Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

3.5. Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen, der slawischen und der deutschen Kultur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Maria Klanska (Kraków)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Zur neueren jüdischen Literatur aus Helvetien: Im Zeichen der Shoah

Barbara Rowinska-Januszewska (Adam-Mickiewicz-Universität zu Poznan)
[BIO]

 

1. Einleitende Bemerkungen

In die Literaturgeschichte der Schweiz, wenn man an die Autoren jüdischer Herkunft denkt, ist vor allem der Name Kurt Guggenheims, eines produktiven Zürcher Schriftstellers eingegangen. Für seinen monumentalen, vierbändigen Romanzyklus Alles in Allem (1952-1955) bekam er den Preis seiner Heimatstadt. Zu den talentierten jüdischen Autoren im vergangenen Jahrhundert gehören in Helvetien auch Albert Cohen und zwei Vertreter polnischer Provenienz: Lajzer Ajchenrand und André Kaminski. Diese Auflistung soll ergänzt werden um die Repräsentanten jüngerer Generationen, die während, respektive nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, wie Daniel Ganzfried, Luc Bondy oder Charles Lewinsky. Eben dieser jüngeren Gruppe von Schriftstellern, ihren seit Mitte der 80er Jahren publizierten Werken, ist die von Rafaël Newman vor zwei Jahren herausgegebene Anthologie Zweifache Eigenheit. Neuere jüdische Literatur in der Schweiz(1) gewidmet. Mit den Auszügen aus verschiedenen Romanen, Gedicht- und Erzählbänden, Drehbüchern und Kurzgeschichtensammlungen von achtzehn Autoren gewährt sie den Einblick in die neuesten Entwicklungstendenzen Schweizer Schrifttums jüdischer Provenienz und wird in diesem Beitrag - von wenigen Ausnahmen abgesehen - als Primärliteratur behandelt.

Im Gegensatz zu der amerikanisch-jüdischen Literatur, die in den USA in den letzten Jahren von großer Bedeutung war(2), spielt das gegenwärtige jüdische Schrifttum weder in Deutschland noch in Österreich eine relevante Rolle. Dasselbe lässt sich auch von der helvetisch-jüdischen Literatur behaupten, die auf dem Büchermarkt - mit Ausnahme des Longsellers von Wilkomirski(3) - nur marginal präsent ist. Die letzte Tatsache ergibt sich wohl aus der prozentual niedrigen Vertretung der Juden in der Schweiz, laut den Angaben aus den neunziger Jahren geht es um 20 000 Menschen.(4)

Bei der Untersuchung der jüdisch-schweizerischen Literatur stößt man auf terminologische Schwierigkeiten. Weder sprachliche noch konfessionelle Zugehörigkeit, die in Bezug auf Deutschland oder Österreich als Kriterien angenommen werden könnten, sind im multisprachlichen und kulturell vielfältigen Helvetien für jegliche Kategorisierung entscheidend. Die von Newman vorgelegte Anthologie versammelt Texte von zahlreichen Autoren, die sich verschiedener Sprachen im Alltag und beim Schreiben bedienen, nicht nur der deutschen und französischen, sondern - wie es beispielsweise im Falle von Stina Werenfels oder Roche Choron ist - auch der englischen. Differenzierte religiöse Ansichten und Erfahrungen, respektive konfessionslose Weltanschauungen prädestinieren diese Schriftsteller nicht dazu, als eine einheitliche Gruppe betrachtet zu werden. Ihre Werke bieten ein buntes Mosaik von Themen und in formaler Hinsicht lässt sich ebenfalls keine Homogenität feststellen. Die wenigen gemeinsamen Elemente, die alle Autoren verbinden und die Newman wohl als Kriterien bei der Auswahl von Texten gedient haben, sind ihre jüdische Abstammung und Identifikation mit der Schweiz als (zweiter) Heimat.

Die besondere Situation der Schweizer Juden ist die Folge von historischen Prozessen(5): Wegen ihrer Vertreibung aus dem Alpenland brauchten sich die Eidgenossen über dreihundert Jahre lang mit der "Judenfrage" und dem Antisemitismus nicht auseinanderzusetzen. Jüdische Präsenz in Helvetien - im Gegensatz zu Deutschland oder Osteuropa - war seit dem 19. Jahrhundert von bescheidenem Ausmaß und diese Tatsache - wie oben erwähnt - hat sich bis heute nicht verändert. Jüdisch-schweizerische Beziehungen sind durch die Naziherrschaft und Massenvernichtungen nicht so belastet, wie die deutsch-jüdischen. Ähnlich wie anderen Schweizern wurden den helvetischen Juden die traumatischen Erlebnisse der Shoah und des letzten Weltkrieges erspart, weswegen ihre Stimme in den Nachkriegsdebatten nicht als gleichwertig wahrgenommen wurde. Die Situation der in Helvetien lebenden Juden war während der Kriegszeit ungünstiger als die der Nur-Schweizer, jüdische Einwanderer und Emigranten stießen auf Schwierigkeiten mit der Erwerbstätigkeit, exilliierten Autoren wurde auf helvetischem Boden in den meisten Fällen eine Arbeitsbewilligung verweigert(6), trotzdem waren ihre Probleme mit denen der Holocaust-Opfer nicht zu vergleichen. Hermann Levin Goldschmidt sah Mitte der 50er Jahre in der speziellen Situation der helvetischen Juden, die den Holocaust nicht erleben mussten, ihre Sendung, "'das unersetzliche Erbgut Europas und des jüdischen Abendlandes' weiterzuvermitteln".(7) Nach Newman dagegen führt "ihre 'zweifache Eigenheit'"(8)zu einer Art doppelten Marginalisierung, denn neben der diffizilen Vergangenheit eigener Ethnie in Europa bleiben typisch schweizerische Bedingtheiten, wie Regionalismus und Mehrsprachigkeit ihre ständigen Herausforderungen.(9)

Die Umwälzungen seit 1989 in Europa sowie die Debatten um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, daher auch der in der Schweiz lebenden Juden, generierten neue Fragen und Bedenken. Wie die von Newman präsentierten Texte belegen, wussten die jüdisch-schweizerischen Autoren von diesen Wandlungen und Auseinandersetzungen, wie auch von ihrer spezifischen Situation in der Heimat Schweiz in der schriftstellerischen Arbeit zu profitieren. Das Spektrum der Themen reicht von dem Bild der Alltäglichkeit in der heutigen Schweiz, über Liebes- und Familiengeschichten, Reminiszenzen aus der Kindheit, Schilderungen der jüdischen Sitten und Tradition, aktuelle politische Geschehen bis zu Erinnerungen - ob echten oder fiktiven - an die schwierigste Zeit der Naziherrschaft.

 

2. Schwierige Vergangenheit

Die Motive des Krieges und des Holocaust dominieren die gegenwärtige jüdische Literatur aus Helvetien. Die Naziepoche wird in verschiedenen Varianten dargestellt, von ihren Ansätzen, über die Kriegszeit bis zu den Folgen der Shoah, die selbst heute zu spüren sind. Yvonne Leger knüpft an das Schicksal der zurückgeschickten Juden und schildert in ihrem Roman Eljascha(10) die Geschichte einer schweizerischen Jüdin, die im Herbst 1939 einen jüdischen Flüchtling aus Deutschland heiratet. Ihre Liebe und Freude wegen der Eheschließung mit dem geliebten Menschen wird mit der Angst um den Schweizer Pass konfrontiert. Mit dem Heiraten eines Ausländers verlor sie automatisch ihre schweizerische Bürgerschaft, die ihr das Gefühl der Sicherheit gab. Leger beschreibt die Angstgefühle der Protagonistin, als der nichts ahnende französische Beamte den Mädchennamen in ihrem Pass durchgestrichen und den neuen eingetragen hat. Sie tröstete sich mit dem Gedanken an ihren Vater und versuchte die Bedeutung des Geschehenen zu bagatellisieren. Ihr neu vermählter Mann Joschi schien ihre Aufregung und Sorge wegen des Verlustes des Schweizer Passes nicht zu begreifen. Als einem Juristen war ihm wichtiger, dass sie sich nicht strafbar macht.

