Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juli 2004 | |
2.4. Nomadentum / Nomadism Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Gabriele C. Pfeiffer (Wien) [BIO]
"Nomadentum" im Kontext Kunst und im Speziellen auf Theater bezogen könnte u.a. als Metapher verstanden werden, um Prozesse und Wandlungen innerhalb der Theatergeschichte und von Theaterbewegungen zu beschreiben.(1) Und es könnte auch innerhalb dieser in einem kleineren Zusammenhang als Metapher angewendet werden - im Bezug auf eine Theaterstruktur, auf ein Theater und dessen Bewegungen. In diesem Sinne ist dieser Text ein Versuch, die Idee von "Nomadentum und Theater" zusammenzudenken. Anhand eines Beispiels aus jüngster österreichischer Theatergeschichte, dem Fo-Theater in den Arbeiterbezirken Wien, werden einige Aspekte herausgearbeitet, beschrieben und deren Konsequenzen aufgezeigt.
Rosenkranz. [...] welche Fastenbewirtung [werden] die Schauspieler bei Euch finden [...]. Wir holten sie unterweges ein, sie kommen her, um Euch ihre <Dienste> anzubieten. Hamlet. [...] Was für eine Gesellschaft ist es? Rosenkranz. Dieselbe, an der Ihr so viel Vergnügen zu finden pflegtet, die Schauspieler aus der Stadt. Hamlet. Wie kommt es, daß sie umherstreifen? Ein fester Aufenthalt war vorteilhafter sowohl für ihren Ruf als ihre Einnahme. Rosenkranz. Ich glaube, diese Unterbrechung rührt von der kürzlich aufgekommenen Neuerung her. Hamlet. Genießen sie noch dieselbe Achtung wie damals, da ich in der Stadt war? Besucht man sie ebensosehr? Rosenkranz. Nein, freilich nicht. Hamlet. Wie kommt das? werden sie rostig? Rosenkranz. Nein, ihre Bemühungen halten den gewohnten Schritt; aber es hat sich da eine Brut von Kindern angefunden, kleine Nestlinge, die immer über das Gespräch hinausschrein und höchst grausamlich dafür beklatscht werden. [...](2) |
Zum Terminus "Nomadismus"(3) ist zunächst festzuhalten, dass das Wort aus dem Griechischen kommt (nomas von nemein; = Weide, Spielraum, Wohnsitz, Bezirk, Provinz, Landstrich und = weiden) und dass damit eine Lebens- und Wirtschaftsform von Hirtenvölkern bezeichnet wird. Es wird von einem Vollnomadismus gesprochen, d.h., dass es neben der Viehhaltung keinen Ackeranbau gibt und die Hirten mit ihren Familien das ganze Jahr über gemeinsam mit den Herden unterwegs sind. Sie folgen traditionell festgelegten Wanderwegen, bei denen es fixierte Zwischenstationen gibt.(4)
Als kurz umrissene Definition dient ein Zitat aus Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise von Fred Scholz:
Bei Nomadismus handelt es sich um eine eigenständige gesellschaftliche Ausdrucksform, um eine Kulturweise, deren interne (soziale, ökonomische) Prozesse, steuernde Faktoren und äußere Erscheinung prinzipaliter dem elementaren "Gesetz" der Überlebenssicherung gehorchen. Sie konnte innerhalb des Altweltlichen Trockengürtels - bestimmte, region[s]spezifische ökologische und soziopolitische Rahmenbedingungen vorausgesetzt - überall und zu jeder Zeit immer wieder neu und auch originär - im Prinzip unabhängig von den Evolutionsstufen der Seßhaften - entstehen. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie nicht auf Naturbeherrschung und Naturausbeutung, sondern auf das Leben in und mit der Natur - [...] - gerichtet war.
Das bedeutet: Nomadismus existierte stets als reale Alternative zu Seßhaftigkeit und Ackerbau. Sie stellt als solche eine region[s]spezifische, die ökologischen Möglichkeiten und soziopolitischen Gegebenheiten optimal zur Überlebenssicherung nutzende Daseinsäußerung und damit ein elementares, konstitutives und eigenständiges Element der Kultur- und Gesellschaftsentwicklung dieses Raumes dar.(5) [Herv.d.A.]
