Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Mai 2004 | |
3.5. Wechselbeziehungen zwischen
der jüdischen, der slawischen und der deutschen Kultur Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Claudia
Erdheim (Wien)
[BIO]
Die "Gazeta Naddniestrzanska" kam in den 80er Jahren des 19. Jh. in Drohobycz heraus, einer größeren Provinzstadt, knapp 100 km südlich von Lemberg. Sie befasst sich aber nicht nur mit Drohobycz, sondern auch ausführlich mit dem 12 km entfernten Boryslaw, wo man im 19. Jh. auf enorme Erdölvorkommen stieß, weshalb es auch das "galizisches Pennsylvanien" genannt wurde. Boryslaw stand weltweit an dritter Stelle in der Erdölgewinnung. Bis etwa 1860 ein kleines ruthenisches Dorf, es wurde plötzlich von "Goldgräbern" überflutet, vorwiegend von Juden. So entstand eine Erdölindustrie, die einen enormen Pauperismus nach sich zog, einige wenige jedoch sehr reich machte. Die Reichen bauten ihre Häuser in Drohobycz, aber auch viele Tagelöhner pendelten zwischen Drohobycz und Boryslaw. Die Erdölmagnaten waren vorwiegend Juden, die Arbeiter waren Juden, Polen und Ukrainer.
Drohobycz hatte im Jahr 1886 rund 18.000 Einwohner und folgte in der Hierarchie der Städte unmittelbar Lemberg und Krakau (zum Vergleich: Lemberg hatte knapp über 100.000 Einwohner). Die Hälfte der Einwohner von Drohobycz waren Juden, der Rest Polen und Ruthenen, die sich anteilsmäßig etwa die Waage hielten. Etwas weniger als zwei Drittel der Juden gaben zu dieser Zeit Deutsch als Muttersprache an, etwas mehr als ein Drittel Polnisch(1). (Jiddisch durfte man nicht als Muttersprache angeben, es galt auch offiziell als Jargon).
Boryslaw hatte zur selben Zeit etwas über 9.000 Einwohner (1860 noch ungefähr 1.000), davon waren 80 % Juden und es gab fast doppelt so viele Ruthenen wie Polen. Alle Juden gaben damals Deutsch als Muttersprache an(2). Dass in dieser Region die Angabe Deutsch als Muttersprache überwiegt, ist eine Ausnahme. In den 1880er Jahren war bei den galizischen Juden bereits eine Tendenz, Polnisch als Muttersprache anzugeben, spürbar.
Die allgemeinen Verhältnisse in Boryslaw waren chaotisch, die Sicherheitsvorkehrungen völlig unzureichend. Es gab laufend schwerste Unfälle, es wurde gestohlen und betrogen, vertuscht und bestochen. Die hygienischen Zustände waren katastrophal, allerdings nicht nur in Boryslaw, sondern wohl in ganz Galizien. Den Mist lagerte man ab, wo es gerade passte, Bottiche gefüllt mit blutigem Wasser geschlachteter Tiere wurden in den Park geschüttet, faule Fische in den Kanal geworfen. In manchen Straßen türmte sich der Abfall, der Ringplatz in Drohobycz glich stellenweise einer Kloake. Der Abfall der Gerberei verstopfte den Fluss, die Notdurft wurde bisweilen hinter Mauern und Zäunen verrichtet, es stank in der ganzen Stadt.
Wie überall begann sich auch in Galizien in den 80er Jahren der Antisemitismus auszubreiten, jedoch gab es keine großen Pogrome wie beispielsweise in Russland. Gelegentlich gab es jedoch kleinere gewalttätige Zwischenfälle. Ein Beispiel: Einem Juden wurde gerichtlich eine Realität zugesprochen. Der Gegner drang am Versöhnungstag mit zwei Polizisten in das Haus ein. Der Jude erfuhr davon, eilte herbei, sah jedoch, dass nichts zu machen war und ging ins nächste Bethaus. Der Gegner und die Polizisten kamen hinterher und wollten in die Synagoge, in die sie nicht eingelassen wurden. Plötzlich kamen zwölf weitere Polizisten, stießen Fensterscheiben ein, misshandelten Männer und verletzten mit ihren Bajonetten sogar Frauen. Vier Polizisten wurden im Anschluss an den Vorfall des Dienstes enthoben und dem Untersuchungsrichter vorgeführt.
