Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

2.1. Kultur und Zivilisation
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Penka Angelova (Rousse)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Kultur und Zivilisation. Ein wissenschaftliches und bildungsorientiertes Konzept

Penka Angelova (Rousse)
[BIO]

 

I. Gegenstand, Aufgaben und Organisation der Europäischen Zivilisation

Das Thema des Vorlesungskurses ist die Europäische Zivilisation, folglich ist auch der Gegenstand unserer Beschäftigungen die Europäische Zivilisation. Die Frage ist, inwiefern dieser Gegenstand in der Wirklichkeit existiert, was Wirklichkeit ist und was die Eurozivilisation an sich darstellt. Wenn wir den Weg der Identifikation durch die Abgrenzung zum Anderen gehen, werden wir feststellen, dass es eine amerikanische, eine japanische, eine chinesische und indische Kultur gibt, dass es auch unterschiedliche europäische Kulturen in ihrer jahrhundertealten Vielfalt gibt. Andererseits spricht man von antiken Zivilisationen wie der sumerischen, der chinesischen, der ägyptischen. Wiederum andererseits spricht man in gewissen politischen Kreisen von DER Zivilisation in Opposition zu anderen von der sogenannten Zivilisation selbstbestimmten Kategorien wie Wilde, Terrorismus usw. Sollten wir vielleicht auf diesen Terminus verzichten und ihn denen überlassen, die ihn zu Kriegszwecken im Munde führen? In all unseren Sprachen ist der Begriff aber sosehr verwurzelt, dass wir dann auch auf anderes verzichten müssten, wenn wir auf diesen Begriff verzichten sollten: Zivilrecht, Zivilgesellschaft, Zivilschutz usw.

Der Begriff Zivilisation ist sowohl eurozentrisch als auch globalisierungsträchtig im Sinne von USA-zentrisch beladen. Wenn wir ihn trotzdem in den Mund nehmen, ist es, um die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten auszudifferenzieren, die uns sowohl trennen und verbinden und jenem Niveau etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen, das immer als das große Kapital des Alten Kontinents betrachtet worden ist - sowohl in der Selbstdefinition als auch in der Fremddefinition - der Kultur und den Kulturen. Es wird Jean Monet, dem Initiator der Montanunion zugeschrieben, wenn er von neuem anfangen würde, würde er bei der Kultur anfangen. Geben wir uns jetzt die Chance, etwas mehr für die Kulturen zu tun. Dass Europa jetzt wieder zusammenwächst, nach unserem von den Historikern als kurz bezeichneten Jahrhundert, stimmt wohl. Es wächst wieder zusammen, was gewalttätig von Nationalismen und Totalitarismen getrennt wurde. Und die Nationalismen sind auch keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, die gab es schon mächtig und gewaltig im 19. Was wächst also zusammen? Es wächst das zusammen, was trotz der Kriege und der nationalistischen und totalitaristischen Politiken immer wieder als Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Kulturen vorhanden war, was im Laufe der Jahrhunderte sich von gemeinsamen Wurzeln entwickelte und durch den Beitrag einzelner Kulturleistungen seit der Renaissance sich als Europäische Zivilisation ausprägte. (Unter Kulturleistungen meine ich die in den einzelnen Jahrhunderten aus einzelnen Ländern ausgehenden kulturellen Wirkungen, so z.B. zuerst aus Italien, dann aus England, Frankreich, Deutschland und Russland, die ihren Beitrag für die von Goethe so genannte und recht eurozentrisch verstandene Weltliteratur leisteten und somit das Gewebe der europäischen Hochkultur schufen). Dieses Zusammenwachsen auf dem Niveau der Kulturen hat im Westen Europas schon nach 1945 angefangen durch eine neue Einstellung zur Vergangenheit, durch die Überwindung der "Erbfeindschaften", durch das Umdenken einzelner verbürgter "Kriegsrechte", wie der des Siegers, der die Geschichte schreibt, oder des Zweckes, das die Mittel heiligt, also durch eine neue Einstellung zur Geschichtsbetrachtung als soziale Geschichte und die Entwicklung von Denkstrukturen, die man als Friedensdenken bezeichnen kann. Diese neue Einstellung hat ihren Niederschlag in einem der Gründungspapiere der EU gefunden, in dem Wortlaut, dass Konflikte nicht mehr durch Kriege, sondern durch Verhandlungen zu lösen sind.