Eine kühne Analogie aufstellend, würde das für einen Theaterkontext bedeuten, dass erstens die Form der Sesshaftigkeit und des Ackerbaus jener von feststehenden Theaterhäusern entspräche, zweitens die Struktur des Nomadismus jener von Wanderbühnen und freien Theatergruppen ohne Häuser und drittens würde die Natur oder das Milieu der Gesellschaft dem Publikum gleichgesetzt. Daraus wäre die Analogie der o.a. Begriffsbestimmung weiter zu lesen: Wanderbühnen und freie Theatergruppen sind eine eigenständige Ausdrucksform, deren interne Prozesse und äußere Erscheinung dem Prinzip des Überlebens unterliegen. Sie können überall und zu jeder Zeit entstehen - und zwar unabhängig von sesshaften Bühnen. Die Intention dieser Theaterstruktur besteht nicht in Beherrschung und Ausbeutung ihres Publikums, vielmehr ist es eine, die auf das Publikum hin orientiert ist.
Von diesen Überlegungen ausgehend stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit letztgenannte Schlussfolgerungen auf das Beispiel Fo-Theater in den Arbeiterbezirken Wien zutreffen.
Das Fo-Theater wurde 1979 von drei Personen gegründet, die einem Theater mit politischen Ansprüchen nahe stehen. Es waren dies die Schauspielerin und spätere Theaterprinzipalin Didi Macher, der Schauspieler und Regisseur Otto Tausig und der Theaterwissenschafter Ulf Birbaumer, der zur damaligen Zeit auch als Theaterkritiker tätig war, was ihm - wie er sagt - "nicht gut bekommen ist."(6) Von 1980 bis 1995 ist das Fo-Theater als GemeindeHOFtheater zur Wiener Festwochenzeit durch Wiener Bezirke und deren Gemeindehöfe gezogen, in denen vorwiegend ArbeiterInnen und Angestellte wohnten. "GemeindeHOFtheater", ein Wortspiel von Otto Tausig, weist bereits darauf hin, dass gewisse Allüren keinen Platz hatten.(7) Die bewusst gewählte Zeit der Festwochen, Mai und Juni, hatte nicht nur den Vorteil eines vorzugsweise und eher zu erwartenden schönen und warmen Wetters, sondern bot die Möglichkeit zeitgleich ein Alternativprogramm zu den Wiener Festwochen anzubieten, die sich immer mehr zu einem Fixpunkt der etablierten Theaterlandschaft in Wien entwickelten. In den 80er Jahren scheint es noch möglich zu sein, "in einem organisatorischen Nahverhältnis" zu den Festwochen eine alternative Theaterform zu schaffen und auch mit "tatkräftiger Hilfe" verantwortlicher Personen zu rechnen.(8) Das Zielpublikum des Fo-Theaters setzte sich gerade aus jenen Zusehenden zusammen, die Theaterbesuche und Theatergebäude nicht gewohnt waren. Vielmehr war die Idee, ein Publikum anzusprechen, das ein solches noch gar nicht war. Menschen, "die - wenn überhaupt - maximal ein bis zweimal im Jahr ein institutionelles Theater von innen sehen"(9). Dabei ist die Idee der Dezentralisierung weder neu noch das Auszeichnende des Fo-Theaters. Neu war die "inhaltliche Konsequenz, die räumlich breite Streuung und der "lange Atem" des Unternehmens"(10).