Als herrschende Schicht ließen die Polen nichts unversucht, um sowohl die Ruthenen als auch die Juden zu polonisieren. Die ruthenischen Bauern waren allerdings der Polonisierung nur schwer zugänglich, während sich in den Städten höhere jüdische Kreise durchaus an das Polentum assimilierten. Die breite Masse der Juden assimilierte sich aber nicht, sondern gab nur bei den Volkszählungen polnisch als Muttersprache an.
Sie erschien von 1884 bis 1889 zweimal wöchentlich, an jedem 1. und 15. des Monats. Die erste Nummer kam am 16. Februar 1884 heraus, eine einzelne Nummer kostete 15 Kreuzer. Ihr Herausgeber war Edmund Leon Solecki(3), ein Architekt, der sich jedoch mehr als Publizist und Literat hervortat und in den Jahren 1870 bis 1890 als wichtige Persönlichkeit des politischen und kulturellen Lebens Galiziens galt. In den Jahren 1878 bis 1883 publizierte er in der Lemberger Zeitung "Straznica", wo er dunkle Machenschaften der Boryslawer und Drohobyczer Erdölunternehmer aufdeckte. Es wurde ihm die Gründung einer illegalen sozialistischen Organisation unterstellt. Zur Redaktion der " Gazeta Naddniestrzanska" gehörten neben Solecki auch ein Arbeiter, elf Handwerker und zwei Bauern. Dies sollte offensichtlich die demokratische Tendenz der Zeitung demonstrieren, es ist aber anzunehmen ist, dass Solecki die Zeitung allein herausgegeben hat. Es schrieben durchaus angesehen Intellektuelle und Politiker für die "Gazeta". Im Jahre 1889 wurde Solecki von Denunzianten der Majestätsbeleidigung bezichtigt, und die Zeitung deshalb verboten.
Die " Gazeta Naddniestrzanska" ist zu gut zwei Drittel auf Polnisch und knapp einem Drittel auf Ruthenisch, also Ukrainisch geschrieben und zählt damit zu den wenigen zweisprachigen Zeitungen Galiziens. Sie lä sst Polen, Juden und Ruthenen zu Wort kommen und präsentiert sich - mit einem Hang zur Klatschgeschichte - von ihren Grundzügen her sozial-emanzipatorisch engagiert, ohne jedoch sozialdemokratisches Parteiorgan zu sein. Teilweise zeigt die Zeitung starken antisemitischen Einschlag, der vorwiegend gesellschaftlich motiviert erscheint - die Juden treten als die "bösen Kapitalisten" auf, die die Arbeiter ausbeuten. Die Zeitung selbst versteht sich dabei nicht als antisemitisch, sondern eben als sozialistisch-antikapitalistisch. Ihre Angriffe sind, wie sie betont, nicht gegen die Juden gerichtet, sondern gegen die Ausbeuter, sie entlarvt bloß die Missstände unabhängig von der Nationalität. Antisemitismusvorwürfe werden am Ende von Beiträgen über ausbeuterische oder betrügerische Juden mit der stehenden Wendung: "Ist diese Tatsache etwa Antisemitismus?" zurückgewiesen. Juden, die ihre jüdischen Arbeiter ausbeuten, werden ironisch als die schlimmsten Antisemiten bezeichnet. Prinzipiell ist man auf der Seite der aufgeklärten Juden und für ihre Assimilation an das Polentum.
