen westlichen Museen dokumentiert und nicht systematisch gesammelt worden. Die Qualität seiner künstlerischen Arbeitsweise wird immer wieder durch rassistische Kriterien in Frage gestellt, die seine - abstrakte - Malkultur ignorieren. Dazu sagt er trocken:

"Wenn ich ein Bild anschaue, wenn ich arbeite, mag ich das. Zuerst einmal, wenn es nichts Figuratives hat - und ich habe keine Figuren - dann bekommt das Ganze ein Vokabular der Abstraktion. Es ist so, wenn mich jemand fragt, was bedeutet das?, dann sage ich: Würdest Du Miles Davis fragen, was seine Musik bedeutet?"(23)

Edward Clark, Stanley Whitney und Denyse Thomasos haben es bislang mit Hilfe schwarzer Sammler und Galeristen, durch viel Eigeninitiative und mit Brotjobs geschafft, als afroamerikanische Künstler am Rand der weißen Kunstwelt zu überleben. Schicksale, die für afroamerikanische Künstler in New York typisch sind. David Hammons nutzt jede Möglichkeit, in der Öffentlichkeit darauf hinzuweisen:

"Das große Geld steckte immer in der Malerei. Und Du klopfst an die Tür und weißt, sie ist verschlossen. Es gibt viele Maler, afroamerikanische, die malen. Die meisten von ihnen werden verrückt, extrem, werden verrückt wegen des Rassismus. Und sie leben hier in der Stadt, und jeder kennt sie. Du kannst irgendeinen Kurator fragen, von vielen Museen und sie können Dir sagen, wer sie sind."(24)

Rassismus in der Kunstwelt funktioniert wie überall im sozialen Feld. Er wird benutzt, um die ökonomische Vormachtsstellung der herrschenden und meist weißen Klasse zu erhalten. Und Rassismus entsteht aus der konzeptuellen Mischung eines hierarchischen Kulturbegriffs und dem Gefühl der Furcht vor dem "Anderen". Der Kunsttheoretiker Sarat Maharaj - ein Ko-Kurator aus Enwezors Team bei der Documenta11 - weist auf den Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Toleranz und der Furcht hin:

"Wir denken "Toleranz" als ein Konzept "allgemeinen Anstands" - aber häufig mündet es darin, daß wir außergewöhnliche, bemerkenswerte Einstellungen damit verbinden, weil wir "das Andere" und die Differenzen so oft mit Begriffen der Angst, des Widerwillens, des Exotischen und der Gewalt zusammendenken."(25)

Man kann auch davon sprechen, daß das Gefühl der Toleranz ohne die Furcht nicht entstehen würde - oder von: der "Geburt der Toleranz aus dem Gefühl der Furcht". In Shalini Randerias Konzept der "geteilten Geschichte(n)" werden die unterschiedlichen Geschichten, die eigenen und fremden, kommuniziert und synchronisiert. "Zu teilen" besitzt dabei eine doppelte Bedeutung: "shared" und "divided" bedeutet "geteilt" im Sinne von miteinander geteilt und zugleich gegeneinander "abgetrennt". Es geht darum, die vertraute eigene Kultur sehen zu lernen in ihrer Prozeßhaftigkeit und ihren vermischten und überkreuzten Strukturen und Geschichten. Erst wenn fremde Kulturen mit ihren Anteilen an der eigenen Kultur kommuniziert werden, kann "das Andere" mitgeteilt werden, ohne vereinnahmt und ohne gefürchtet werden zu müssen.

© Marie Elisabeth Müller (Stuttgart)


ANMERKUNGEN

(1) Die Schreibweise der "documenta" variiert je nach Ausstellungsjahr, sowohl in Groß- als auch Kleinschreibung, sowie der zugeordneten Jahresdaten (siehe: documenta 5 von Harald Szeeman, documenta IX von Jan Hoet, Documenta11 von Okwui Enwezor und Team.

(2) Walter Grasskamp, 1982, S. 67.

(3) James Clifford, 1988, S. 19.