Das Fo-Theater wurde als Verein gegründet, um rechtliche Voraussetzungen zur Finanzierung des Theaters zu schaffen. Es besaß kein Haus und spielte in den Innenhöfen der Gemeindebauten, auf Plätzen und in Parks.(11) Dazu wanderte es von Ort zu Ort mit einer mobilen Bühne, einem Bühnenbus, später dann mit einem aufklappbaren Anhänger, "eine Art erneuerter Thespiskarren"(12). Der von den österreichischen Bundesbahnen ausrangierte Bus, den das Fo-Theater zunächst zur Verfügung gestellt bekommen hatte, erwies sich in der Charakteristik eines alten Autos als mehr oder eher weniger fahrende Sparkassa. Für Reparatur und Wartung musste taugliches Material samt Mechaniker direkt von der ÖBB angeheuert werden. Dies war zu kostspielig für dieses minimal budgetierte Theater. Nach den ersten Erfahrung und Kilometern wurde ein dem Fo-Theater gemäßer und tauglicher, eben ein Thespiskarren, also ein Anhänger, angeschafft. Diese transportable Riesentheatertruhe konnte aufgeklappt und sogleich als bespielbare Bretterbühne verwendet werden. Dieses "Sogleich" erstreckte sich über den kurzen Zeitraum eines Nachmittags, denn abends wurde bereits gespielt. D.h., an einem Nachmittag kam die Bretterbude angefahren, Theaterleute und TechnikerInnen, manchmal mit den Kindern der Gemeindebauten, zauberten eine kleine Welt hervor, eine Küche, ein Gastzimmer, einen Schrebergarten usw. Alles, was für das jeweilige Stück benötigt wurde, fand unterwegs seinen Platz und am Ort angekommen seinen Ausdruck auf der fahrenden Bühne.(13)
Die Bühne. Mammas
Marihuana ist das Beste, 1984.
Bühnenwagen von vorne, mit aufgeklappten Seitenteilen (oben)
und Bühnenwagen von der Seite (unten).
Foto Dagmar Bartik
Foto Dagmar Bartik
Die Orte, an denen dieses fahrende Volk ankommen wollte, waren Gemeindehöfe. Diese zu bespielenden Höfe wurden in mühsamer Vorarbeit von Didi Macher und Otto Tausig ein Jahr vor dem Debüt des Fo-Theater in den Arbeiterbezirken Wien abgeklappert und auf ihre Bespielbarkeit hin geprüft. Didi Macher erzählt dazu:
Ich [Didi Macher] bin damit zum Tausig, und es begannen dann ein dreiviertel Jahr lang jeden Tag bei Regen und Schnee und Kälte und Matsch unsere Reisen in die Gemeindehöfe. Wir haben alle 500 Höfe gesehen, geprüft, ob das akustisch möglich ist [...] Wir haben also geschaut, geht unser Bühnenwagen durch das Tor hinein, wie ist die Verkehrssituation, ist der Lärm von der Straße so, dass man spielen kann, dass man gehört wird.(14)
Die einmal ausgewählten Gemeindehöfe, für die dann eigens ein Ansuchen auf Kollaudierung gestellt und eine Bewilligung - jedes Jahr aufs Neue einschließlich der dazugehörigen Kosten - eingeholt werden musste, blieben die nächsten Jahre im Programm. Um einige als Beispiele zu nennen: Sturhof (2. Bez.), Sigmund Freud-Hof und Karl Schönherr-Hof (im 9. Bez.), Jean Jaurès-Hof (im 10. Bez.), Lindenhof (im 18. Bez.) Karl Marx-Hof (im 19. Bez.), Friedrich Engels-Hof (im 20. Bez.), Goethe-Hof (im 22. Bez.); modernere Siedlungen wie die Großfeld- (im 21. Bez.) oder die Per Albin Hansson-Siedlung (im 10. Bez.). Es wurde auch in Betrieben wie zum Beispiel der Firma Goerz-Elektro, Firma Wertheim, Firma Elin-Union-AG, Firma Unilever gespielt und auch an Orten wie dem Finanzamt im 8. Wiener Gemeindebezirks oder im Alten Rathaus (1. Bez.) sowie in Gasthäusern, z.B. im Gasthaus Schwindl in Gießhübl.(15)
Das GemeindeHoftheater zog nicht beliebig in und um Wien herum. Es hatte durch zwei engagierte und nach geeigneten Plätzen suchende Theaterleute Orte gefunden, die für ein Theater dieser Struktur günstig, brauchbar und notwendig schienen. An diese Orte kehrten sie wie Nomaden zu ihren Sommerweiden über 15 Jahre lang zurück. Dies bot nicht nur den KomödiantInnen Vorfreude auf Bekanntes und eine gewisse Art von Vertrautheit und somit Sicherheit - es war schließlich kein zielloses Herumwandern, es war auch für die Menschen, die in den Gemeindebauten wohnten oder in den jeweiligen Firmen arbeiteten, etwas worauf sie sich freuen (oder vielleicht auch etwas, worüber sie sich ärgern oder was sie fürchten) konnten. Es kam zu Begegnungen der Wiedererkennung.