Ein beträchtlicher Teil der polnischsprachigen Beiträge der Zeitung ist den Juden und ihren Angelegenheiten gewidmet. Diese Artikel lassen sich einteilen in antisemitische, nicht direkt antisemitische, neutrale, also nicht antisemitische, und solche, die antisemitische Tendenzen zurückweisen. Es finden sich aber auch Artikel über jüdische Angelegenheiten von jüdischen Autoren, über die Zusammenarbeit von Juden und Christen und solche, in denen die Juden gelobt werden. Es gibt auch eine Art Scherzgedichte über Polen, Juden und Ruthenen, deren Tendenz im Trend der Zeitung liegt, also alle Varianten enthält.
Ich beginne mit den antisemitischen Artikeln (wobei vorauszuschicken ist, dass vielleicht manches, was wir heute als antisemitisch empfinden, damals nicht so zu verstehen war. Die jüdischen Lebensformen und auch das Jiddische waren allgemein so vertraut, dass sie durchaus in zitierender oder ironischer Weise verwendet werden konnten, ohne vom Leser gleich als antisemitisch empfunden zu werden - was natürlich nicht heißt, dass es keine antisemitischen Tendenzen gab). Die Juden werden oft Talmudisten genannt, manchmal wird auch "zydek" verwendet. Natürlich gibt es die üblichen antisemitischen Ansch uldigungen wie Wucher, Betrug, Unterschlagung, Intrigen, illegaler Wodkahandel oder dass bei den Polen das Brot besser und billiger ist usw. Daneben gibt es aber auch verleumderische Fälle, wie zum Beispiel einen Bericht über Leizar Gartenberg, der zum russisch-orthodoxen Glauben übergetreten ist und nicht zum katholischen, obwohl er mit dem Pfarrer Terlecki befreundet ist. Es wird unterstellt, er sei nur übergetreten, damit er sich länger als 3 Tage in Russland aufhalten könne, da ausländischen Juden ein längerer Aufenthalt verboten sei. (Hier wird allerdings am Schluss des Artikels eingeräumt, dass dies nur ein Gerücht sei.) Ein anderer Beitrag von ähnlicher Tendenz moniert, dass es Zeit sei, den Beruf des Chirurgen in christliche Hände zu legen, da ein jüdischer Chirurg beim Zähneziehen den halben Kiefer mitgerissen habe und keine Blutegel anlegen konnte, ein weiterer, dass ein Jude ein 14-jähriges Mädchen in die Mikwe gelockt und dort vergewaltigt und misshandelt habe, was mir persönlich allerdings sehr unwahrscheinlich scheint. Man muß immer in Betracht ziehen, dass nicht alles stimmt, was in einer Zeitung steht.
Es gab einige wichtige jüdische Persönlichkeiten in Drohobycz, die auch in der "Gazeta Naddniestrzanska" eine wichtige Rolle spielen . Dazu zählen unter anderen der außerordentlich einflussreiche und mächtige Vizebürgermeister Hersch Goldhammer sowie der Erdölunternehmer Sender Schorr, aber auch Aron Zupnik, der Herausgeber der "Drohobyczer Zeitung", die auf Hochdeutsch mit hebräischen Lettern erschien. Chane Reis zum Beispiel, erregt sich die Zeitung, betreibe ein nicht legales Pfandhaus und schinde die Leute unbarmherzig. Man könne dagegen jedoch nichts unternehmen, weil sie eine Verwandte von Hersch Goldhammer sei. Betrüger, die Verwandte von Goldhammer sind, würden immer geschont. Der Bürgermeister habe einigen Juden verboten, ihre Waren für die Gojim am Trottoir aufzustellen und Straßenspiele zu machen. Goldhammer drohe ihm mit dem Verlust von Wählerstimmen, worauf der Bürgermeister das Verbot wieder aufgehoben habe. Goldhammer kontrolliere auch das Fleisch und erlaube, mit halb krepierten Tieren zu handeln. Für die Israeliten werde eine neue Kreditkassa gegründet, und zwar von der Clique, der u.a. auch Goldhammer angehöre, und die damit selbst an der Armut ihrer "israelitischen Brüder" schuld sei. Die Straßen würden am helllichten Tag ohne Wasser gekehrt, wenn die Kinder in die Schule gehen, was schlecht für die kleinen Lungen sei.