Wenn ich aber von Europäischer Zivilisation spreche, meine ich nicht nur die Hochkulturen, sondern auch das Verbindende im sozialen Raum, das Verbindende in Bräuchen und Traditionen und in Alltagskulturen, die die kontinentale Nähe und die gemeinsamen Ursprünge geschaffen haben, also einen weiter gefassten Kulturbegriff, der die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der einzelnen Kulturen nicht ignoriert. Und es dürfte die Erfahrung eines jeden reflektierenden Europäers sein, der in Amerika oder in Japan, China oder Indien verweilt, dass es sich in diesen Regionen um eine so unterschiedliche Kultur handelt, die die Unterschiede zwischen den europäischen Kulturen viel zu sehr verringert, dass es sich also um eine andere Zivilisation handelt. Es kommt also darauf an, dieser pragmatischen Erfahrung von Alltagskultur und Zusammenwirkung mit der Hochkultur einen theoretischen Ausdruck zu verleihen.

 

Was verstehen wir unter Zivilisation dieses alten Kontinents, wenn wir von Eurozivilisation reden?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst den Begriff Zivilisation formulieren. Und in diesem Sinne müssen wir ihn als einen theoretischen Begriff, als einen theoretischen Gegenstand formulieren. Zwei Herangehensweisen haben wir in diesem Fall zur Verfügung: einerseits die empirische Herangehensweise, Wörterbücher oder literarische Zitate - wie dieser Begriff in den unterschiedlichen Ländern gebraucht wird - andererseits den theoretischen Standpunkt - wie dieser Begriff theoretisch zu bestimmen ist -, der Weg einer kulturwissenschaftlichen und philosophischen Ermittlung. Diesen zweiten Weg wollen wir bei der Bestimmung des Gegenstandes unseres Faches gehen, und diese Begriffsbildung und -bestimmung wird über die kulturwissenschaftlichen Betrachtungen gehen. Durch die Bestimmung des Begriffes werden wir auch den Gegenstand und die Untersuchungs- und Unterrichtsmethoden bestimmen.

Der erste Weg des alltäglichen Gebrauchs, der wie schon ermittelt über die Wörterbuchbedeutungen der unterschiedlichen Sprachen geht, führt uns zunächst in die Vielfalt der Bestimmungen. Der Begriff Zivilisation hat in den unterschiedlichen europäischen Kulturen eine unterschiedliche Prägung und Bedeutung, hat aber bisher keine philosophische Auslegung bekommen, sie geht eher von dem alltäglichen Gebrauch aus und aus dem Kontext des jeweiligen Gebrauchs bei Schriftstellern oder Politikern hervor. Immerhin kann man daraus unterschiedliche Bedeutungen herausschälen, die für den deutschsprachigen, englischsprachigen, französischsprachigen oder slawischen Raum charakteristisch sind, und es sind manchmal so gravierende Unterschiede, dass man den Crash of Civilizations von Samuel Huntington ins Deutsche als Der Kampf der Kulturen übersetzen musste und die erste Ausgabe mit dem Titel der Kampf der Zivilisationen zurückziehen musste. Eine tiefgreifende Untersuchung dieser Unterschiede steht noch aus und würde gewiss zu interessanten Ergebnissen führen.

Hier wollen wir einige Vergleiche aus dem gegenwärtigen Gebrauch in unterschiedlichen Kulturen ziehen, anhand der bisher untersuchten Begriffe über Kultur und Zivilisation in der Internetzeitschrift TRANS, www.inst.at und anhand der Wörterbücher. In dieser Website finden sich Bedeutungen von dem Begriff Kultur und dem Begriff Zivilisation nicht nur aus allen europäischen Sprachen, sondern auch aus mehreren Sprachen aus der ganzen Welt, und dieses "Register" wird noch vervollständigt. Daraus wird z.B. ersichtlich, dass die europäischen Sprachen mit ihrer "Kultur" im Agrikulturellen wurzeln, d.h. der aus dem lateinischen stammende Begriff der Kultur hat in den europäischen Sprachen immer auch die Bedeutung von (H. Arlt hinzufügen) In den afrikanischen Sprachen ist der Begriff entsprechend mit dem Spielraum des Menschen zu den anderen Menschen verbunden.

Eines der renommiertesten Wörterbücher der dt. Sprache, Wahrig, schlägt folgende Bedeutung vor:

Zivilisation: die technisch fortgeschrittenen, verfeinerten äußeren Formen des Lebens und der Lebensweise eines Volkes, im Unterschied zur Kultur.