Wie aber die späteren Ereignisse zeigen, hat sich der Verlust der Schweizer Bürgerschaft auf das Leben der Protagonistin Eljascha Rosenthal auf eine negative Art ausgewirkt. Sie hat Angst, dass sie in Annemasse die schweizerische Grenze nicht übertreten darf und entschließt sich spontan, sie mit anderen jüdischen Flüchtlingen illegal zu überqueren. Die Angst wird zum dominierenden Gefühl, sie vergleicht ihre jetzigen Emotionen mit den bisherigen und fragt sich: "Ist nun das [...] das Ende meiner Angst?"(S. 52), sie betet und hat nur einen Wunsch: "heil in die Schweiz [zu] kommen" (S. 55). Die schweizerische Grenze markiert ihre Überlebenschancen, der helvetische Boden kommt ihr wie das Gelobte Land vor und bietet ihr den einzig sicheren Ort, wo sie ohne Angst weiter leben kann.

Das Motiv des Schweizer Passes, der in der Kriegszeit beinahe magische, lebensrettende Rolle spielte, wird auch im Roman Le Feu au lac von Jean-Luc Benoziglio(11) aufgegriffen. Der Protagonist erinnert sich in einem langen Monolog an eine Episode, in der seine Verwandten von den französischen "Greifpolizisten" festgenommen wurden. Der Schweizer Pass rettete ihn im letzten Augenblick vom gleichen Schicksal. Ähnlich wie viele Überlebende hat er Schuldgefühle seiner Familie gegenüber und klagt sich an, weil er sie verlassen hat und dank seinem makellosen schweizerischen Akzent dem Unglück entkommen ist.

Auch in der Geschichte von Gabriele Markus Zugvögel, wir. Eine Kindheit (S. 89-104), die aus der Perspektive des Kindes einer jüdischen Flüchtlingsfamilie aus Deutschland erzählt wird, kommt dem Schweizer Pass eine besondere Funktion zu: "Heute sind wir noch staatenlos, aber eines Tages werden wir Schweizer sein, mit einem richtigen Pass, und dann ist alles in Ordnung" (S. 104).

Die politische Stellung der Schweizer Regierung, ihr Opportunismus und "freundlicher" Umgang mit den Vertretern des Nazi-Regimes, beschränkte Hilfe für jüdische Flüchtlinge, die Politik nach dem Motto "Das Boot ist voll", die von mehreren Schweizer Schriftstellern seit Jahrzehnten kritisiert wird(12), werden in Benziglios Roman Le Feu au Lac (1998) thematisiert. Der Protagonist ist enttäuscht, dass die idealistischen Prinzipien in der Zeit der großen Probe nicht verwirklicht wurden.(13) Wie unzählige andere Menschen vermag er nicht zu begreifen, dass die Epoche des "Reichsobergestörten", der seinen "Irrsinn à la Caligula" (S. 35) trieb, zehn Jahre lang dauern konnte. Nach Miriam Cahn(14) stellte der Bürgerkrieg in Spanien den "probelauf das faschistischen denkens [...] und militärischen handelns" (S. 164) dar, bei dem das nicht-faschistische Europa völlig versagte und indirekt Hitlers Aufstieg ermöglichte.

Die von den beiden faschistischen Diktaturen umklammerte Schweiz, die einer Insel glich, erschien den jüdischen Flüchtlingen als das Gelobte Land, auch wenn sie dort im Zustand der permanenten Angst vor dem deutschen Angriff lebten und mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert wurden. Das glückliche Ehepaar aus der erwähnten Geschichte Zugvögel, wir konnte bei der Flucht aus Deutschland nichts mitnehmen, deswegen leidet es unter materiellen Schwierigkeiten, der Arzt hat kein Auto. Im kleinen Dorf bei Bern, wo sich die Neuankömmlinge angesiedelt haben, wecken sie als Fremde das Interesse von neugierigen Nachbarn: "Wir sind Theater und Kino fürs Dorf" (S. 102), konstatiert bitter die Frau des Doktors. Bald wird die jüdische Familie zum Lieblingsthema der Gespräche, eine der Nachbarinnen Pola missbraucht ihr Vertrauen und verbreitet Lügen und antisemitische Vorurteile, weil - wie die Mutter der Tochter erklärt - sie "noch nicht recht hierhergehören" (S. 96). Die Schwierigkeiten im sozialen Umfeld werden vergrößert durch die Unfähigkeit, sich schnell den Berner Akzent anzueignen, mit dem ihre Tochter keine Probleme hat. Aber auch das Kind erlebt seine eigenen Anpassungsschwierigkeiten. Es findet zwar schnell einen neuen Freund Karli, seine Eltern sind jedoch der Meinung, dass er "jetzt einen anderen Umgang"(S. 95) braucht und verbieten ihm Kontakte mit dem kleinen Mädchen. Die neue kulturell-religiöse Umgebung stellt sich als die größte Herausforderung für das Kind, das laut dem Wunsch der Eltern beide Kulturen, die jüdische und die christliche, kennenlernen soll. Das desorientierte Kind schwankt zwischen entgegensätzten religiösen Weltanschauungen und reagiert mit Alpträumen auf die Erzählungen über die Hölle und den Teufel. Christliche Feste sowie hebräische Sitten sind ihm ebenso fremd, verwundern und verwirren es, so dass es nicht mehr weiß, "wo ich hingehöre, in meine Schule, wo man auch Weihnachten feiert, oder hierher zu den Kindern in der Synagoge" (S. 100).

Ebenfalls in der Geschichte Schweizer Aufenthalt von Rose Choron werden die ersten Jahre einer litauisch-jüdischen Flüchtlingsfamilie aus Deutschland thematisiert. Zunächst empfanden sie die Helvetier als "kalt und unnahbar, wie ihre eisbedeckten Bergspitzen" (S. 25). Die Kinder, die in Berlin ihren preußischen Kameraden zuliebe frech und arrogant wurden, konnten neue Freunde in Lausanne erst dann finden, als sie auf diese "deutschen Allüren" (ebd.) verzichteten. Sie haben sich schnell eingelebt und die Schweiz wurde zu ihrer "neuerworbenen Heimat" (ebd.): "Wir sangen ihre Nationalhymne, jodelten, aßen Fondue und Spätzli, sprachen französisch mit einem 'accent vaudois' und betrachteten uns als Bundesbrüder von Wilhelm Tell" (ebd.). Die Mutter der Ich-Erzählerin schloss ebenfalls schnell neue Bekanntschaften und fühlte sich in der Schweiz "daheim" (S. 25). In der Privatschule fand das Mädchen viele Freundinnen, fühlte sich "geborgen" (S. 26), bewunderte die "Madame", die die Schule leitete und sich mit der Familie der Erzählerin befreundete. Die glücklichen Passagen über die sorgenlose Kindheit bekommen durch die Erwähnung der jüdischen Flüchtlinge eine dunkle Note. Schweizer Juden versuchten den illegalen Emigranten zu helfen, sie boten ihnen Verpflegung und Unterkunft an, bemühten sich, ihnen falsche Pässe und Visen zu verschaffen, bestachen die Polizisten.