Da 80 % der Kinder jüdisch sind, beschwert sich Hersch Goldhammer beim Bürgermeister über diesen Antisemitismus. Der katholische Pfarrer predigt, dass man nicht bei Juden arbeiten soll. Die "Gazeta Naddniestrzanska" meint dazu, dass die "Aufgeklärten" zuerst damit aufhören müssten, denn solange der Sohn des Bezirkshauptmanns in der Fabrik von Hersch Goldhammer arbeitet, werde sich nichts ändern.
Die schlimmsten Antisemiten überhaupt sind jedoch nach Meinung der "Gazeta Naddniestrzanska" Sender Schorr und die jüdische Gemeinde. Sender Schorr habe in den letzten fünf Jahren hundert jüdische Firmen ruiniert und im jüdischen Spital herrschten schreckliche sanitäre Zustände.
Auch Aron Zupnik ist ein besonderer Feind der "Gazeta Naddniestrzanska". Fälschlicherweise behauptet die Zeitung, die Drohobyczer Zeitung sei im Jargon ge schrieben. Zupnik könne nur Jiddisch und ein paar auswendig gelernte Brocken Polnisch. Er habe zwar das zweifellos gute Buch von Wertheimer, "Jüdische Lehre und jüdisches Leben," ins Polnische übersetzt, das Ergebnis sei aber unter jeder Kritik. Er würde sogar Subventionen bekommen, aber nur deshalb, weil seine Zeitung regierungsfreundlich sei. Einmal habe er einen ruthenischen Anschlag mit 29 Fehlern gedruckt. Einem so ungebildeten Menschen müsse man die Konzession für die Druckerei entziehen, damit er die Drucker nicht kompromittiere. - Das ist nun nicht unbedingt antisemitisch zu verstehen. Die "Gazeta Naddniestrzanska" ist für die absolute Assimilierung der Juden. Jedoch ist Zupnik ihrer Meinung nach auch ein böser Kapitalist: Obwohl er sich für einen Verteidiger der Juden hält, holt er Setzer aus Lemberg und wirft sie nach zwei Wochen ohne Bezahlung wieder hinaus. Die armen Arbeiter haben natürlich kein Geld, um zu prozessieren. Hier z. B. schließt einer der Artikel über Zupnik mit der Wendung: "Sind sol che Tatsachen Antisemitismus?" Es gibt auch ein Scherzgedicht, das offensichtlich auf Zupnik abzielt, halb polnisch, halb jiddisch. Das Polnisch ist absichtlich falsch, aber das Jiddisch ist auch nicht richtig. Letzteres allerdings sicher aus Unwissenheit, also unabsichtlich. Es geht in dem Gedicht um Subventionen für die "Drohobyczer Zeitung", die sich schließlich zwei Juden unter den Nagel reißen wollen. Das falsche Polnisch und Jiddisch ist dabei nicht unbedingt antisemitisch zu deuten, wohl aber die unterstellten betrügerischen Absichten der Juden.
Ausführlich beschäftigt sich die Zeitung mit den Zuständen in Boryslaw. Dabei wird den Juden vorgeworfen, sich hier den Boden und die Schächte angeeignet, die Einheimischen vertrieben und den dummen "Goj" mit irgendeinem "Glitzerding", einem Pelzmantel oder einer Rolle Tabak abgespeist zu haben. Die Juden hätten fast das ganze Terrain in Besitz genommen. Prinzipiell stimmt das, aber die Juden waren nun einmal vifer als die schwerfälligen ruthenischen Bauern.
Angeblich werden die Arbeiter von den Juden geschlagen, bestehe der Boryslawer Handel aus Betrügereien, und müssten bei Unfällen die Arbeiter das geborgte Geld abarbeiten. Beispielsweise habe sich ein Grubenarbeiter das Bein gebrochen und sich für das Spital von seinem jüdischen Arbeitgeber, der an dem Unfall schuld war, 20 pfl. ausborgen müssen. Dafür habe er zwei Jahre lang an zwei Tagen in der Woche umsonst arbeiten müssen. Das wären 624 % Zinsen.