DUDEN, Deutsches Universalwörterbuch

Zivilisation, die; (frz. Civilisation, engl. Civilization):

1.a) Gesamtheit der durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt geschaffenen und verbesserten sozialen und verbesserten Lebensbedingungen: Dieses Land hat eine hohe, niedrige Z.; die christliche Z. retten wollen; die Segnungen der Z.; die Expedition kehrte glücklich in die Z. (in besiedeltes Gebiet) zurück; b) Zivilisierung

2.) (o.Pl.) (selten) durch Erziehung, Bildung erworbene (verfeinerte) Lebensart: ein gewisses Maß an Zivilisation besitzen.

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind auch die Begriffe, die mit Zivil gebildet, bzw. von zivil abgeleitet werden:

Zivilisationskrankheit: durch die mit der Zivilisation verbundene Lebensweise hervorgehende Krankheit.
Zivilisationskritik, zivilisationskritisch,
zivilisationsmüde: der Z. und der mit ihr verbundenen Lebensweise müde
Zivilisationsstufe - Entwicklungsstufe der Zivilisation
Zivilisatorisch
Zivilisieren - bes. ein auf niedriger Zivilisationsstufe lebendes Volk dazu bringen, die moderne (westliche) Zivilisation 1a) anzunehmen: einen Stamm zivilisieren 2) (selten) verfeinern, besser ausbilden, einer Sache Zivilisation verleihen, Beziehungen zivilisieren.
Zivilisiert
Zivilist: - jmd., der nicht den Streitkräften angehört
Zivilistisch - nicht militärisch
Zivilkammer
Zivilklage (Rechtsspr.) Privatklage
Zivilkleidung
Zivilperson
Zivilprozess
Zivilprozessordnung
Zivilrecht
Zivilregierung - aus Zivilisten bestehende Regierung, im Gegensatz zu Militärregierung
Zivilschutz - Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung im Kriegs- oder Katastrophenfall
Zivilstand (schweiz.) Familien-, Personenstand
Zivilstandsamt - Standesamt
Zivilstandsbeamte
Zivilverteidigung - Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung und des Staates im Kriegsfall
Civil, Civil Society

Die Wandlungen der Begriffe zeugen von den Wandlungen der Kultur und so zeugt die Wandlung des Kultur- und Zivilisationsbegriffs in den europäischen Sprachen auch von der Wandlung der Kultur der Kultur. Man kann in den deutschsprachigen Wörterbüchern z.B. eine Entwicklung des Begriffes Zivilisation beobachten, die vom abschätzenden, eurozentrisch orientierten Begriff langsam zurückgehen und den Begriff wertfreier im postkolonialen Diskurs fassen. Andererseits kann man in Wörterbüchern aus den ehemaligen realsozialistischen Ländern andere Entwicklungen beobachten, die den Begriff vor der Wende (vor allem in den philosophischen Wörterbüchern) vorwiegend "dialektisch materialistisch" zu erfassen versuchten. Die Wandlung des Begriffes der Kultur und Zivilisation in den DDR-Wörterbüchern ist für mich schwieriger zu verfolgen, die DDR-Wörterbücher gibt es nicht mehr, sie haben den altbundesrepublikanischen Bedeutungen den Platz geräumt, den Gebrauch müsste man aber doch untersuchen können. Stellvertretend gebe ich meine Beobachtungen zu dem Begriff im Bulgarischen, zitiert aus www.inst.at.kulturen.

"Wenn man die Entwicklung des Kulturbegriffes im Bulgarischen im 20. Jahrhundert verfolgt, kann man in den letzten Jahren unter anderem auch eine Tendenz zu einer bewertungsfreieren Auffassung von Kultur beobachten, d.h. zu einer, dem posttotalitären und postkolonialen Diskurs sich annähernden toleranteren Einstellung den unterschiedlichen Kulturen gegenüber und einer langsamen und vagen Distanzierung von der historistischen Herangehensweise. Es sind aber auch andere Tendenzen, die den intrakulturellen Raum von Dorf- und Stadtkultur und andere Subkulturen charakterisieren zu beobachten, die einer gesonderten Untersuchung bedürfen." (www.inst.at.kulturen)

Der zweite Weg: Bei der Bestimmung der Grenzen und des Gegenstandes der Zivilisation können uns einige kulturwissenschaftliche, philosophische und erkenntnistheoretische Ansätze zu Hilfe kommen. An erster Stelle würde ich Norbert Elias erwähnen, der mit seinen akribischen Untersuchungen über den Gebrauch von Kultur und Zivilisation im Deutschen und Englischen und die Entwicklung der Zivilisation - "Über den Prozess der Zivilisation" - eine erste Ebene von Vergleichen, eine erste Suche nach dem "Verbindenden der Kulturen" geschaffen hat. Dabei schafft er ein Instrumentarium, das dem sozialen Raum und sozialen Phänomen der zwischenmenschlichen zivilisatorischen Prozessen angemessen ist - er betrachtet die "Menschen in Figurationen", wie ein weiterer Titel von ihm heißt(1), die von den unterschiedlichen Ausformungen der Kultur bestimmt werden.