Die bedeutendste Erfahrung für die Selbstauffassung des Judentums im 20. Jahrhundert stellen die Shoah und die durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Leiden dar.(15) Die helvetischen Juden haben die Gräueltaten der Nazis nur indirekt erlebt, trotzdem hat sie das tragische Schicksal ihrer Ethnie aufs Tiefste berührt. Der Holocaust ist eines der wichtigsten, immer rekurrierenden Motive auch in der heutigen jüdischen Literatur aus der Schweiz. In den meisten von Newman herausgegebenen Texten wird das Wort "Auschwitz" in verschiedenen Kontexten verwendet. Um die Konzentrationslagerliteratur der Holocaust-Opfer von den Texten jüngerer Autoren zu unterscheiden, die die "konzentrationären" Judenverfolgungen in der Kriegszeit nicht erlebt haben, schägt Thomas Nolden den Begriff des "konzentrischen" Schreibens vor, denn durch eine "konzentrische" Bewegung können sich jüngere Schriftsteller an die Erfahrungen der Vorfahren nähern.(16)

Einen solchen Versuch unternimmt Roman Buxbaum in seinem erschütternden Text Träume (S. 65-75) aus dem Jahre 1999, in dem er eine Art Traumchronik präsentiert, die den Zeitraum von drei Jahren umfasst. Zum Auslöser einer Reihe von beschriebenen Erlebnissen wurde wahrscheinlich der Besuch in Polen (Lublin) vor dem 9. September 1995. Die Notizen werden zeitlich genau bestimmt und in verschiedenen Orten der Erde aufgezeichnet, in Polen, Phuket und Sri Lanka, als ob die Träume den Ich-Erzähler überall verfolgt hätten. Die Überschriften "Traum" kontrastieren mit dem sachlichen, klaren, emotions- und kommentarlosen Stil des Tatsacheberichts, in dem sie verfasst werden. Kontrapunktische Zusammenstellung der Trauminhalte mit dem realistischen Stil, sowie die Verschiebung der Erzählperspektive in den Traum erlauben dem Ich-Erzähler die nötige Distanz und Selbstschutz. In den Träumen erlebt er verschiedene Rollen von Opfern und Tätern aus dem Zweiten Weltkrieg, durchspielt differenzierte Varianten von Personen, deren Alter, Nationalität, Überzeugungen, Beruf, schildert Situationen aus mehreren zeitlichen und örtlichen Perspektiven. Zu den häufigsten erprobten Modellen gehört das Opfer-Aggressor-Verhältnis, den immer wiederkehrenden Schauplatz stellen verschiedene Konzentrationslager dar.

Einmal notiert er: "Ich bin ein jugendlicher Häftling und marschiere in einer Gruppe zu einem Transport nach Auschwitz. [...] Alles wird im Tod enden" (S. 65), ein anderes Mal soll er in Birkenau vergast werden, besucht Auschwitz mit seinem Vater, befindet sich im Hause seiner Vorfahren in Kyjow, wird gefoltert. In einer anderen Variante ist er aufgeregt von archäologischem Fund, als durch einen Erdrutsch an einem Flussufer "Hunderte von weißen Menschenzähnen mit Goldplomben" (S. 66) sichtbar werden. Als Archäologe besucht er Auschwitz, der "im Traum eine große und saubere, mehrstöckige Fabrik" (ebd.) ist, wobei alles sehr hell und "helvetisch" ist. Immer wieder verinnerlicht das Traum-Ich verschiedene Nazi-Rollen, er ist "Hitlers rechte Hand" (S. 67), hilft ihm "bei der Organisation des Massenmordes" (ebd.), erlebt berauschende Gefühle, die ihm "das geplante Morden und die unbedingte Unterwerfung unter den Willen des Diktators geben" (ebd.), in anderen Träumen ist er "zum Nachtmahl bei Adolf Hitler eingeladen" (S. 71), versetzt sich in die Rolle eines SS-Manns (S. 69) oder ist "ein Prominenter in einem KZ" (S. 71). Die Ungeheuer aus dem Krieg bekommen in den Träumen angenehme Charakterzüge und werden als freundliche Menschen porträtiert. In einer Vision ist "Hitler ein gutaussehender, ausgesprochen sympathischer Manager. [...] Er hält einen Workshop, eine Art Psychogruppe oder Team-Coaching" (S. 67), in einem anderen Bild unterhält er sich mit einem kleinen Jungen. Bei einer Inspizierung von Buchenwald begegnet das Traum-Ich Josef Mengele, der einen sympathischen Eindruck macht. "Vor dem Seziersaal am Boden liegt eine Totenmaske seines Gesichtes. Sie ist aus Stein und in der Mitte eingedrückt. Sie mahnt die Besucher an Mengele. Mengele schaut zur Maske und sagt: 'Schade, dass ich nicht tot bin'. Das rührt mich zu tiefster Trauer. Ich lehne mich an seine Schulter und weine bitter und tief. Mengele tröstet mich. Ein Freund in der Not." (S. 67)

Auch der Ort der schmerzlichsten Erinnerungen in der Menschheitsgeschichte, ein Konzentrationslager, wird mit positiven Bildern assoziiert: "Ich bin mit George Borek und meinem Vater in einem Konzentrationslager, einem Nebenlager von Auschwitz. Es ist ein prima Lager, es gibt ein grosses Buffet wie in einem Hotel. Wir stopfen uns voll." (S. 74)

Die schockierende Verwechslung von Opfer- und Täterrollen ist - neben der Traumperspektive und sachlichem Stil - ein weiterer Versuch des Träumers, der Vergangenheit das Grauenhafte zu nehmen, um sich ihr nähern zu können. Dieselbe Funktion erfüllt der unerwartete, unadäquate Gebrauch der Wörter aus dem modernen Vokabular, wie "prima Lager", "Workshop", "Team-Coaching", "Prominente", wobei die Wörter "Shoah" oder "Holocaust" in den Aufzeichnungen nicht verwendet werden. Positive Charaktereigenschaften, die vom träumenden Ich den führenden Persönlichkeiten des Nazi-Regimes verliehen werden, das Wechseln von Rollen (Hitler als Therapeut, Mengele als Tröster und Freund, nette Nazis) und Funktionen (Todeslager gleicht einem Hotel, wird nicht mit Hunger sondern "grossem Buffet" konnotiert) sind eine Art Abwehrreaktion des Unterbewusstseins, das sich auf diese Weise vor dem Trauma, die eine Annäherung an die Massenmörder verursachen kann, zu schützen sucht. Durch die Erprobung von Rollen, durch ständigen Zeit- und Ortswechsel werden vom Träumer verschiedene Selbstheilungsverfahren getestet, denn der Besuch in einem Konzentrationslager und die Konfrontation mit dem größten Leid wurde ihm - selbst Jahrzehnte nach dem Holocaust - zu einem traumatischen Erlebnis. In einem der Vernichtungslager sind wohl sein Großvater Buxbaum(17), vielleicht auch sein Vater und andere Familienmitglieder ermordet worden. Der tragische, topographisch bestimmbare Ort wird auch zum Ort der gedanklichen Begegnung mit seinen jüdischen Vorfahren, mit den Ghetto- und KZ-Juden, zu einem Ort im Gedächtnis, sowie zu einem relevanten Bezugspunkt für seine neue Selbstauffassung. Erst wenn er die schmerzlichen Erinnerungen an das Schicksal seiner Familie und seines Volkes in sein Weltbild integriert, sie innerlich verarbeitet, wird er sich von der belastenden Vergangenheit emotional befreien können. Diese Befreiung ist nicht mit Vergessen gleichzusetzen, denn nach einer derart traumatischen Erfahrung des Besuches in einem Vernichtungslager wird es niemals möglich sein, sein Selbstbild wird aufs Neue konstruiert.