Sehr viel Platz wird den mafiosen Verhältnissen in Boryslaw eingeräumt. Es seien jüdische Diebsbanden am Werk, die auch auf Befehl mordeten, eine Art Lumpenproletariat, Erpresser und falsche Zeugen. So wie alle Juden hielten auch sie zusammen und seien im Verein "chewra grande" organisiert, wie die "Gazeta Naddniestrzanska" diese Solidarität ironisch analogisierend bezeichnet.(4) Das ist die "Diebsbruderschaft", also sozusagen ein Unterstützungsverein für Diebe. Wollte man in Boryslaw Besitz erwerben, müsste man zuerst mit einigen Chefs der "chewra grande" in Kontakt kommen. - Natürlich hat es in Boryslaw mafiose Verhältnisse gegeben, die vielfach in jüdischen Händen waren, jedoch ist die Darstellungsweise dieser Artikel tendenziell antisemitisch.
Wohl nicht direkt antisemitisch sind die Beschwerden über das Geschrei der Chassidim bis spät in die Nacht und über den Lärm bei Hochzeiten, was verboten werden sollte. Auch erregt man sich darüber, dass die Juden, die aus der Synagoge kommen, sich unter die Mauern und Zäune setzt, und dass das, was danach zurückbleibe, unerträglich stinke. Allerdings war das sicherlich nicht ein speziell jüdisches Verhalten, sondern Folge der allgemeinen hygienischen Missstände. Beschwerde gibt es auch darüber, daß die Gerberfabrik eines Juden den Fluss mit Abfall vergiften und die Felle auf die Zäune hängen würde, was schrecklich stinke. Man könne dagegen jedoch nichts unternehmen, weil der Besitzer ein Verwandter von Hersch Goldhammer sei. Auch wird behauptet, daß Sender Schorr und Hersch Goldhammer Unrat aus den Klosetten auf die Straße gegenüber der Kirche schütten. "Gelten die Gesetze nicht für Antikatholiken?", fragt sich die "Gazeta Naddniestrzanska".
Nicht antisemitisch ist wohl die Empörung der "Gazeta" über einen Holzhändler, bei dem Bretter auf spielende Kinder gefallen waren und der den Vorfall damit abtat, dass es sich lediglich um gojische Kinder gehandelt hätte. Man hofft, dass die Verwaltung etwas unternimmt, weil der Besitzer weder ein Verwandter von Goldhammer noch von Schorr ist. Nun wird der Spieß umgedreht und aus den Juden werden Antikatholiken, gegen die man etwas unternehmen müsse. Eine andere Geschichte, die sicher wahr ist und über die sich die Zeitung sehr erregt, ist die eines gewissen Hersch, der seiner Frau den Scheidebrief ans Gewand hängt, sich davon macht und sie bettelarm mit vier Kindern zurücklässt. Solche Geschichten sind durchaus vorgekommen.
Ein Fall, in dem sich die Zeitung nicht als antisemitisch, sondern als sozialistisch eingestellt präsentiert, ist der des Pfarrers Terlecki, der jenen Leuten, die bei Juden arbeiten, zu Ostern nicht die Absolution erteilt. Die Zeitung kommentiert das dahingehend, dass im Land eben eine so schreckliche Armut herrschen würde, dass man jede Arbeit annehmen müsse, wenn man nicht zugrunde gehen wolle. Es wäre gut, wenn es eine ehrliche und nicht erniedrigende Arbeit wäre. Das Verhalten von Terlecki trage dazu bei, daß die "klika koszerno-jezuicka"(5) hier reich wäre, aber das Volk arm.