Eine entscheidende Rolle für die Bestimmung und Ortung des Gegenstandes der Zivilisation gewinnen die erkenntnistheoretischen Ansätze von Karl Poppers Drei-Welten-Theorie. Der bekannte Philosoph, Soziologe und Physiker Karl Popper entwickelt in seinen philosophischen erkenntnistheoretischen Ansichten in Anschluss an Immanuel Kant die Drei-Welten-Theorie, die uns bei der Bestimmung dessen, was unseren Zivilisationsbegriff bestimmt hilfreich sein kann. In seiner kurzen und aufschlussreichen Formulierung betrachtet Karl Popper die Welt in ihrer ständigen Vielfalt und Veränderbarkeit als eine Einheit von drei Welten: die Dreiwelten-Theorie trägt einen erkenntnistheoretischen Charakter und überwindet den Leib-Seele-Dualismus in Philosophie und Literatur. Nach Karl Popper ist die Welt in der kürzesten und plausibelsten Formulierung in drei Welten eingeteilt: die Welt der physischen Gegenstände als "Welt1", die "Welt psychischer Zustände, einschließlich der Bewusstseinszustände" ("Welt2") und in die Welt "der Inhalte des Denkens und der Erzeugnisse des menschlichen Geistes" oder "Welt3"(2). Welt1 umfasst im weitesten Sinne physikalische Objekte, chemische und physikalische Prozesse, Kräfte und Kräftefelder, die wir für wirklich halten oder an deren reale Existenz wir zumindest glauben und die wir als gegeben voraussetzen(3), die Welt der ursprünglichen physischen Masse. Die Welt der physischen Dinge ist die "Welt 1", das ist die Welt als ursprüngliche Gegebenheit, das Universum, so wie es erschaffen wurde oder entstanden ist, die Planeten, die Natur, der Kosmos. Die Welt2, die Welt der psychischen und geistigen Prozesse ist die Welt menschlicher und menschheitlicher Reflexionen und Selbstreflexionen, der Menschheit als reflektierendes Subjekt. Diese Welt korrespondiert mit der Welt3, denn die Menschheit pflegt ihre Reflexionen und Visionen in Wirklichkeiten zu verwandeln. Der Mensch ist sowohl Subjekt als auch Objekt seiner Umwelt, seiner Zivilisation. Die Welt3 ist die Welt der Hervorbringungen des menschlichen Denkens(4) und der Resultate des menschlichen Handelns: vom Feuer und vom Rad, über die unterschiedlichen Bauten kultureller Tätigkeit und Resultate menschlichen Denkens bis zur Atombombe. Zu dieser dritten Welt zählt Popper auch die Sprache und alle Produkte der menschlichen Kultur. Sie ist es, die sich ständig verändert und wandelt, und in diesem Prozess der Veränderung auch den Menschen mit sich verändert. Denn als Resultat eines über Generationen gehenden menschlichen Handelns wird sie zugleich zum bildenden Agens des menschlichen Bewusstseins. Sie trägt in sich die Informationen des jahrhundertslangen menschlichen Handelns. Diese Informationen hängen aber von der jeweiligen Gruppenkultur und ihren Traditionen ab - der Aufbau und die Infrastruktur von Städten oder von ländlicher Kultur, Kultur der Berge oder der Ebenen, die Kultur des Adels oder des Bürgertums (z.B. Bildungsbürgertum) haben in der europäischen Kultur viel mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede durch Landesgrenzen, die durch die unterschiedlichen Jahrzehnte (nicht einmal Jahrhunderte) sich ständig bewegt haben und die "Bürgerschaft" der mitgerissenen Bürger mitverändert haben, nicht aber ihre Lebensweise. Diese dritte Welt mit ihren Produkten, in die man "hineingeboren" wird, in die man hinein oder aus der man herauswächst, können wir als die Grenzen der Zivilisation bezeichnen.