Situationen vor einer Aufführung. Der Weltuntergang 1989,
1990.
Vor Beginn der Aufführung, der Aufbau. (Oben) "die Garderobe"
und (unten) Didi Macher mit Kindern vor der Bühne im Strindberghof,
11. Wiener Gemeindebezirk.
Die Lust des Wiedererkennens und Begrüßens war schon irgendwo bezaubernd. Und ein Bub im Lindenhof, der war zwölf Jahre alt, der hat uns [das Fo-Theater in den Arbeiterbezirken Wien] gesehen gehabt - vielleicht damals schon fünf Jahre. Und der hat beim Wechsel vom Bühnenwagen das alte Modell in dem Jahr, das dazwischen lag, nachgebaut. So schön. Und er war zuerst ganz enttäuscht, dass wir jetzt einen ganz anderen Bühnenwagen haben. Und ich habe gesagt: "Diesen Bühnenwagen wird es nicht mehr geben, den verschrotten die ÖBB längst. Das gibt's nicht mehr - nur mehr auf unseren Fotos und das, was du gemacht hast. Und das ist so schön." Und im nächsten Jahr waren drei Modelle da von unserem neuen Bühnenwagen. Also, die Kinder haben wie die Luchse aufgepasst, wie der Wagen aufgebaut wird, wie die Scheinwerfer gehangen werden, wie die Elektrizität da und dort funktioniert, wie die Hydraulik hinausgeht. Wie dann die Schauspieler kommen, sich schminken, sich anziehen. Das war für sie eine Art Fest, ein Prozess des Werdens und des Entstehens, eben auch von Arbeit. Dass nicht nur die Bühnenarbeiter schwitzen sondern dass auch wir [die Schauspielenden] klatschnass sind.(16)
Wenn Nomaden ihre Sommerweiden verlassen und zu den Winterweiden wechseln, frage ich mich in diesem Analogiespiel natürlich, wohin denn das Fo-Theater im Winter gewandert ist. Und die Antwort ist karg und kurz: Es ist gar nicht gewandert. Das Fo-Theater wanderte und spielte auf den Sommerwiesen, im Winter hielt es seinen Winterschlaf. Die KomödiantInnen waren andernorts tätig. Doch kamen sie dann wieder und zogen im Sommer mit der Theaterprinzipalin durch die Bezirke: Nicolà Filipelli, Adolf Lukan, Erni Mangold, Karl Paryla, Heinz Petters, Herwig Seeböck, Gerhard Swoboda, Otto Tausig und Peter Turrini zum Beispiel. Sie kamen teilweise vom etablierten Theater, also von den Brettern, die Ackerbau und Sesshaftigkeit bedeuten, und sahen sich nun mit dem Vieh herumziehen: keine schützende Garderobe, und keine Garderobiere, keine Stimme durch den Lautsprecher, die zum Auftritt ruft, ein Publikum im Alltagsgewand, unbequem sitzend auf Holzbänken oder hinter ihren Wohnungsfenstern, den Geruch vom Mittagessen noch in der Nase, bellende Hunde, schreiende Kinder und andere, herumlaufende Dahergelaufene, aufheulende Motorräder. Dazu waren nicht nur die Leidenschaft zum Theater, guter Wille, die Fähigkeit sich die Kostüme selbst zu nähen und gute Nerven gefragt, entscheidend war wohl der Geist der Truppe. Ein Ensemble, das auf einander angewiesen war wie selten in einem Theater. Das Zusammenspiel ist natürlich dem Theater immanent, einer Kunstform, die von der Kunstfertigkeit mehrerer Personen lebt, doch erscheint dies im Besonderen erforderlich bei dieser in "ungeschützten" Räumen stattfindenden Theaterstruktur. Es gab kein Schutzhaus, in das die KomödiantInnen sich zurückziehen hätten können - nicht einmal bei Schlechtwetter. Auch hier waren sie auf die Hilfe und das Zusammenspiel von anderen angewiesen - auch auf jenes des Publikums. So wurden von Zuschauenden Schirme herbeigeschafft, und die KomödiantInnen spielten bis das Wasser aus ihren Haaren rannte, sie klitschklatschnass waren und das Stück zu Ende war. Als Belohnung wurden sie dann zeitweise mit einem heißen Tee, einem "G'spritzten" und belegten Broten von den nahen Küchen der Gemeindewohnungen versorgt.(17)
Manchmal kam der Regen gnädigerweise auch erst am Ende. Ein Szenario dieser Art:
Wie bestellt beendet ein Regenguß die Aufführung. Hastig werden Kostüme und Kulissen in die Lastautos geräumt. Der Gewitterregen prasselt auf Holzbänke und die Planken der Bühne. Die Zuseher haben die Flucht ergriffen. Die Schauspieler sind abgetreten, weggefahren. Der Hof ist leer. Sonntagsleer. Regenleer. Die Mauern und Fenster stehen in sich gekrochen, verschlossen, grau. Der Durchgang zum nächsten Hof verdunkelt sich zu einem schwarzen Loch. Trockenes Flügelschlagen. Tauben kreischen bedrohlich, als hätten sie den Hof erobert und die Menschen in die Häuser zurückgejagt.(18)
Und das Publikum, das den Hof verlassen hat, das war "ein buntes Publikum: grüne Haare, rote Haare, weiße Haare, von einem dünnen Netz sorgfältig beschützt, keine Haare. Intellektuelle aus dem Bezirk, Wissende, Neugierige, Scheue. Kleine Kinder, auf Wolldecken im Gras liegend, vor Vergnügen kreischend"(19). Also keine Stille für die KünstlerInnen, kein Vorhang, keine Schutzdistanz, keine Gewissheit, dass jemand an einer Tür Karten kontrolliert. Karten zur Kontrolle wären ein symbolischer Hinweis für Schwellen, die es zu überschreiten gälte, um ins Theater zu gelangen. Hier gab es gar keine Karten - keine Zähl- und Zahlkarten, jedenfalls. Denn bei diesem Theater "wird nicht bezahlt". Und so lautete auch das Premierenstück des Fo-Theaters in den Arbeiterbezirken Wien: Non si paga, non si paga / Bezahlt wird nicht von jenem Schauspieler-Autor, der auch Namenspate für das Theater selbst war, von Dario Fo.
Sein Konzept eines Theaters außerhalb der Theater (teatro fuori dai teatri) war für die fahrende Bühne in Wien mehr als nur eine Idee. Didi Macher spielte mit ihrem tingelnden Theater nicht nur auf dezentralen Schauplätzen, sondern das Konzept wurde zum Programm im doppelten Sinn. Die Stücke, die von Dario Fo und Franca Rame gewählt wurden, vereinten die Möglichkeit volkskömodiantische Elemente und politische Aktualität zu verbinden und so mit der Betroffenheit der Zusehenden zu spielen. Ein Lachen, das Nägel ins Gehirn eintreten lässt. Didi Macher dazu, indem sie Franca Rame zitiert:
Unsere Komödien wollen diesen Problemen mit Lachen begegnen: einem Lachen, das nicht Bewusstsein trübt, sondern Bewusstsein schärft. "Wir glauben, daß Klagen falsch ist. Du weinst, gehst traurig nach Hause, sagst: Wie hab' ich schön geweint, - und schläfst erleichtert ein. Nein, wir wollen euch zum Lachen bringen. Es öffnet sich nicht nur der Mund beim Lachen, sondern das Gehirn. Und ins Gehirn können die Nägel der Vernunft eintreten. Ich hoffe, daß heute abend [sic!]einige Leute mit Nägeln im Kopf heimgehen..." So beschließt Franca Rame, die Bühnen- und Lebenspartnerin von Dario Fo, oft ihre witzigen Frauentheater-Monologe frei nach Molière.(20)
Und bei einer anderen Gelegenheit zitiert Macher Dario Fo: "Wir wollen den Leuten, die zu uns kommen, um mit uns zu lachen, keine billige Möglichkeit bieten, ihre Empörung los zu werden. Wir wollen, dass sie ihre Wut im Bauch behalten. Die Revolte in ihrem Innern soll dort bleiben, wo auch das Lachen weiterlebt: am Grunde der Seele des Gemüts."(21)
Zusammenfassend soll die Analogie Nomadentum - Theater in vier stichwortartig angeführten Aspekten betont werden: Erstens: Die Bewegung und Beweglichkeit wird neben die Sesshaftigkeit gestellt; zweitens: Das Wandern vollzieht sich durch einen Wechsel zwischen zwei oder mehreren Orten, wobei fixe Stationen durchlaufen werden; drittens: Das Haus als ein Zelt bzw. eine fahrende Bühne wird mitgetragen; viertens: Die gesamte Familie zieht umher, das Ensemble ist in extremer Form aufeinander angewiesen.