(4) siehe Olu Oguibe, 1999, S. 16ff. - Oguibe beschreibt ein Interview von 1994 zwischen dem Journalisten Thomas McEvilly und dem Maler Quattara Watts. Im traditionell kolonialistischen Gestus spricht ein Zivilisierter mit einem primitiven Kind. Der Künstler wird ent-gesichtigt und im Laufe des Gesprächs sinkt der agile und selbstbewußte Quattara immer mehr in sich zusammen.

(5) Shalini Randeria, 2002, S. 17f.

(6) Okwui Enwezor, 2002, S. 44f.

(7) Ulrike Knöfel, 2002.

(8) Holger Liebs, 2002.

(9) Michael Kimmelman, 2002.

(10) Bernard Lüthi, Interview mit MEM, 10. Oktober 2003.

(11) Cornel West, 1993, 2001, S. XIV (Übers. MEM).

(12) Cornel West, 1993, 2001, S. XIV (Übers. MEM).

(13) Cornel West, 1993, 2001, S. 9 (Übers. MEM).

(14) siehe Cornel West, 1993, 2001, S. XV (Übers. MEM).

(15) Bernhard Lüthi, 1998.

(16) Ein augenscheinliches Beispiel liefert der japanische Maler On Kawara. Kawara begann am 4. Januar 1966 seine "Date Paintings" zu malen, die er überall auf der Welt produziert und ausstellt. Er malt ein schlichtes Datum in schwarzen und weißen Farben, das sich als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten kulturellen Zeit- und Zahlen- und Farbeinstellungen eignen. So gelang Kawara der Zugang in den finanzstarken westlichen Kunstmarkt, ohne daß er auf ethnische Attribute hätte limitiert werden konnte.

(17) Bernhard Lüthi, 1998.

(18) siehe in: Maurice Berger, 1990.

(19) Die UNIA wurde 1915 von dem Jamaikaner Marcus Garvey gegründet und hatte 1920 rund 1 Million Mitglieder in 38 Staaten der Erde. Ihr Hauptquartier war in Harlem.

(20) David Hammons, 2002.

(21) David Hammons, 2002.

(22) Christine König, 2002.

(23) Edward Clark, 2002.

(24) David Hammons, 2002.

(25) Sarat Maharaj, 2002.


BIBLIOGRAPHIE

Maurice Berger, Are Art Museums Racist?, in: Art in America September 1990;

Edward Clark im Gespräch mit Marie Elisabeth Müller - Tonbandtranskription, 2002;

James Clifford, The Predicament of Culture, Harvard Books 1988;

Jimmy Durham, Amerikaner oder der Andere?, in: Kunstforum Mai/Juni 1991, Bd. 113;

Okwui Enwezor, Die Black Box, in: Katalogbuch Dokumenta11, 2002;

Henry Louis Gates jn., Vorwort zur deutschen Ausgabe von W.E.B. Du Bois, "Souls of Black Folk", Freiburg 2003;

Walter Grasskamp, Modell documenta oder wie wird Kunstgeschichte gemacht?, in: Kunstforum International, Bd. 49, 1982;

David Hammons, Parkett, 1992;

David Hammons im Gespräch mit Marie Elisabeth Müller - Tonbandtranskription, 2002;

Michael Kimmelman, Documenta11, in: New York Times, 18. Juni 2002;

Ulrike Knöfel, Documenta11, in: Spiegel, 3. Juni 2002;

Christine König im Gespräch mit Marie Elisabeth Müller - Tonbandtranskription, 2002;

Holger Liebs, Documenta11, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16. Juni 2002;

Bernhard Lüthi, Rede zur Ausstellung "Begegnungen. Malerei aus Utopia und Balgo Hills", vom 5. Juni 1998, in: http://www.aboriginal-art.de/art_deu/rede04.htm ;

Sarat Maharaj, Rede zur Presse-Eröffnung, Tonbandtranskription, 2002;

Olu Oguibe und Okwui Enwezor (Hgg.), Reading the Contemporary, African Art from Theory to the Marketplace, London 1999

Shalini Randeria und Sebastian Conrad (Hgg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, New York: Campus 2002;

Cornel West, Race Matters, Boston 1993;


1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)

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For quotation purposes:
Marie Elisabeth Müller (Stuttgart): "Schöne, weiße Galerien!" - Identitätsprozesse und Rassismus in der westlichen Kunstwelt. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_5/mueller15.htm

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