Ein weiterer, dritter Ansatz wäre noch wichtig: Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu dem Verhältnis zwischen Mensch und Kultur, und ohne auf einen historischen Überblick dieser Einstellungen eingehen zu wollen, werden wir von dem für unsere Betrachtung produktiven Ansatz ausgehen, der in der doppelten Einstellung zum Menschen als Schöpfer und Geschöpf der Kultur besteht. In dieser Einstellung ist auch die Zukunft als Möglichkeit wahrnehmbar, den Menschen in seiner Lebenswelt zu betrachten. Seine Lebenswelt aber ist seine Kultur. Erst im soziokulturellen Umfeld wird der Mensch zu dem, was er werden soll, und erst aus dem soziokulturellen Umfeld heraus ist das Menschenbild einer konkreten Epoche zu erkennen, in der produktiven Wechselwirkung zwischen Lebens- und Kulturerzeugnissen und sich und den anderen Menschen. So befasst sich z.B. die Kulturanthropologie mit dem ganzen Menschen: sie betrachtet den Menschen in seiner Offenheit hinsichtlich der Erkenntnis als auch des Verhaltens. Der Mensch ist das einzige Wesen, welches als halbfertiges Produkt zur Welt gebracht wird, welches mehrere Jahre braucht, bis es die Verhaltensnormen der Gesellschaft angenommen hat und noch mehrere, bis es als vollwertiges (kein minderjähriges) Mitglied der Gesellschaft anerkannt wird. Alle sonstigen Tierarten verlassen ihre Kleinen nach der ersten Periode des Stillens oder des Fütterns - der Mensch braucht je nach kultureller Ausformung 16 bis 20 Jahre, bis er als volljährig, d.h. als Kultur- und Zivilisationswesen anerkannt wird. Der Mensch ist auch das einzige Lebewesen, welches eine Familie und eine Familienkultur braucht, um seine Kleinen zu erziehen. Also, als halbfertiges Produkt wird der Mensch zur Welt gebracht, um die andere Hälfte von der Familie, von der Gesellschaft und von der Tradition zu bekommen. Dies berechtigt uns also, jene Bedingungen zu untersuchen, die diese andere Hälfte des Menschen und der Menschheit ausmachen, und die unter verschiedenen historischen, geographischen, sozialen und familiären Bedingungen unterschiedlich sind, aber gleichzeitig auch gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Des weiteren soll der Mensch jedoch nicht nur als Objekt, als halbleeres Gefäß betrachtet werden, welches durch verschiedene kulturelle Tinkturen ausgefüllt wird, sondern auch als Subjekt seiner eigenen Gestaltung und die seiner kulturellen Umgebung: also als schöpferisches und freies Subjekt seiner eigenen Lebens- und Kulturwelt. Und zu allerletzt sollten wir auch noch darauf hinweisen, was wir unter Mensch verstehen. Der Mensch ist weder ein Einzelwesen, entfremdet und unabhängig existierend, eine selbstgenügsame genialische (der Künstler) Monade seiner Umwelt, noch verstehen wir unter Mensch eine in sich einheitliche ununterscheidbare Menschheit, sozusagen ein transzendentales Subjekt, welches sich von allen menschlichen Eigenschaften zusammenstellen und abstrahieren ließe, um den Idealbegriff des Menschen und der Menschheit zu bilden. Wenn wir schon angenommen haben, dass der Mensch als halbfertiges Produkt von seiner Umwelt und Kulturwelt zusätzlich gestaltet wird, müssten wir uns von jenem klassischen Begriff einer idealen abstrakten Menschheit und eines transzendenten Subjekts trennen und den Menschen in den verschiedenen Figurationen seiner Kulturwelt betrachten als ein Doppelwesen: als Einzelwesen und als kulturschaffendes Gruppenwesen: Familie, Gruppe, Klasse, Masse, Schicht. Auch seine Gruppenzugehörigkeit entscheidet sich sowohl von äußeren Gegebenheiten wie Familie, Tradition, Bildung, Nationalität, Lebensort u.s.w. als auch von inneren Faktoren, wie Charakter, Bildungsfähigkeit, "Genialität", Entscheidungsfähigkeit u.a. Wenn wir jedoch in unseren Untersuchungen die Menschen als die Schöpfer und Geschöpfe der Zivilisation betrachten, sollten wir den Begriff des Menschlichen nicht nur im sozialwissenschaftlichen, sondern auch im kulturanthropologischen Sinne hinterfragen. Was verstehen wir kulturanthropologisch unter dem Begriff Mensch, lässt sich auch mit Michael Landmann fragen: Ist er das Mittelmaß des Menschlichen bei allen Kulturen und Zivilisationen, nach dem gesucht wird, "also nach einem Kriterium, anhand dessen wir bestimmen können, ob ein Wesen überhaupt ein Mensch ist? Oder ist das nur eine vorbereitende Frage und geht es darum, die höchsten Möglichkeiten der Menschheit zu entdecken, zu denen zwar nicht jeder Mensch und nicht einmal jede Kultur gelangt, in denen aber das, was zuinnerst im Menschen liegt, erst wahrhaft, erst vollendet in Erscheinung tritt? Suchen wir den tiefsten Punkt seines Wesens, von dessen Verwirklichung ab das Prädikat Mensch zutrifft, oder suchen wir den höchsten Punkt seines Wesens, sein Ideal - wenn es ein solches gibt -, hinter dem er aber oft auch zurückbleibt?"(5)