Zu den anfangs genannten Schlussfolgerungen (Wanderbühnen und freie Theatergruppen sind eine eigenständige Ausdrucksform, deren interne Prozesse und äußere Erscheinung dem Überleben dienen. Diese Theaterstrukturen können überall, zu jeder Zeit und unabhängig von sesshaften Bühnen entstehen und möchten ihr Publikum nicht beherrschen und ausbeuten, sondern auf ein Publikum hin orientierte sein.) lässt sich zusammenfassend sagen: Das Fo-Theater in den Arbeiterbezirken Wien war eine eigenständige Ausdrucksform von Theater, doch nicht allein die internen Prozesse (Auflösung der Gruppe) und ihre äußere Erscheinung (das Auftreten als Verein, der politisches und dezentrales Theater in einer kulturellen Landschaft der 80er Jahre in Wien macht) waren Grund für ein Ende. Das Fo-Theater könnte überall entstehen und tat dies abgesehen von dessen Alternativangebot unabhängig von festen Theaterhäusern. Doch als wichtigster Punkt erscheint der letztgenannte, die Hinwendung zum Publikum. Nicht nur dass die beweglichen KomödiantInnen sich auf unterschiedlichstes einlassen und sich von diesem gefallen lassen mussten, war es auch das Publikum, welches das Ende des Fo-Theaters hervorrief: Denn "[...] dezentrale Kulturarbeit [war] ,out', Volkstheater nicht schick, passt nicht ins Beliebigkeitsidyll des postmodernen Lebensgefühls. Die Gesellschaft aber ist mehr denn je eine Klassengesellschaft geworden"(22), meint Didi Macher.
Da Fo-Theater in den Arbeiterbezirken Wien tingelte in der Peripherie, solange es von einem Publikum - das einst ein solches gar nicht war - gewollt war. Dieses Publikum gab es zunehmend nicht mehr, die Sommerweiden waren abgerast und nicht neu "bestellt" worden, die ArbeiterInnen sind selbst KonsumentInnen geworden, die zu zahlen begonnen haben.
© Gabriele C. Pfeiffer (Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Vgl. den Beitrag Nomadism as a metaphorical concept in understanding today's art / Nomadismus als ein metaphorisches Konzept die neue Kunst zu verstehen von Knut Ove Arntzen.
(2) William Shakespeare, Hamlet, Stuttgart 1986, S. 44.
(3) Siehe dazu die Beiträge jener SprecherInnen, welche sich auf Ausführungen von Deleuze und Guattari beziehen: z.B. Siren Leirvâg, A nomadic narrative - A dramaturgy of nomadism as construct, time-space and action.
(4) Hauptverbreitungsgürtel sind der Altweltliche Trockengürtel, Halbwüsten, Steppen, Savannen Nordafrikas, Vorder- und Zentralasiens. Man unterscheidet zwischen einem Flächennomadismus (Die wichtigsten Weidetiere sind Kamele und Schafe; bemerkenswert ist, dass die Hirten mit ihren Tieren zwischen Sommer und Winterweiden oft erhebliche Entfernungen zurücklegen.) und einem Bergnomadismus (An Tieren werden Schafe, Ziegen und Rinder gehalten und er wird den Gebirgen und Hochländern zugeordnet.).
(5) Fred Scholz, Nomadismus, Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise, mit 30 Abbildungen, 2 Beilagen und 41 Fotos, Stuttgart, Franz Steiner Verlag 1995, S. 20-21.
(6) Ein Kommentar, den Ulf Birbaumer während des Vortrags (der diesem schriftlichen Beitrag vorangegangen ist) am 10. November 2003 einwirft.