Das Kriegs- und Holocaust-Motiv taucht - wie erwähnt - immer wieder in den Texten der Anthologie auf. Joseph aus dem Roman Le Temps des Cerises von Sylviane Roche konnotiert das Lagerleben paradoxerweise mit seiner "ersten Berührung mit Literatur" (S. 109): "In Buchenwald gab es Kameraden, die sich Bücher erzählten, sich Gedichte zusteckten, auf irgendwelchen Fetzen Papier [...]. Wir schrieben die Gedichte ab, lernten sie auswendig". (Ebd.) Das kleine Mädchen aus der Erzählung Zugvögel, wir freut sich, dass ihre Oma im Lager nicht allzu lange leiden musste, weil sie schon nach zwei Monaten starb.(18) Der Krieg belastete auch das Leben der Großeltern des Erzählers in der Geschichte von Luc Bondy Elsa oder wo war ich" (1998; S. 83-86), indem er sie zwar nicht "verschlungen [hat], doch zögernd, scheu und skeptisch gemacht". (S. 84) Der Großvater der Ich-Erzählerin der Geschichte Im Turm von Amsel (S. 125-130) entschied sich, nach dem Krieg in einem Turm am Meer zu wohnen, isoliert und geschützt vor der Neugier des fremden Ambiente: "Es ist besser, wenn niemand weiß, dass wir einem Schornstein entronnen sind." (S. 128) Der bedrückende Aspekt der Shoah ist im Leben der jungen Protagonistin präsent, die den Turm bewohnt und sich ihrer Kontaktschwierigkeiten bewusst ist. Ihre Freundin Kiki leidet wegen der Nazi-Vergangenheit ihres Vaters, der in Auschwitz als Aufseher tätig war und vermutlich am Tod von vielen schuldig war. In dem Paul Celan gewidmeten Gedicht Geburtsstadt: Czernowitz spricht Gabriele Markus von der "verwundeten Wurzel der Erde". (S. 89) Diese Metapher versinnbildlicht die Situation der Menschheit, nicht nur der Juden, nach der Shoah-Tragödie. Die letzte Zeile verspricht Hoffnung auf das neue Leben: "Geburt noch immer".

Der Holocaust stellt die wichtigste Zäsur im Leben der Juden im 20. Jahrhundert dar, beeinflusst ihre Weltauffassung und wird zum Bezugspunkt ihrer alltäglichen Denkmodelle. Nach dem Tod ihrer Mutter reflektiert Malka in der Geschichte Trefe und Kascher, dass sie "mit dem erzwungenen Tod in Gaskammern besser umgehen [kann], als mit dem natürlichen im Bett" (S. 144). Die Nazi-Zeit und jüdische Abstammung der Protagonistin kommen immer wieder in den Dialogen und Scherzen des Liebespaares Fred und Lilli zum Ausdruck ("semiotisches Volk", "der etwas schmuddlige Goi im schlabbrigen Pyjama", "ein kleines Gestapoverhör" - S. 148-151).

Einen ritualisierten Umgang mit der Geschichte in den USA schildert Daniel Ganzfried in seinem vielschichtigen Roman Der Absender (1995). Der Protagonist Georg ist Sohn eines ehemaligen KZ-Häftlings und arbeitet als Volontär im Holocaust-Gedenkmuseum in New York. Er hört sich jeden Tag Tausende von Kassetten mit aufgenommenen Bekenntnissen der Nazi-Opfer an, um sie im Rahmen eines "Oral-History-Projektes"(19) zu bearbeiten. Seine Aufgabe wird ihm bald zur langweiligen Routine: "seit einiger Zeit schon meinte er, manchmal zwischen den Muscheln des Kopfhörers beinahe eingeschlafen, immer wieder ein und dieselbe Überlebensgeschichte aus dem immergleichen Lager zu hören". (S. 23) Aus seiner Apathie weckt ihn erst eine Stimme, in der er seinen Vater zu erkennen glaubt, als die Erfahrung der objektiven Geschichte eine subjektive Note bekommt. Mit Skepsis beobachtet er die übertriebenen Aktivitäten von vielen Menschen und Organisationen, die "Institutionalisierung von Holocaust-Gedenken"(20), wobei der echte Aspekt der Shoah verloren geht: "Wieviele Leute in diesem Land leben wohl vom Holocaust?"(21), fragt er.

Gegen das kommerzialisierte und oberflächliche, auf die Museumsbesuche reduzierte Holocaustgedenke(22) äußerte sich auch Adolf Muschg, als der schweizerische Bundespräsident Delamurez die Mitverantwortung seines Landes für den Zweiten Weltkrieg verneinte, mit der Begründung, dass Auschwitz nicht in der Schweiz liegt. Darauf reagierte der Schriftsteller mit seinem berühmten Essay Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt(23), in dem er für die "moralische Topographie"(24) plädiert. Als Europäer können sich die Schweizer von der gemeinsamen (Leidens)geschichte des Kontinents, von der "Erblast der Geschichte"(25), für die die ganze westliche Zivilisation verantwortlich ist, nicht distanzieren.

Als ein Missbrauch des Holocaust-Gedenkens sowie der jüdisch-schweizerischen Literatur ist der berüchtigte Text von Binjamin Wilkomirski Bruchstücke. Aus meiner Kindheit 1939-1948(26) auszuwerten, der als Tatsachenbericht und Autobiographie eines Holocaust-Überlebenden beinahe fünf Jahre lang als Klassiker behandelt und in eine Reihe neben große Werke der Weltliteratur gestellt wurde. Wilkomirski erzählt die tragische Geschichte eines jüdischen Kindes, das nach dem Krieg in die Schweiz gelangte und dessen "kalte" Pflegeeltern seine Erinnerungen an die Erlebnisse in den Konzentrationslagern zu tilgen versuchten. Das sentimentale Buch, das erschütternde Bilder evoziert und an die Empathie der Rezipienten appelliert, erschien im Jüdischen Verlag Suhrkamp und bekam positive Rezensionen selbst von angesehenen Kritikern. Dank den Bemühungen von Daniel Ganzfried(27) ist es mittlerweile klar, dass Bruno Dösseker, alias Grosjean ein Schweizer ist und seine "Heiligen-und-Opfer-Vita"(28) völlig gefälscht hat.(29) Fiktionalisierte Biographien sind in der Literatur kein Novum, Dösseker jedoch hat seine erfundenen Geschichten als authentisches Dokument, seine konstruierte jüdische Identität als echte zu verkaufen versucht. Der unbekümmerte Umgang mit den fürchterlichsten Leiden der Menschen im Weltgeschehen stellt den Missbrauch der ganzen zur "Endlösung" verurteilten Nation dar. Wilkomirskis Welterfolg von "epidemischen Ausmaßen"(30) würde die These Norman Finkelsteins untermauern, dass der Holocaust von gewissen Menschen und Institutionen für kommerzialisierte Zwecke ausgenutzt wird.(31)

Nach Julius H. Schoeps, einem Kenner der jüdischen Problematik(32) "spielt die Erfahrung des Holocaust in der amerikanischen Gesellschaft heute eine zentrale Rolle. Man weiß, dass er für die Juden der Vereinigten Staaten vielfach Religionsersatz und identitätsstiftenden Charakter hat."(33) Die identitätsstiftende Bedeutung des Holocaust ist wohl auch im Falle des europäischen Judentums(34), darunter des helvetischen festzustellen. Zwar kennen die jüngeren Generationen von Autoren die von ihnen geschilderten Lager- und Kriegserfahrungen "aus zweiter Hand", wie Wanda Schmid(35) zugibt, doch in den Familien der Holocaust-Überlebenden war Krieg "immer gegenwärtig, ohne dass viel darüber gesprochen wurde. [...] Ich stelle fest, dass es Personen aus der zweiten Generation gibt, die ihre Erfahrungen schreibend verarbeiten."(36) Die Erinnerungen an die Shoah scheinen daher nicht nur die in der ganzen Welt zerstreuten Juden zu integrieren, sondern resultieren aus dem inneren Bedürfnis, die Erfahrungen der Vorfahren, der eigenen Ethnie zu verarbeiten. Dass das Holocaust-Motiv in der neuesten Literatur der Schweizer Juden oft aufgenommen wird, scheint diese These zu begründen.

Eine einzigartige Verarbeitung des Krieges und der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg unternimmt einer der bekanntesten Schweizer Kulturschaffenden jüdischer Provenienz, Charles Lewinsky(37), in dem Buch Hitler auf dem Rütli.(38) In der streng durchgehaltenen Form eines publizistisch-wissenschaftlichen Werkes, das Protokolle mit authentischen Zeugenaussagen enthält und mit historischem Kommentar sowie mit entsprechenden Zeichnungen versehen wird, präsentiert er eine Alternativgeschichte der Schweiz. Zum Ausgangspunkt für die fiktionalen Ereignisse wird die Besatzung der Alpenrepublik durch die deutsche Wehrmacht am 10. Mai 1940, den Endpunkt bildet die "heldenhafte" Befreiung von Bern. Lewinsky schildert u.a. den feierlichen Empfang Hitlers auf der berühmten Rütli-Wiese durch die Bewohner des annektierten "Reichsgaus Schweiz". Mit der Erfindung der alternativen Kriegsereignisse kritisiert er die kurzsichtige Flüchtlingspolitik der Schweiz im Geiste von "Das Boot ist voll" sowie die damaligen pro-faschistischen Sympathien mancher Landsleute.

