Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juli 2004
 

2.4. Nomadentum / Nomadism
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Knut Ove Arntzen (Bergen) / Ulf Birbaumer (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Thespiskarren statt Theatersarg
Spektakelkünstler müssen Nomaden sein

Ulf Birbaumer (Wien)
[BIO]

 

Auf einem Theaterkongreß 1977 in München zum Thema "Der Raum des Theaters" kam ein bekannter Theaterarchitekt schlecht weg, als er in seinem Statement die diversen Theaterneubauten schlicht und einfach als die "Särge nach 45" bezeichnete. Das sei kein guter Dienst am Theater gewesen, weil man immer häufiger nun nicht wisse, was man in diese Betonneubauten an Produktionen hineinstellen solle; kein Wunder, wenn das Publikum wegbleibe. Nach einigem Für und Wider (Folgen für heute: die beeindruckende Theaterdichte im wiedervereinten Deutschland ist nicht mehr finanzierbar) wurde es einer Kollegin aus dem westafrikanischen Burkina Faso zu bunt: sie verstehe die ganze Diskussion nicht, da das afrikanische Theater ein Wandertheater sei, also ein nomadisches. Wenn noch hin und wieder Theatergebäude herumstünden, so handle es sich um Relikte aus der Kolonialzeit. Ein Einheimischer würde sich niemals dorthin verirren. Nur die europäischen "Restkolonialisten". Spectacle vivant funktioniert also dezentral - nur in Afrika?

Auch für Europa müßte man einmal hinterfragen, ob das System des Teatro stabile wirklich noch die bestimmende Komponente des Theaterbetriebs darstellt, und wenn - zumal in Zentraleuropa - das so ist, dann sollte man vielleicht überlegen, welchen Stellenwert in der über 2000jährigen Theatergeschichte dieses feste, gemauerte Theater mit fixer Bühne und durch eine Rampe von ihr getrenntem Zuschauerraum historisch gesehen tatsächlich hat. Stellt es nicht nur eine Episode dar? Ist die sog. boîte à l'italienne, die italienische Schachtel, also das Guckkastentheater nicht stark gebunden an etwas, was wir gerne "bürgerliches Theater" nennen?

Was fällt auf bei dieser Fragerei?

1. daß die Fragen vornehmlich eurozentristisch gestellt sind und daß sie nur Episoden in der Geschichte des Welttheaters betreffen. Interkulturell gedacht verlieren sie an Bedeutung. Denkt man in weiteren Zeitdimensionen (ähnlich wie bei Klimaveränderungen) ebenso.

Das Kommunikationsfeld "Theater" (Definitionen!) ist in jüngerer Zeit immer wieder unter den genannten Aspekten untersucht worden. Auch im Vergleich mit anderen Künsten.

Theateranthropologie und Ethnoszenologie waren dabei hilfreich.

2. daß die Fragen, auch die zum europäischen Theater, mit wenigen Ausnahmen immer noch auf der Ebene der herkömmlichen Theaterhistoriographie gestellt werden, wiewohl etwa die Ethnoszenographie (Jean- Marie Pradier) schon begonnen hat, die Theatergeschichte auf Grund des neuen Blickwinkels, neuer Belichtungen und Unterstreichungen, anders zu schreiben, etwa unter dem Aspekt "der Körper des Theaters, das Theater der Körper" (siehe die Kongreßakten gleichen Titels am DAMS in Bologna im Herbst 1999).

Anthropologische Prae-Fixierungen, "Theater ohne Zuschauer", der Raum des Theaters, trennungsaufhebende Darstellungsweisen des spectacle vivant, alle Formen, die das Verbindende statt das Trennende der Kulturen in den Vordergrund stellen, gewinnen in der Deskription und Analyse zunehmend an Bedeutung. Dazu gehört vor allem auch das Faktum, daß statt der trennenden Rampe die Einheit von Akteur und Publikum betont wird.

Und das nicht nur von der Theateranthropologie (Barba: Le canoe de papier; Giacchè: Il spettatore participante), sondern gerade auch von der sog. Ethnoszenologie, die - Barba erweiternd - von Pradier als "études dans les différentes cultures des pratiques et des comportements (sic!) humains spectaculaires organisés (PCHSO)" definiert wird, wobei spectaculaire in etwa dem englischen performing entspricht. Der Aspekt von Multimedialität, Interkulturalität und Intersoziabilität erscheint hier ausreichend mitbedacht (siehe: Ulf Birbaumer: Theater und mondialisation in: TRANS, S. 92 ff.)

Gerade dazu erscheint es interessant, wieder einmal in Hans Magnus Enzensbergers Medienbaukasten von 1970 zu schnüffeln, der, zwar für die AV-Mediensituation dieser Zeit gedacht, immer noch sinnstiftend auf die ebenso bipolare gesellschaftliche Struktur von Theater/Spektakelkunst umzulegen wäre.