(7) "'GemeindeHOFtheater', was doppelsinnig auch meint, daß Hoftheaterallüren in diesem Unternehmen keinen Platz haben sollen." Ulf Birbaumer, "Dezentrale Kulturarbeit als Alternative: Das Wiener 'Fo-Theater in den Arbeiterbezirken'", in Maske und Kothurn, H. 1-2 / 33. Jg. / 1987, S. 201-209, hier 203.
(8) Ulf Birbaumer, "Dezentrale Kulturarbeit als Alternative: Das Wiener 'Fo-Theater in den Arbeiterbezirken'", in Maske und Kothurn, H. 1-2 / 33. Jg. / 1987, S. 201-209, hier 206. Birbaumer erwähnt namentlich Hans Trilety (gest. 1983) und Hildegarde Waissenberger.
(9) Ebenda S. 201.
(10) Ebenda S. 201.
(11) Kleinere Produktionen wurden vom Fo-Theater in den Arbeiterbezirke Wien auch in einem Haus erarbeitet und dann als Gastspiele auf verschiedenen Bühnen gezeigt, so z.B. Nur Kinder, Küche, Kirche von Franca Rame und Dario Fo, gespielt von einer einzigen Schauspielerin (Didi Macher).
(12) Ulf Birbaumer, "Dezentrale Kulturarbeit als Alternative: Das Wiener 'Fo-Theater in den Arbeiterbezirken'", in Maske und Kothurn, H. 1-2 / 33. Jg. / 1987, S. 201-209, hier 203.
(13) Die ausgewählten Fotos und das Programmheft wurden dankenswerterweise von Didi Macher zu Verfügung gestellt. Diese werden mit vielen anderen und unterschiedlichen Materialien (Programmhefte, Bühnenrelikte, Korrespondenz, ...) recherchiert und zu einem Archiv Fo-Theater in den Arbeiterbezirken Wien zusammengestellt. Dieses Forschungsprojekt wird durch ein Wissenschaftsstipendium der MA 7 - Kultur-, Wissenschafts- und Forschungsförderungen der Stadt Wien unterstützt.
(14) Didi Macher bei einem Vortrag zum Thema "Theater der Arbeitenden" im Rahmen der Seminar- und Vortragsreihe Studien zur Arbeiter/innenbewegung. Schwerpunkt: Theater der Arbeitenden im IWK in Wien am 3. Juni 2003.
(15) Die hier angeführten Aufführungsorte werden in einer in Arbeit befindlichen Datenbank Aufführungsorte der Autorin zusammengefasst.
(16) Didi Macher bei einem Vortrag zum Thema "Theater der Arbeitenden" im Rahmen der Seminar- und Vortragsreihe Studien zur Arbeiter/innenbewegung. Schwerpunkt: Theater der Arbeitenden im IWK in Wien am 3. Juni 2003.
(17) Erinnerungsprotokoll aus Gesprächen mit der Theaterprinzipalin Didi Macher.
(18) Sylvia Matras, "Hofschauspieler. Die Dario-Fo-Gruppe mit Jura Soyfer im Gemeindebau.", in DinersClub Magazin, Heft 4 / Oktober 1989, S. 224-228, hier 228.
(19) Ebenda S. 228.
(20) Didi Macher, "GemeindeHOFtheater-Komödianten zwischen Lorbeerbaum und Bettelstab", in Arlt, Herbert / Ludwig, Michael (Hrsg.), Literatur und Arbeiterbewegung, Frankfurt / Main u.a., Peter Lang 1992, (=Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Band 1354), S. 125-129, hier 125-126.
(21) Didi Macher zitiert Dario Fo bei einem Vortrag zum Thema "Theater der Arbeitenden" im Rahmen der Seminar- und Vortragsreihe Studien zur Arbeiter/innenbewegung. Schwerpunkt: Theater der Arbeitenden im IWK in Wien am 3. Juni 2003.
(22) Didi Macher, "GemeindeHOFtheater-Komödianten zwischen Lorbeerbaum und Bettelstab", in Arlt, Herbert / Ludwig, Michael (Hrsg.), Literatur und Arbeiterbewegung, Frankfurt / Main u.a., Peter Lang 1992, (=Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Band 1354), S. 125-129, hier 129.
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For quotation purposes:
Gabriele C. Pfeiffer (Wien): Von einem Gemeindehof zum anderen.
In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/02_4/pfeiffer15.htm