Zum Motivkreis der Kriegsverarbeitung gehört auch die Fabel Der Schneider (1990; S. 76-82) von Marta Rubinstein. Der Krieg, der Ghetto- und Lageraufenthalt bilden die Stationen des Lebens von Hayim Yankl, einem talentierten und arbeitsamen Schneider, der dank seiner Leidenschaft zum Nähen zu Erfolg und Geld kam. Der Krieg hat ihm alles genommen, geblieben waren ihm der Glaube an Gott und die irrationale Liebe zu seiner Nähmaschine. Nach der Befreiung von der Naziherrschaft machte er sich auf den Weg nach Warschau, wo sein Haus geplündert und von unbekannten Menschen bewohnt war. Sein einziger Wunsch war, die beliebte, alte Nähmaschine zu finden, denn sie war "Hüterin all seiner Schmerzen und Hoffnungen, all seiner Träume, seines Glücks und all der Leiden von Gottes auserwähltem Volk. Die Qual aller Plünderungen, der Erniedrigungen, des Mordes". (S. 89) Mit dem kostbaren Stück in der Hand, das seine Leidenschaft und glückliche Vergangenheit versinnbildlichte, entschied sich Hayim, den naiven Glauben an Maschiach aufzugeben, das barbarische Europa zu verlassen und eine neue Existenz in Erez Israel aufzubauen. Für ihn wurde der alte Kontinent zum Symbol der Vernichtungslager, der Verbrechen und Demütigungen, auf dem er nicht mehr leben konnte.

 

3. Stereotype und Antisemitismus

Gegenseitige Ressentiments, Stereotype und Antisemitismus sind die destruktiven Elemente im Zusammenleben der Menschen und Völker, die immer wieder künstlerisch verarbeitet und demontiert werden. Sie werden von den jüngeren Autoren in verschiedenen Kontexten aufgegriffen. In dem Roman Le Temps des Cerises (S. 105-115)(39)

von Sylviane Roche (1998) schreibt der 75jährige Protagonist Joseph seine Memoiren nieder. Er knüpft an die antisemitischen Tendenzen in Polen an, weswegen sich seine Eltern nur ungern an dieses Land erinnerten. Der 1919 in £ódÿ geborene französische Jude übernahm von ihnen die Abneigung gegenüber Polen und wollte in der Nachkriegszeit nicht mehr in seine frühere Heimat reisen. Die Erfahrungen seines Bruders David sowie seiner Cousins in Polen im Jahre 1968, als es zu einer neuen Antisemitismus-Welle kam, bestärkten ihn in seinen Auffassungen: "Die Polen waren noch genau so antisemitisch wie vor dem Krieg, der Kommunismus hatte nichts geändert. [...] Ich habe immer gedacht, dass es nicht die Schuld der Kommunisten, sondern jene der Polen war. Den Polen ist nicht zu helfen, gewalttätig, dem Alkohol verfallen, von Natur aus grausam und abergläubisch wie sie sind. Von den aufklärungsfeindlichsten Geistlichen manipuliert, die man sich denken kann. Unheilbare Wilde, kurzum, die kein Regime besser machen wird. Also ade Polen, reden wir nicht mehr davon." (S. 111)(40) Der alte Mann verfasst diese verallgemeinernden Feststellungen im Mai 1994, nach der Wende in Polen, seinen Äußerungen ist daher zu entnehmen, dass sich die Umwälzungen in Osteuropa auf sein erstarrtes Polen-Bild nicht ausgewirkt haben. Wegen seiner familiären Erfahrungen und Enttäuschungen wie auch seines beträchtlichen Alters ist er nicht imstande, seine Anschauungen zu revidieren und die Polen differenziert zu betrachten.(41)

Über "unsere faktische oder vermeintliche Germanophilie" (S. 38) reflektiert der Protagonist des angeführten Romans Le Feu au Lac von Jean-Luc Benoziglio, dagegen über äußerliche und innere Eigenschaften der jüdischen Zugehörigkeit(42) schreibt Michael Guggenheimer in seiner sachlich erzählten Kurzgeschichte Adler (1999). Der Hauptheld Klein hat eine neue Arbeitsstelle angetreten, wo er einem gewissen Andreas Adler begegnet ist. Er vermutet, dass er jüdischer Abstammung ist und versucht auf verschiedenen Wegen herauszufinden, ob sich sein Verdacht bestätigt. Die einfachste Lösung, Adler direkt danach zu fragen, scheint ihn zu überfordern: "Das Wort 'jüdisch' konnte er nicht aussprechen. Ihm kam vor, er sei selber kein Jude, ein Mensch jedenfalls, der sich nicht getraute, dieses Wort zu verwenden, aus Angst, er würde den anderen verletzen." (S. 141) Er sinniert über die inneren und äußeren Kennzeichen der jüdischen Identität, über Gemeinsamkeiten, die die Juden miteinander verbinden. Wie sich mit der Zeit herausstellt, sind Klein und Adler jüdischer Herkunft und es gibt unsichtbare, unidentifizierbare Elemente, die sie miteinander verbinden. Klein kommt zu dieser Schlussfolgerung, obwohl er und Adler nicht miteinander, sondern mit anderen Kollegen in der Firma befreundet sind, keine Kontakte auf der privaten Ebene pflegen und "sich einander gar nicht verbunden" fühlen. (S. 141)

In Hazanovs Lettres russes verweist der Genfer Jude Juri seinen Brieffreund Igor auf die Xenophobie seiner Landsleute(43), die sowohl gegenüber ihren französischen und deutschen Nachbarn, als auch den Juden Abneigung empfinden. Ähnlich wie andere helvetische Juden spricht er mit Humor über die angebliche Verwandtschaft der Mundart mit der jiddischen Sprache.(44) Die Umwälzungen in Osteuropa und Deutschland im Wendejahr 1989 betrachtet er mit Beunruhigung: "Irgendetwas liegt dort in der Luft. Die Perestroika hat alle möglichen Mauern zum Einstürzen gebracht, aber ohne Mauern gibt es auch kein Haus. Und wer baut das jetzt wieder auf?" (S. 123)

Eine humorvolle, beinahe komische Darstellung der gegenseitigen Vorurteile bietet Stina Werenfels Filmdrehbuch u.d.T. Pastry, Pain & Politics (1998; S. 168-194). Sie problematisiert deutsch-jüdische und jüdisch-palästinensische Abneigungen und knüpft an den gegenwärtigen Nahostkonflikt an. Während eines kurzen Besuches in der Schweiz gelangt der amerikanische Jude Weintraub in ein schweizerisches Krankenhaus, wo er von der palästinensischen Schwester Hayat gepflegt wird. Als er von Hayats Herkunft erfährt, verlangt er sofort, dass die gefährliche "Terroristenschwester" (S. 179) von einer "netten Schweizerin" (ebd.) ersetzt wird. Auch Hayat betrachtet Weintraub durch das Prisma nationaler Animositäten und möchte auf die Pflege des Zionisten - wie sie ihn bezeichnet - verzichten. Selbst der Professor der Klinik ist nicht frei von Fremdenfeindlichkeit und antwortet ihr: "Wenn ich Juden behandle, dann können Sie das auch" (ebd.). Zwischen Weintraub, der von seiner Frau Ellen unterstützt wird, und Hayat entwickeln sich täglich heftige Wortgefechte über die Nahostpolitik. Der Krieg der Vorurteile findet sein positives Finale: Während eines Busausflugs in den Schwarzwald haben Hayat und Ellen Angst vor dem Übertritt der deutschen Grenze - Ellen wurde einmal nach Deutschland deportiert, dagegen hat Hayat keinen Pass. Schließlich gelingt es der Palästinenserin, den Bus durch eine Drohung zu stoppen, beide "Feindinnen" steigen aus und versuchen in die Schweiz zurückzukehren. Gemeinsame Flucht und paralysierende Angst vor der Grenze vereint die Antagonistinnen und die alte Jüdin hilft spontan der Palästinenserin mit ihrem Pass. Diese illegale Tat sowie die Macht ihres amerikanischen Passes üben auf Ellen eine therapeutische Wirkung aus: plötzlich ist sie befreit vom alten Grenztrauma, lacht und läuft nochmals über die deutsche Grenze zurück. Eine gewisse Sympathie entwickelt sich zuletzt zwischen dem "unmöglichen" Patienten Weintraub und seiner palästinensischen Krankenschwester. Durch den persönlichen Kontakt werden gegenseitige Vorurteile und nationale Aversionen abgebaut und die Geschichte findet ein Hollywood-Happy-End.