Hans Magnus Enzensberger, zur Erinnerung:

Repressiver Mediengebrauch Emanzipatorischer Mediengebrauch
Zentral gesteuertes Programm Dezentralisierte Programme
Ein Sender, viele Empfänger Jeder Empfänger ein potentieller Sender
Immobilisierung isolierter Individuen Mobilisierung der Massen
Passive Konsumentenhaltung Interaktion der Teilnehmer, feed-back
Entpolitisierungsprozeß Politischer Lernprozeß
Produktion durch Spezialisten Kollektive Produktion
Kontrolle durch Eigentümer oder Bürokraten Gesellschaftliche Kontrolle durch Selbstorganisation
(H.M.Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20/1970, S.159 ff., bes. S.173).

Er unterscheidet da also zwischen repressivem und emanzipatorischem Mediengebrauch.

Fürs Theater formulierten Turner u.a., daß zwischen affirmativer und subversiver Wirkung von Theater zu unterscheiden sei. Zentralistischem Theater in festen Häusern stünde somit dezentrales spectacle vivant - Kontemporalität in beiden Fällen vorausgesetzt, aber auch strukturell anwendbar auf die Historiographie von Theater - gegenüber, entsprechend der historischen Bipolarität, wie sie Taviani bei der Commedia dell'arte ortet: teatro in palazzo / teatro in piazza.

Die skizzierte Bipolarität könnte man vielleicht wie folgt auflisten:

traditionelles Theater spectacle vivant/Spektakelkunst
künstlich (literarisch) körperlich (gestuell)
verbal visuell
affirmativ subversiv, emanzipatorisch
gelenkte Information Gegeninformation
statisch dynamisch
zentral organisiert dezentral organisiert
hierarchisch kollektiv
oligarchisch demokratisch
passiv (inter)aktiv
one-way-communication face-to-face-communication
individualistisch solidarisch
monokulturell interkulturell
sozial selektiv intersozial
fester Bau ambulante Bühne, Nomadismus
traditionelle Ästhetik aisthesis: Wahrnehmung, Erfahrung
(des Schönen, Guten, Wahren
oder der schönen, guten Ware?)
 

Die Liste ist nur grob angedacht und vor allem in den einzelnen Wortpaaren zu verbessern und ggf. zu erweitern. Auch ist zu bedenken, daß bipolare Ansätze über eine Skala zwischen den Polen verfügen und zahlreiche Zwischenformen sowie Dualismen möglich sind. Oft mögen die angeführten Eigenheiten des einen gegenüber dem "anderen Theater" nur einen wesentlichen Teil phasenhaft kennzeichnen. Dennoch sind die Gegensätze evident - und das seit mehr als 2000 Jahren Geschichte.

Als Beispiel könnte man einmal mehr das Bild Tavianis für die commedia populare heranziehen, den Gegensatz zwischen commedia in palazzo und commedia in piazza, Straßentheater im weitesten Sinne, das wir seit dem Auftreten des giullare im Mittelalter

kennen (Spielmann, Skomoroche). Als Zentralfigur dieser commedia in piazza agiert Harlekin als inszenierte, kostümlich präzisierte und karnevalesk maskierte Weiterführung dieses

Spielmanns und/oder der Spielfrau. Man kann sie sehen als mutige Träger(innen) unbequemer, also alternativer Information zur Information der Mächtigen. Münz etwa sieht diesen Harlekin als dualistische Figur, gleichzeitig Betrüger und Betrogener, Täter und Opfer, Guter und Böser, Macher und Gemachter, Komiker und Tragiker, Narr und Weiser, Teufel und Engel (Theatralität und Theater, S.149). Er verkörpert gleichzeitig Himmel und Hölle, Gut und Böse; er ist aber vor allem auch, Kopf und Bauch synthetisierend, der subversive Bote eines goldenen Zeitalters, der seine Utopie gegen das Ordnungsprinzip einer grausamen Wirklichkeit setzt. Er springt auf die piazza mitten unter die Leute, um ihnen deutlich zu machen, was für sie, die Betroffenen, Sache ist. Dabei bleibt er dem Körperlichen verhaftet, inkludierend, was Grotowski und Barba pré-expressivité nennen. Er steht für Demokratisierung und Emanzipation der Zivilgesellschaft, indem er den goldenen Käfig der Schaubühne als moralischer Anstalt (wessen Moral, wessen Anstalt) mit einem Sprung nach unten verläßt. Er wird zum Nomaden, von Dorfplatz zu Dorfplatz wandernd.

© Ulf Birbaumer (Wien)

2.4. Nomadentum / Nomadism

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For quotation purposes:
Ulf Birbaumer (Wien): Thespiskarren statt Theatersarg. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/02_4/birbaumer15.htm

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