Diese drei Ansätze ergeben dann auch die Struktur unseres Gegenstandes, der Zivilisation.

Unter Zivilisation werden wir des weiteren eine Form der Organisation der Bürger und ihrer Kultur verstehen, die sowohl die materielle, als auch die soziale und die mentale Sphäre umfasst. Die Zivilisation ist sowohl als der Prozess von Errichtung materieller, sozialer und mentaler Organisation zu verstehen als auch als das Resultat dieses historischen Prozesses. Die materielle, soziale und mentale Organisation sind auch die drei Säulen menschlicher Zivilisationen und je nach ihren Inhalten und ihrer Gestaltung können die einzelnen Zivilisationen beschrieben und voneinander unterschieden werden. Die Menschheit erschafft mit ihren Denkmöglichkeiten und den Fähigkeiten, ihre Umwelt zu verändern auch ihre Zivilisationen, die ihrerseits auch eine Rückwirkung auf die erste Welt und auf die Menschen ausüben, sie formieren die Menschen, sie bestimmen ihre Gesinnungen und ihr Bewusstsein. Der Mensch ist sowohl als Schöpfer, als auch als Geschöpf seiner Umwelt, seiner Kultur und Zivilisation zu verstehen.

In einem Essay von 1923 hat der große deutschsprachige Denker und Dichter Robert Musil diese definite Bedingtheit des kulturschaffenden Subjektes der europäischen Zivilisation folgendermaßen beschrieben:

Versuchen wir von uns abzuziehen, was zeitbedingtes Convenu ist, so bleibt etwas ganz ungestaltetes, denn auch unser Persönlichstes ist als Abweichung auf das System der Umwelt bezogen. Der Mensch existiert nur in Formen, die ihm von außen geliefert werden. "Er schleift sich an der Welt ab", ist ein viel zu mildes Bild; er presst sich in ihre Hohlform müsste es heißen. Die gesellschaftliche Organisation gibt dem einzelnen erst die Form des Ausdrucks und durch den Ausdruck wird erst der Mensch. (Robert Musil, GW, Bd.8, S.1370)

Darin steckt soviel Zivilisationskritik wie auch Medienerfahrung, die die 1930-er Jahre nur bedingt geben konnten, die aber die Feinfühligkeit und die Voraussicht des Denkers genau durchschauen ließen und ihn zum Vorläufer der Kulturwissenschaften in Europa werden ließen.