 

4. Zur Gegenwart

Ähnlich wie andere Autoren aus der Schweiz reagieren auch die jüdischen auf die neuesten Entwicklungen in der Heimat, in Europa und in der ganzen Welt: den Hintergrund für Ganzfrieds Roman Der Absender bildet der Golf-Krieg von 1991, Miriam Cahn nahm mit ihrem Text Was mich anschaut Stellung zum Konflikt in Jugoslawien. Die Lettres russes von Sergueï Hazanov (S. 116-124) knüpfen an die Zeit der osteuropäischen Wende an. Die Nazi-Raubgold-Debatte sowie die Diskussionen über die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg fanden ihren Niederschlag in Shelley Kästners Theaterstück Antisemitismus oder die Lust, gemein zu sein (S. 131-138), das an mehreren helvetischen Bühnen gespielt wurde. Sie erinnert an antisemitische Überzeugungen, Anschuldigungen und Witze, in denen die Juden als die schlechteste Art von Menschen gezeigt werden. Ebenfalls die scheinbar lustige Geschichte von Marianne Weissberg Männerjagd oder Lili und die Schmocks (2001; S. 146-157), in der eine Liebesbeziehung zwischen der Jüdin Lili und dem Zürcher Fred dargestellt wird, endet mit einer erschreckenden Enthüllung über Freds nationalistische Anschauungen. Weissberg warnt vor den rechtsextremistischen und antisemitischen Tendenzen, die heutzutage in Helvetien nicht nur unterschwellig festzustellen sind.

In der erwähnten Performance Was mich anschaut sucht Miriam Cahn mit avantgardistischen Mitteln ihrer Ohnmacht und Erschütterung über den Krieg in Jugoslawien Ausdruck zu geben. Ihr rhythmisch strukturierter Protest-Monolog, Kleinschreibung und fehlende Interpunktionszeichen, zerstörte Satzteile, die scheinbar chaotisch wiederholt werden, spiegeln die sprachliche Hilflosigkeit wider, für ihre Gefühle ein entsprechendes Medium zu finden. Ihre Faszination der Kunst von Picasso und insbesondere der Guernica wird durch den Krieg in Jugoslawien auf fürchterliche Weise aktualisiert. Jüdische Abstammung und Weiblichkeit (vgl. S. 163) machen sie besonders empfindlich für Waffenkonflikte. Am tiefsten beunruhigt sie die "qualität" dieses Krieges, sein unmenschliches Ausmaß, die an den Nachbarn und Kindern begangenen Grausamkeiten, die geographische Nähe der Kämpfe zu ihrer Heimat Schweiz und die Genese der Tragödie: "plötzlich aus dem nichts" (ebd.). Der Konflikt exemplifiziert das Versagen der westlichen Zivilisation und seine europäische Topographie bewirkt, dass die Fernsehbilder aus Somalia "trotz ihres grauens [...] mir weiter entfernt sind obwohl sie elektronisch gleich nah sind wie die bilder aus sarajevo". (S. 163) Cahn verurteilt die Medienstrategie der Kriegsmächte, die Selektivität der präsentierten Bilder, die eher einem Werbefilm gleichen.(45) Die eigentliche "tötungsarbeit" der Soldaten wird nicht gezeigt, sondern die hochentwickelte Kriegstechnik, Elektronik und "intelligente" Waffen, bei denen das Knopfdrücken genügt, um das menschliche Leben und das Land zu zerstören. Gemäß der Propagandataktik soll die Öffentlichkeit durch die technische Seite von der Unmenschlichkeit des Krieges abgelenkt werden. Die jugoslawischen Soldaten erinnern eher an "junge rambos" (S. 159), die den Krieg als Filmabenteuer, das Töten als Heldentat betrachten. Die Sprecherin der Performance erinnert an die Konzentrationslager, an die Unbelehrbarkeit der Europäer, die keine Schlussfolgerungen aus der Shoah gezogen haben: "diese [...] europäische Situation wieder diese Schande". (S. 165)

Freundschaften (Amsels Im Turm) und Liebesbeziehungen, gemeinsame Arbeit und Faszinationen, Altersprobleme (Joseph in Le Temps des Cerises von Sylviane Roche), Anti-Kriegs-Proteste, der Kampf um den Frieden und die Gleichberechtigung der Frauen und Männer verbinden die jüdischen Figuren mit ihren nicht-jüdischen Kollegen, Nachbarn und Bekannten. Lili aus Männerjagd oder Lili und die Schmocks ist eine arbeitslose, temperament- und humorvolle Autorin von Geschichten, die Ich-Sprecherin aus der Performance von Miriam Cahn ist eine moderne, selbstbewusste Frau, die in den 70er Jahren in der Frauenbewegung tätig war, die traditionellen Rollen der Mutter und Hausfrau ablehnte, ihrer eigenen künstlerischen Berufung folgte und mit der eigenen "egoistischen" Selbstfindung beschäftigt ist. Die heutigen Juden der untersuchten Texte leben in verschiedenen Ländern und Orten, vertreten unterschiedliche Altersgruppen, üben diverse Berufe aus, sind vollständig in den Alltag der jeweiligen Gesellschaft integriert, sprachlich und kulturell angepasst, wobei sie ihre jüdische Identität beibehalten.

 

5. Tradition und Gedächtnis

Jüdische Sitten und Gesetze, religiöse Erziehung und kulinarische Unterschiede, die in mehreren Texten der Anthologie zumindest indirekt angesprochen werden, bilden den Hintergrund für familiäre Streitereien, die Regine Mehmann Schafer in der Geschichte Trefe und Kascher (1998) witzig darstellt. Tradition und Erinnerungen scheinen in der jüdisch-helvetischen Literatur - ähnlich wie in der deutsch-jüdischen, wie Daniel Hoffmann mit Recht konstatiert - eine relevante Rolle zu spielen: "Bewusst oder unbewusst nimmt der jüdische Autor die Ausdrucksmittel und Symbolwelten seiner Religion auf. Und selbst dort, wo er neue Stilformen findet, die ihm seine Zeit vorgibt, wo er sich als deutsch-jüdischer Autor einer neuen literarischen Richtung anschließt oder zu ihrer Begründung beiträgt, bleibt er trotz der poetischen Innovationen stets auch zurückgebunden an diese Tradition jüdischen Schreibens. Denn indem er sich den neuen Formkräften der Dichtung zuwendet und ihre weltanschaulichen Positionen zu formulieren beginnt, gräbt er auch in sich die überlieferten Formen auf, wird der progressive Dichter zum Archäologen in der jüdischen Substanz seiner Existenz."(46)

Auffallend starke Verankerung in der jüdischen Tradition, gleichsam ein Erinnerungszwang an die Vergangenheit der eigenen Ethnie, der Gemeinde oder Familie sind konstante Bestandteile des jüdischen Bewusstseins (Hazanovs Lettres russes u.a.). Selbst Georg aus Ganzfrieds Roman Der Absender, der behauptet, keine "Einstellung zum Judentum"(47) zu haben, "sich nicht auf der Seite der Opfer geboren zu fühlen"(48), engagiert sich als Volontär für ein zukünftiges Mahnmal und sucht in der Vergangenheit nach den Spuren seines Vaters.