Nun gibt es aber durchaus auch Lob für Juden. Zum Beispiel in jenem Fall, in dem ein Jude für seine Dienstmagd die Beerdigung bezahlte und einen Grabstein aufstellen ließ, weil kein Geld da war. Die Zeitung will mit diesem Beispiel zeigen, dass der Fanatismus der Orthodoxen langsam verschwindet und dass edle Israeliten langjährige Arbeit, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, zu schätzen wissen. Ebenso wird vor dem Hintergrund des Heranwachsens einer angeblich ungläubigen jüdischen Jugend der Vortrag eines Hebräischlehrers über einige israelitische Feiertage gelobt. Gelobt wird auch der Bau einer Schule, den Juden finanziell unterstützt haben. Aber auch das Erscheinen einer Biographie über Mauricy Gottlieb(6) erhält in hohem Maße den Beifall der "Gazeta", Gottliebs Talent wird gerühmt. Eine richtige Sensation ist die Spende von 100 000 fl. durch Moses Gartenberg für den Bau und die Erhaltung eines Altersheims. Es wird ihm großer Dank gezollt, besonders aber auch seiner Frau, die als Initiatorin dieser Handlung gilt. Das ganze Leben dieser Frau beweise, so die Zeitung, dass sie ein Engel sei. Weiters hat Alexander Schorr ein Komitee zur Errichtung einer Volksküche(7) gegründet, und ein jüdischer Advokat mit dem Bürgermeister einen musikalischen Wohltätigkeitsabend für arme Studenten organisiert.
Die " Gazeta Naddniestrzanska" schlie ßt sich den aufgeklärten Juden in ihrer Meinung an, man müsse an den öffentlichen Schulen den jüdischen Religionsunterricht fördern und unterstützen, weil man nur so den Einfluss der Chedertalmudisten eindämmen könne.
Der gegen die Zeitung in einigen Leserbriefen erhobene Vorwurf des Antisemitismus wird in einem langen Artikel zurückgewiesen: Da in Galizien ungefähr 600Juden leben, sei die jüdische Frage hier von großer Bedeutung. Obwohl jedoch die Juden schon 500 Jahre hier leben, seien sie nicht in die polnische Gesellschaft integriert. Mit Religion, Sprache und Sitten blieben sie Fremde. Der jüdische Charakter sei durch das unmenschliche Leben in Mitteleuropa entstanden, doch: sie wurden zwar so, aber sie bleiben auch so. Die "Gazeta Naddniestrzanska" glaubt nicht daran, dass sie Polen mosaischer Religion werden können. Man hofft aber, dass der Klassenkampf jetzt das Proletariat von den Reichen unter den Juden trennt und sich das jüdische Proletariat mit den anderen Armen vereinigt.
Es gibt einen langen Brief aus Lan, dem jüdischen Ghetto, offensichtlich von einem Juden verfasst. Es ist eine lange Klage über die hygienischen Missstände und die Tatsache, dass die Behörden nichts dagegen unternehmen. Zum Beispiel habe der Bürgermeister befohlen, verdorbene Fische in den Kanal zu werfen. Als der Aufseher kam, habe ihm der Fischverkäufer aber ein Zeichen gegeben und die Fische wurden nicht weggeworfen, sondern in der Erde vergraben, dann wieder ausgegraben und an die Gojim als trefer weiter verkauft. Wenn das so weiter gehe, so der Autor, werde bald die Cholera ausbrechen.
Neben solchen Klagen gibt es zahlreiche ausführliche Berichte jüdischer Autoren über ihre Vereine. So finden sich in der "Gazeta" beispielsweise zwei lange Artikel über den Lese- und Geselligkeitsverein, einen Fortschrittsverein. Der Erdölunternehmer Bernhard Gartenberg will Polnisch als Vereinssprache einführen und nicht Deutsch, weil die Deutschen Antisemiten seien. Nur so könne es zu einer Assimilation kommen. Der Polenhass führe nur zu Antisemitismus. Die "Gazeta Naddniestrzanska" teilt diese Meinung, man müsse den Juden jedoch Zeit lassen, weil noch zu wenige Polnisch könnten, um die Wohltaten des Vereins annehmen zu können.