Was ist nun die Europäische Zivilisation, worin unterscheidet sie sich von den anderen und was ist es, was uns berechtigt von einer europäischen Zivilisation zu reden, wenn alle die europäischen Kulturen - die französische, die deutsche, die ungarische, die polnische, die rumänische, die bulgarische usw. auf ihrer Eigenart und Einmaligkeit bestehen. Welches ist Das Verbindende zwischen den europäischen Kulturen, wie sind diese drei Säulen der Europäischen Zivilisation beschaffen. Unter materieller Organisation der Europäischen Zivilisation werden wir das Erbe der alten Zivilisationen auf dem Alten Kontinent betrachten und der Übergang zur Europäischen Zivilisation, das gemeinsame Erbe in der griechischen und römischen Antike, im Judentum und im Christentum, das in Stadtplanung und Architektur, im Kulturgedächtnis und in schriftlicher Überlieferung seine materielle Ausformungen der Kultur aufbewahrt hat und weiterprägend sich auswirkt. Denn egal, ob man gläubig oder nicht gläubig ist, wenn man jeden Tag an einer bestimmten Kirche oder Synagoge oder beidem zur Schule oder zur Arbeit geht, akzeptiert man das als einen Teil der eigenen Kultur, selbst wenn man die Inhalte nicht weiter kennt. Und man fühlt sich in dieser architektonischen Umgebung zu Hause. Ähnliche Erfahrungen mit einem kleinen Grad an Neuigkeit wird man in anderen Städten und Städtel Europas machen - die Kirchen werden nicht mehr katholisch, sondern protestantisch oder orthodox sein, die Synagogen werden evtl. zu Kulturhäuser ausgebaut worden sein, immerhin bleibt an der Umgebung etwas Vertrautes dran, was sich ändert, sind Nuancen. Ganz anders ist es, wenn man in die indische, japanische oder chinesische Kultur, in die fernöstliche Zivilisation oder das Morgenland einsteigt. Es ist eine andere Welt: Anderes kulturelles und soziales Gedächtnis, andere materielle Organisation der Zivilisation, anderes Stadtbild. Sowohl Urbanität als auch ländliche Kultur und Naturbild bzw. Naturverhältnis unterscheiden sich grundsätzlich voneinander. (Unterschied zwischen dem deutschen Wald und dem japanischen. Der deutsche Wald als ein Extremfall des europäischen Waldes.). Natürlich kann man dort auch Ähnlichkeiten zur eigenen Kultur und Zivilisation bemerken, die man dann aber als die Gemeinsamkeiten der Globalisationsebene ermitteln kann oder als archaische Schnitt- und Übergangspunkte. Denn das Verbindende der Zivilisationen ist schon die Globalisierungsebene, und auf allen diesen Ebenen hat man das Bündel der anderen Identitäten mit. Das soziale und kulturelle Gedächtnis hat in der europäischen Zivilisation bestimmte mnemotechnische Formen angenommen, die meistens auf Simonides ("Andenken an Bilder" und das "Abstützen durch Organisation, durch eine Ordnung") oder die jüdische deuteronomische Tradition zurückführen(6), das Befeiern von Bräuchen und Feiertagen, die Untersuchung der Bedeutung und der Inhalte von nationalen oder religiösen Feiertagen und der Geschichtsschreibung als soziales Gedächtnis kann Aufschlüsse über diesen ersten Teil, der materiellen Organisation der Europäischen Zivilisation ermitteln. Kultur und Zivilisation als Konstruktion von Wirklichkeit, die andere Konstrukte fortsetzt und aufbaut.

Die zweite Säule der europäischen Zivilisation sind die Formen und Funktionen menschlicher Figurationen, die Organisation menschlicher Figurationen - die unterschiedlichen kulturellen Ausformungen gesellschaftlicher Organisation in der historischen Perspektive und in der Gegenwart. Auch hier haben wir die "römischen Wurzeln" von Zivilgesetz und gesellschaftlichen Strukturen, aber auch die zeitbedingten Entwicklungen der unterschiedlichen Religionen, der Nationen und Nationalismen, Massen und Massenerscheinungen (einschl. Massentheorien - Gustav Le Bon, Hermann Broch, Elias Canetti). Hier soll auch ein Versuch unternommen werden, durch massentheoretische Betrachtungen auch historischen Prozesse des letzten Jahrhunderts auf die Spur zu kommen, Probleme und Unterschiede in der Entwicklung der Zivilgesellschaft in den unterschiedlichen Teilen Europas festzustellen, normative Dokumente und Untersuchungen über die Civil Society, ihr Verhältnis zur Staatsbürgerschaft und zur Politik zur Kenntnis zu nehmen und zu untersuchen. Der Begriff der Figuration dient für die Erschaffung eines klaren Begriffsapparates, mit dem der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Objekt zu überwinden ist und sie nicht mehr als antagonistische Figuren angesehen werden. Denn in einem gewissen Sinne kann eine jede Figuration einer anderen subsumiert werden oder kann andere in sich erhalten, die nicht unbedingt in einer hierarchischen Struktur angeordnet sind. Die traditionellen Begriffe der Gesellschaftswissenschaften operieren sehr oft mit einem abstrakten Begriff vom Menschen, der Menschheit und der Gesellschaft. Deswegen wollen wir uns konkreten Massenfigurationen zuwenden, in denen einzelne Individuen in interdependenten Zusammenschlüssen in einer durch und durch strukturierten Zivilgesellschaft fungieren. In einem zusammenwachsenden Europa ist die Untersuchung des Standes der Zivilgesellschaften und ihrer Entwicklung eine unentbehrliche Problemlösung. Ein wichtiger Punkt in diesem Umfeld menschlicher Figurationen und der Zivilgesellschaft ist das Prinzip Verantwortung(7), das unter den neuen technischen und gesellschaftlichen Bedingungen auch neue Dimensionen bekommt. Die figurationssoziologischen und massentheoretischen Ansätze lassen Einsichten über die Probleme der Informations- und Überinformationsgesellschaft erkennen.