Im Vergleich zu der helvetischen Nation, die wegen kulturell-religiöser Vielfalt durch gemeinsamen "Willen" zusammengehalten wird, scheinen für das topographisch verstreute und innerlich zersplitterte jüdische Volk das gemeinsame Gedächtnis, die kollektiven Erinnerungen diese Funktion zu übernehmen. Die Akkulturation hindert die Juden nicht daran, ihre ethnische Zugehörigkeit zu bewahren und eine Art Doppelidentität zu evolvieren. Wohl aus diesem Grunde verbringt die alte Jüdin Frau Stoos aus Ganzfried' Roman Der Absender die ganzen Tage in der New Yorker Bibliothek, um den Untergang ihrer ungarischen Gemeinde niederzuschreiben und ihr Leid vor dem Vergessen zu retten: "Wir sind die letzten, die sich noch erinnern können. Nach uns wird die Geschichte erlöschen."(49) Frau Stoss betrachtet Erinnerungen als Nachlass und Sendung für weitere Generationen, als die kostbarste Komponente der jüdischen Existenz, die geschützt und überliefert werden muss.

Die von der helvetisch-jüdischen Literatur betriebene konstante "Revitalisierung der Erinnerung"(50) ergibt sich nicht zuletzt aus den intuitiv geahnten Mechanismen des menschlichen Gedächtnisses, die die Wissenschaftler in den letzten Jahren entdeckt haben. Der Erinnerungsprozess ist immer mit dem Neu-Einschreiben (Wolf Singer) der neuronalen Gedächtnisspuren verbunden: "Was in der Erinnerung bleiben soll, bedarf der Konsolidierung durch wiederholtes Durchdenken und Durchfühlen desselben Ereignisses. Wenn diese Konsolidierung ausfällt, abgebrochen oder modifiziert wird, verändert sich das Engramm"(51). Die Vergangenheit wird somit durch Erinnerung nicht nur ins Gedächtnis zurückgerufen, sondern verinnerlicht und bereichert um die vom Menschen gegenwärtig erlebten Stimuli und Emotionen. Dieser Prozess erklärt einerseits die Notwendigkeit (damit das einmal Erlebte der Vergessenheit nicht anheimfällt), andererseits die bewusstseinsverändernde Kraft der Erinnerung.

In diesem Kontext erscheint der Holocaust als dieses Element, das das Judentum am stärksten - wenn auch auf schmerzlichste Art - mit der europäischen Vergangenheit und Kultur verbunden hat. Die Erinnerung an den Holocaust, was die untersuchten Texte suggerieren, kann zum Brückenschlag werden zwischen der Vergangenheit und Gegenwart, zwischen der jüdischen und nicht-jüdischen Kultur. Wie Adolf Muschg konstatiert, stellt die Shoah die größte Niederlage und Schande der christlichen Religion und der europäischen Zivilisation dar.(52) Als solche darf sie nicht vergessen werden, die Pflege der gemeinsamen Erinnerungen und die Verarbeitung schmerzlicher Vergangenheit durch heutige Generationen eröffnen neue Chancen für die Zukunft ohne nationale Vorurteile und Animositäten, ohne Kriege und destruktive Machtpolitik.

© Barbara Rowinska-Januszewska (Adam-Mickiewicz-Universität zu Poznan)


ANMERKUNGEN

(1) Zürich: Limmat 2001. Weiterhin als DZE verzeichnet. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die Anthologie.

(2) Vgl. dazu Thomas Nolden: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 11.

(3) Auch wenn Wilkomirski ein Schweizer ist, worauf später eingegangen wird, so funktionierte seine erfundene Autobiografie in der internationalen Öffentlichkeit fünf Jahre lang als das Werk eines jüdischen Autors.

(4) Nach Rafael Newman: Die zweifache Eigenheit. Für eine schweizerisch-jüdische Literatur. In: DZE, S. 210.

(5) Siehe hierzu die mehrere Bände umfassende Arbeit Geschichte der Juden in der Schweiz: Vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation von Augusta Weldler-Steinberg, erg. durch Florence Guggenheim-Gruenberg. Zürich 1966-1976.

(6) Siehe dazu Literatur geht nach Brot. Die Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes; hrsg. von dem SSV, Redaktion: Otto Böni, / Hugo Loetscher / Uli Niederer. Aarau-Frankfurt/Main-Salzburg 1987; und Julian Schütt: Germanistik und Politik. Schweizerische Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalismus. Zürich 1996.

(7) Hermann Levin Goldschmidt: Fragen jüdischer Kulturarbeit in der Schweiz. Festschrift des Schweizerischen Isralelitischen Gemeindebundes 1954. Basel 1954, S. 7. Zit. Nach Rafaël Newmann: Die zweifache Eigenheit. Für eine schweizerisch-jüdische Literatur. In: DZE, S. 175.

(8) Ebd., S. 195-242. Siehe auch von demselben Autor: "...Eine Schau in die Welt ... ihr nahe zu sein und ferne zugleich". Zur jüdischen Kultur in der Schweiz der Nachkriegszeit. In: Sander L. Gilman / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Berlin 2002, S. 176.

(9) Der besonderen Rolle der Schweizer Juden und ihres Schrifttums innerhalb des deutschen Kulturkreises ist wohl auch die Tatsache zuzuschreiben, dass die schweizerisch-jüdischen Autoren in den neuesten Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Literatur oft nicht mitberücksichtigt werden. Siehe z.B. Daniel Hoffmann (Hrsg.): Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Paderborn-München-Wien-Zürich: Ferdinand Schöningh 2002; Hans J. Schütz: "Eure Sprache ist auch meine". Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte. Zürich-München: Pendo 2002. Ausnahmen bilden die Arbeit von Sander L. Gilman / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. A.a.O. mit den Beiträgen von Rafaël Newman ("...eine Schau in die Welt ... ihr nahe zu sein und ferne zugleich." Zur jüdischen Kultur in der Schweiz der Nachkriegszeit, S. 174-188), Hans Otto Horch und Daniel Ganzfried sowie von Andreas B. Kilcher (Hrsg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Weimar: Metzler 2000.

(10) Das Fragment Eljascha stammt aus dem gleichnamigen Roman. In: DZE, S. 43-56.

(11) Das untersuchte Fragment stammt aus: DZE, S. 29-42.

(12) Zu verweisen wäre an dieser Stelle an Max Frisch (u.a. sein Dienstbüchlein), Walter Matthias Diggelmann (Roman Die Hinterlassenschaft), Adolf Muschg und Peter Bichsel, Otto F. Walter (Roman Zeit des Fasans), Urs Widmer (sein Roman Der Geliebte der Mutter) oder Thomas Hürlimann (seine Stücke Großvater und Halbbruder, Der Gesandte).

(13) Vgl. hierzu DZE, S. 36.

(14) Was mich anschaut. In: DZE, S. 158-167.

(15) Vgl. hierzu Thomas Nolden: Junge jüdische Literatur. A.a.O., S. 10.

(16) Siehe ebd.

(17) Vgl. seinen Traum vom 29. Mai 1997, ebd., S. 71.

(18) Gabriele Markus: Zugvögel, wir. Eine Kindheit. In: DZE, S. 98, siehe auch S. 92.

(19) Daniel Ganzfried: Der Absender. Roman. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt 2002, S. 18.

(20) Hans Otto Horch: Die Stimme des Vaters. Zu Daniel Ganzfrieds Roman "Der Absender"(1995). In: Sander L. Gilman / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. A.a.O., S. 109.