Ebenso wird in drei langen Artikeln sehr ausführlich über den Verein Ojczyznia, ebenfalls einen Fortschrittsverein, und dessen Programm berichtet. Die Argumente gegen den Verein werden ausführlich erörtert, wobei der Autor weit in die Geschichte zurückgeht. Er ist dagegen, sich als "Pole mosaischen Glaubens" zu fühlen, da aber die Taufe auch unmöglich ist, gibt es seiner Meinung nach nur die Emigration, die organisiert werden müsse.
Es werden aber auch einfache Tatsachen berichtet, wie zum Beispiel, dass die Mikwe in Lan eingestürzt ist oder daß die Juden massenhaft aus Boryslaw auswandern und ihre Familien in schrecklicher Armut zurücklassen, weil das Geld für die Reise nicht reicht. Ebenso, dass Mendel Maurer von der chewra kadischa nicht ohne Bezahlung begraben wurde, weil er seiner Familie 30 000 fl. hinterlassen, der chewra kadischa aber nichts vermacht hat. Es wird Beschwerde darüber geführt, dass es in Drohobycz schon acht Jahre lang keinen Rabbiner mehr gibt, dass das jüdische Krankenhaus nur nominell existiere, die Mikwe praktisch nicht funktioniere und die Gemeinde für alles Geld nehme. Man fragt sich, wo die Einnahmen vom koscheren Schlachthof sind(8). Man ist dankbar, daß schließlich alles vom Bezirkshauptmann überprüft wird. In einem späteren Artikel wird ausführlich die Krakauer "Jüdische Volkszeitung" zu diesem Skandal zitiert. Am Schluss des Artikels schreibt die "Gazeta Naddniestrzanska": "Gehässige Leute bezichtigen uns des Antisemitismus, aber wir sind Demokraten und Kämpfer für die Wahrheit".
Im ruthenischsprachigen Teil werden vorwiegend ruthenische Angelegenheiten behandelt. Der Herausgeber Solecki h egte offensichtlich pro-ruthenische Sympathien, übersetzte T. G. Sevèenko ins Polnische und kritisierte die Zwangspolonisierung Galiziens. Diese Position wurde von Ivan Franko sehr hoch geschätzt, was Solecki mit dem Gedicht "Do Ivana Franka we Lwowie" quittierte. Solecki und Franko kannten sich auch persönlich. In den Jahren 1882-1883 hatte Franko unter den Arbeitern von Boryslaw und Drohobycz einen kleinen Zirkel für die Verbreitung sozialistischer Literatur organisiert. Mit diesem Zirkel war Solecki eng verbunden, obwohl er sich offiziell von der sozialistischen Propaganda abgegrenzt hatte(9).
Die "Gazeta Naddniestrzanska" publizierte als erste Erzählungen aus dem Boryslaw-Zyklus von Stefan Kowaliw. Auf Initiative der Zeitung wurden in den Jahren 1886- 1887 auch Sevcenko-Abende veranstaltet, um den Ruthenen d as Gefühl für den Wert ihrer eigenen Sprache zu vermitteln und einen gewissen Patriotismus hervorzurufen.
Die meisten ruthenischsprachigen Artikel kommen aus den benachbarten Dörfern. Es wird viel über die Armut und Trunksucht geklagt. Ausführlich wird die mangelnde Bildung der Ruthenen beklagt. Die wenigsten Ruthenen könnten lesen und schreiben, es gebe zu wenige Schulen, die Lehrer seien schlecht, man lerne nur lesen und schreiben, sonst aber nichts, die meisten Kinder gingen überhaupt nicht zur Schule, auch seien die ruthenischen Bauern faul. Aber wenn man lesen und schreiben könne, käme man besser durchs Leben. Die Juden dagegen würden ihr ganzes Leben lang studieren und lernen, wie man Geschäfte macht. Auf dem Gericht und im Gemeinderat seien überall Juden. Aber die Juden seien nichts Besseres als die Bauern. Es gebe eine neue Direktive, der zufolge an den Mittelschulen Schulgeld zu bezahlen sei. Fleißige und arme Schüler sollten zwar davon befreit werden, aber das würden, so der Autor des Beitrags, wieder nur die Juden bekommen, die wüssten immer, wie man so etwas nachweisen kann, sie setzten sich überall durch. Und so würden die Ruthenen wohl ungebildet bleiben und für alle Zeiten auf die Juden angewiesen sein. Die Naivität der armen Bauern würde es den Juden ermöglichen, das Volk auf Schritt und Tritt auszunehmen und in immer tiefere Armut zu stürzen. Sogar der Ortsvorsteher stecke mit dem jüdischen Pächter unter einer Decke und vergäße darüber sein Christentum. Er habe ihn veranlasst, an die Leute Wodka auszuschenken und sie dann beschwatzt, damit sie ihn noch einmal wählen. Überhaupt sei es eine Schande, dass an den christlichen Feiertagen in der Schenke Wodka verkauft werde. Die jüdischen Schankwirte seien eben am Alkoholismus der Bauern schuld.