Und die dritte Säule der Europäischen Zivilisation, die Mentale Organisation mit ihren anthropologischen Aspekten soll als die philosophisch-anthropologische Selbstreflexion des europäischen Menschen verstanden werden, die Theorien, die er von sich und über sich geschaffen hat, um sich besser zu verstehen. Ein historischer Überblick dieser Selbstreflexion als Selbstverständnis und ein Blick auf die "multiplen Identitäten in einem multikulturellen Europa" sollen die utopischen, antiutopischen und reellen Probleme einer multikulturellen Gesellschaft ansprechen.

Die Europäische Zivilisation sollte im Spannungsfeld des für Europa der früheren Jahrhunderte charakteristischen Eurozentrismus und dem in den letzten Jahrzehnten aus den USA sehr schnell voranschreitenden Globalismus betrachtet werden. Da die Entwicklung der Wissenschaften parallel mit der Entwicklung der Wirtschaft voranschreitet und die Geschwindigkeit gegenseitig bedingt anwächst und die Expansionspolitik weiter unterstützt, ist immer vorsichtig mit den europäischen Menschen- und Menschheitstheorien umzugehen, die aus einem Zeitalter stammen, da Europäertum und Menschheit gleichgesetzt wurden. (z.B. Goethes angebliche "Menschheitstragödie" sollte als die Problematik des europäischen "faustischen Menschen" betrachtet werden und seinem gebrochenen Verhältnis zur Natur, zur Herrscher-Diener-Problematik, zum "Erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält", zu Gott, Welt usw.). Man sollte alle Begriffe nach ihrem eurozentrischen Gehalt überprüfen. In diesem Sinne müsste man bedenken, dass die Geographie im Sinne der von der Natur gesetzten kontinentalen Grenzen, das engere Zusammenleben so vieler Völkerschaften innerhalb von so kleinen Grenzen und die daraus folgenden historischen Begebenheiten von Kriegen, ständigen Grenzziehungen und Aushebungen zum großen Teil das Schicksal und die Geschichte dieses kleinen und zersplitterten Kontinentes bestimmt haben, das im Begriffe ist, zusammenzuwachsen. Jahrhunderte lang haben die interkontinentalen Kontakte entweder nicht stattgefunden oder sind nach langen monatelangen Reisen möglich gewesen, sodass die kontinentalen Zivilisationen geschlossenen Systemen glichen. Die Globalisierung jetzt erreicht erstens eine kleinere Schicht von Menschen, andererseits nimmt sie aber auch bei dieser dünnen Schicht nur einen bestimmten Anteil in Anspruch (Wirtschaft, Internet, Film und Musik).

Die wissenschaftliche Herangehensweise und die Forschungsmethoden sind interkulturell und transdisziplinär kulturwissenschaftlich. Es werden folgende Wissenschaftsquellen benutzt: Zeitgeschichte, Literatur und Literaturwissenschaft, Linguistik, Kulturgeschichte, Philosophie, Soziologie, Religionsgeschichte, Psychologie, Psychoanalyse, Futurologie u.a.

© Penka Angelova (Rousse)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. auch: Ein Norbert Elias-Lesebuch. UTB 1995

(2) Karl Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg 1974. Auch: Karl Popper/C.Eccles: Das Ich und sein Gehirn. München-Zürich 1982.

(3) Diese Auslegung schließt nicht konstruktivistische Denkmethoden aus.

(4) Karl Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg 1974. Auch: Karl Popper/C.Eccles: Das Ich und sein Gehirn. München-Zürich 1982.

(5) Michael Landmann: Philosophische Anthropologie, a.a.O.,7.

(6) als Urszenen für zwei verschiedene Techniken des Erinnerns: die abendländische (individuelle) Mnemotechnik, deren Gründungslegende die von Simonides ist und die "kollektive oder kulturelle Mnemotechnik" des Diaspora-Judentums, deren Gründungslegende im sog. deuteronomistischen Geschichtswerk (die Forschung identifiziert es als das 5. Buch Mose) erzählt wird - das kollektive Bewusstsein von der Schuld durch Vergessen.

(7) Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1984.


2.1. Kultur und Zivilisation

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


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For quotation purposes:
Penka Angelova (Rousse): Kultur und Zivilisation. Ein wissenschaftliches und bildungsorientiertes Konzept. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/02_1/angelova.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 3.6.2004     INST