(21) Daniel Ganzfried: Der Absender. A.a.O., S. 65. An einer Stelle bemerkt, er dass früher die Wohltätigkeit die Domäne der Frauen war. "Seit der Holocaust so gut ins Geschäft gekommen sei und jede Kleinstadt mit genügend spendablen Juden ein eigenes Museum oder zumindest ein Memorial plane, habe das Gebiet eine erhebliche Professionalisierung erfahren, was nichts anderes heisse, als dass angesehene Männer Einzug in die neu geschaffenen Positionen gehalten hätten (...). Ebd., S. 99.

(22) Von einer beunruhigenden "Holocaust-Mode", die die Öffentlichkeit von der wahren Leidensgeschichte ablenkt, spricht auch Imre Kertész. Siehe Imre Kertész: Wichtig ist die Öffentlichkeit. Ein Gespräch mit Sebastian Hefti und Wolfgang Heuer. In: Daniel Ganzfried: ... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals. Hrsg. v. Sebastian Hefti. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt 2002, S. 211.

(23) Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Siehe auch das Kapitel Der Komplex in seinem Buch O mein Heimatland! 150 Versuche mit dem Schweizer Echo. Frankfurt/Main 1998, S. 124-136.

(24) Ebd., S. 10.

(25) Adolf Muschg: Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz. Erinnerungen an mein Land vor 1991. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 185.

(26) Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996.

(27) Vgl. hierzu Daniel Ganzfried: ... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. A.a.O. Er schrieb über die Affäre Wilkomirski zunächst in den Artikeln für Die Weltwoche (zuerst erschien Die geliehene Holocaust-Biographie, in der Ausgabe vom 27.08.1998), nachdem die Pro Helvetia Stiftung die geplante Veröffentlichung von seinem Beitrag in den Passagen verweigerte. Siehe auch das Buch des Historikers Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich: Pendo 2000; Daniel Ganzfried: Wilkomirski, die Auschwitz-Travestie. In: Sander L. Gilman / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. A.a.O., 222-231. Empfehlenswerte Studien lieferten auch Elena Lappin: Der Mann mit zwei Köpfen. Zürich: Chronos 2000; und Irene Diekmann / Julius H. Schoeps (Hrsg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Zürich: Pendo 2002.

(28) Elsbeth Pulver: "... der wisse nicht, wovon er rede". Gedankenmäander an den Rändern eines literarischen Skandals. In: Daniel Ganzfried: .. .alias Wilkomirski. A.a.O., S. 163.

(29) Bezeichnenderweise sind die bekanntesten jüdischen Figuren in der Deutschschweizer Literatur des letzten Jahrhunderts, Andri in Max Frischs Andorra, und Wilkomirskis Binjamin, in Wirklichkeit keine Juden. Obwohl der künstlerische Rang von beiden Autoren nicht zu vergleichen ist, so ist es Wilkomirski gelungen, einen populären jüdischen Protagonisten zu lancieren. Vgl. auch Corina Caduff (Hrsg.): Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur. Zürich: Limmat Verlag 1997.

(30) Elsbeth Pulver: "... der wisse nicht ... A.a.O., S. 157.

(31) Der "Fall Wilkomirski" stellt die Warnung für die Literatur und die Geschichte dar, die Qualität des Textes und die Fakten genau zu überprüfen, ohne bei der Bewertung den Gefühlsregungen - auch den nobelsten - zu erliegen. Auch wenn Doessekers krankhafte Sucht, ein Opfer zu sein, einen gewissen Grad von Mitleid erweckt, so kann sie in der Wissenschaft als ein Kriterium nicht angenommen werden. Wilkomirskis unhinterfragte Popularität in der Schweiz ist zugleich eine Tatsache, die soziologischer Untersuchungen bedarf. Siehe hierzu auch: Julius H. Schoeps: Angriff auf ein Tabu. Finkelsteins Kritik an der Vermarktung des Holocaust gilt im Kern der amerikanischen Nahostpolitik. In: Ernst Piper (Hrsg.): Gibt es wirklich eine Holocaust-Industrie? Zur Auseinandersetzung um Norman Finkelstein. Unter Mitarbeit v. Usha Swamy. Zürich: Pendo 2001, S. 72-72. Siehe auch das umstrittene Buch von Norman G. Finkelstein: Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird. München-Zürich: Piper 2001, S. 64-69.

(32) Neben mehreren Veröffentlichungen ist er Autor u.a. des Neuen Lexikons des Judentums. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000.

(33) Julius H. Schoeps: Angriff auf ein Tabu. A.a.O., S. 72.

(34) Vgl. hierzu Hartmut Steinecke: "Deutsch-jüdische" Literatur heute. Die Generation nach der Shoah. In: Sander L. Gilman / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. A.a.O., S. 13.

(35) Wanda Schmid: Wer zuerst das Schweigen bricht. In: Daniel Ganzfried: ...alias Wilkomirski. A.a.O., S. 223.

(36) Ebd.

(37) Er ist bekannt v.a. als Autor der Sitcoms Fascht e Familie und Fertig luschtig, von ihm erschienen auch u.a. die Bücher Die Talkshow (1997) und Johannistag (Roman, 2000).

(38) Charles Lewinsky / Doris Morf: Hitler auf dem Rütli. Protokolle einer verdrängten Zeit. Hrsg. u. mit historischen Anmerkungen versehen v. Josef Wandeler. Zürich 1984. Siehe dazu auch Klaus Pezold (Hrsg.): Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert. Berlin 1991, S. 246-247.

(39) Sylviane Roche: Le Temps des Cerises. Auszug aus Roman.

(40) Siehe auch S. 113.

(41) Den Antisemitismus in Polen schildert auch André Kaminski (1923-1991) in seinem Bestseller Nächstes Jahr in Jerusalem (Frankfurt/Main: Insel Verlag 1986). Der idealistisch gesinnte Henryk, der im Herbst 1918 nach Warschau zurückzukehren intendiert, erfüllt von Sehnsucht nach der polnischen Muttersprache, glücklich über die neugewonnene Freiheit seiner Heimat (siehe S. 340, 342), verzichtet auf seine Reise, als er an der Grenze mit Judenfeindlichkeit konfrontiert wird. Einer der Passagiere im Abteil sagt: "Ja jestem Polak, prosze panstwo. (...) Wenn uns etwas zusammenhält, ist es der Hass gegen die Juden" (S. 343). Er beschimpft Henryk ("du koschere Sau", S. 345), droht ihm und behauptet: "Ich rede im Namen von 30 Millionen Polen. Im Namen des ganzen katholischen Volkes, wenn du überhaupt weißt, was das ist" (ebd.).

(42) Das Thema der jüdischen Identität wird in der Literatur häufig aufgegriffen. Siehe dazu z.B. Dieter Lamping (Hrsg.): Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2003.

(43) Die Fremdenfeindlichkeit wurde mehrmals von den nicht-jüdischen Schweizer Schriftstellern kritisiert, wie Max Frisch (Überfremdung I, Überfremdung II), Peter Bichsel, Adolf Muschg (Albissers Grund) oder Martin R. Dean (Roman Der Mann ohne Licht).

(44) DZE, S. 117-118. Siehe auch: Rafaël Newman: Die zweifache Eigenheit. Für eine schweizerisch-jüdische Literatur. In: DZE, S. 195-196.

(45) Siehe dazu ebd., S. 158.

(46) Daniel Hoffmann: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts. A.a.O., S. 11-12.

(47) Daniel Ganzfried: Der Absender, S. 111.

(48) Ebd., S. 185.

(49) Daniel Ganzfried: Der Absender, S. 52.

(50) Michael Daxner: Schtetl-Faszination. In: Hans Henning Hahn / Jens Stüben (Hrsg.): Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Peter Lang 2000, S. 166.

(51) Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2002, S. 220.

(52) Vgl. hierzu Adolf Muschg: Auf der Suche nach dem europäischen Menschen. In: Ders.: Die Schweiz am Ende ... A.a.O., S. 164.


3.5. Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen, der slawischen und der deutschen Kultur

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For quotation purposes:
Barbara Rowinska-Januszewska (Adam-Mickiewicz-Universität zu Poznan): Zur neueren jüdischen Literatur aus Helvetien: Im Zeichen der Shoah. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_5/januszewska15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 20.4.2004    INST