Andere antisemitische Bemerkungen bestehen beispielsweise in der Warnung davor, das Geld auf dem Markt mit einer Schnur um den Hals zu tragen, weil es Juden gebe, die stehlen. Überhaupt würden sich die Juden wie die Insekten vermehren und man solle nicht auf sie hören, keine Juden wählen, sondern Ruthenen, und nicht in die Schenke gehen.
Aber nicht nur die Juden hätten es besser, auch die Bewohner der Schwabendörfer: dort gäbe es Reichtum und sogar Seife hätten sie zu Hause!
Auf Polnisch gibt es überhaupt keine längeren Artikel über Ruthenen, nur vereinzelte Bemerkungen, beispielsweise über ein russisches Theater in Drohobycz, das zwar gut, aber polenfeindlich gewesen sei, oder über die Eröffnung einer neuen russischen Volksbibliothek in der Vorstadt, bei der der polnische Bürgermeister eine Rede gehalten habe.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die einzelnen Völker bedingt durch die unterschiedliche Religion und Sprache, aber auch - zumindest teilweise - durch eine gegenseitige Abneigung jeweils ihr eigenes Leben führten. Interaktionen fanden bei der Arbeit, im Bereich der Verwaltung, am Markttag oder in der Schenke statt, nicht aber im privaten Leben. So gab es durchaus Bündnisse zwischen Polen und Juden auf politischer und sicher auch auf mafioser Ebene, während sich Interaktionen mit ruthenischen Bauern, deren vorherrschendes Gefühl den anderen Völkern gegenüber Neid war, vorwiegend auf das Alltagsleben beschränkten. Trotz aller Gegensätzlichkeiten ist die "Gazeta Naddniestrzanska" der Versuch einer gemeinsamen Zeitung für alle Volksgruppen, sie bietet Informationen für alle über alle.
© Claudia Erdheim (Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Orts-Repetitorium des Königreiches Galizien und Lodomerien, 1886
(2) Orts-Repetitorium des Königreiches Galizien und Lodomerien, 1886
(3) Die Informationen über Solecki entnehme ich: Jaroslaw Hrytsak, Zabytij polskij perekladac T. G. Sevcenka - E. L. Solezkij, Materialy zasidan' Istroi cnoji ta Archeogrficnoj, Komisij NTS v Ukrajiny (Vypusk Druhyi 1995 - 1997), Lviv 1995
(4) Das jüdische Leben war vielfach durch Vereine organisiert, vorwiegend Unterstützungs- und Wohltätigkeitsvereine. Chewra heißt Bruderschaft.
(5) Gemeint sind damit sowohl die jüdischen als auch die nicht jüdischen Kapitalisten.
(6) Gottlieb (1856-1879) war ein jung verstorbener Maler aus Drohobycz, Schüler Matejkos.
(7) Die jüdische Volksküche in Drohobycz war extrem billig, war aber nur in den Wintermonaten offen; es konnten auch Nichtjuden hingehen.
(8) Koscheres Fleisch war sehr teuer, weil beim Verkauf eine Abgabe an die Gemeinde entrichtet werden musste.
(9) Hrytsak, S. 115
3.5. Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen, der slawischen und der deutschen Kultur
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