Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

3.5. Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen, der slawischen und der deutschen Kultur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Maria Klanska (Kraków)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Moritz Rappaport als Brückenbauer zwischen der deutschen, jüdischen und polnischen Kultur

Maria Klanska (Kraków)
[BIO]

 

1. Historische Voraussetzungen

Haskalah oder die jüdische Aufklärung (auf Hebräisch bedeutet das Wort "Bildung") war eine geistige Strömung, die von Berlin aus in den Osten Europas gelangte. Die galizische Haskalah begann ihre Tätigkeit mindestens zwei Jahrzehnte später als eine Fortführung der Berliner Bewegung, also unter der Schirmherrschaft der deutschen Kultur. Ihre Ausstrahlungskraft wirkte auf die jüdischen Vertreter des Fortschrittslagers in Galizien mindestens bis in die sechziger Jahr des 19. Jahrhunderts hinein, und die deutsche Kultur blieb attraktiv für die jüdische Intelligenz bis zum Ende Galiziens, also bis zum Ende des 1. Weltkriegs, ja sie wurde erst mit der deutschen Okkupation Polens im 2. Weltkrieg mit dem Ostjudentum selbst ausgerottet. Gleichzeitig bekam Galizien mit der Ankunft der napoleonischen Armee neuen geistigen Schwung. Die jüdische Jugend, die in traditionsgesinnten Häusern und religiösen Schulen in der Art des Cheders und der Jeschiwah (Talmudhochschule) erzogen worden war, begann sich damals dafür zu interessieren, was in der Welt vorging. Sie erfuhr von dem Codex Napoleons, der den Juden Gleichberechtigung zusicherte. Unter den dicken Bänden des Talmud begann die männliche Schuljugend die Werke Lessings und Schillers zu verstecken, die für sie zum Evangelium der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden. In einem mühseligen autodidaktischen Prozess, der nicht nur von der frommen Umgebung nicht unterstützt, sondern sogar vor ihr aus Angst vor Repressalien geheim bleiben musste, eigneten sich die wissenshungrigen jungen Leute moderne Fremdsprachen an, mit Deutsch an der Spitze, sowie manche Elemente der Naturwissenschaften, lasen schöngeistige Literatur in neuhebräischen Übersetzungen und dann auf Deutsch und diskutierten über Gelesenes in den geheimen Selbstbildungszirkeln. Diese Anhänger der Aufklärung wurden "Maskilim" genannt, nach dem hebräischen Wort "Maskil", das einen Gebildeten bedeutet.

Die Anhänger der Haskalah strebten die Emanzipation der Juden an und deren Anschluss an die moderne europäische Kultur und das gesellschaftliche Leben der Völker, unter denen sie lebten. Nach den Vorstellungen der jungen Enthusiasten sollte es weder einen Bruch mit der eigenen Religion noch die Aufgabe des eigenen geistigen Erbes bedeuten, obwohl die Meinungen, wie weit die Assimilation reichen sollte, geteilt waren. Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass in Galizien das Problem der Assimilation bzw. Akkulturation eine Konkurrenz zwischen dem deutschen und polnischen Modell bedeutete. Die Maskilim des 19. Jahrhunderts blieben im Banne der deutschen Kultur. Hinzu kamen bis 1848 die germanisierenden Bestrebungen der österreichischen Behörden in Galizien, das ja bis dahin in deutscher Sprache verwaltet und ausgebildet wurde. Die wissenshungrigen Juden schöpften ihre Vorstellungen von Deutschland aus der die humanistischen Ideale vermittelnden deutschen Literatur der Aufklärung und der Weimarer Klassik. Die einheimische Bevölkerung kannten sie dagegen persönlich, und es hat sich während der Jahrhunderte eine Mauer der gegenseitigen Stereotypen und Vorurteile zwischen der jüdischen Bevölkerung und der christlichen Mehrheit erhoben. Trotzdem sieht man sich genötigt festzustellen, dass die Bemühungen der Behörden, galizische Juden zu germanisieren, nicht geglückt waren. Die jüdischen Massen blieben der eigenen Tradition treu, und die Eliten haben sich in die deutsch und polnisch akkulturierten polarisiert. Nachdem den einzelnen Ländern der Donaumonarchie im Dezember 1867 die Konstitution und Autonomie verliehen worden war, erfolgte in Galizien ein Repolonisierungsprozess. Damals begannen sich jüdische Gebildete und ein Teil des zu Wohlstand gelangten Bürgertums immer mehr zu polonisieren. Zur Entstehung der polnischen, oder vielmehr doppelten polnisch-jüdischen Identität trugen u.a. der polnische Januaraufstand gegen Russland und die von den Polen in den 60er Jahren geführte Propaganda zwecks gegenseitiger Annäherung bei. Ein Teil der jüdischen Intelligenz, der sich dann in den nächsten Jahrzehnten in seinen Hoffnungen auf die Integration mit der polnischen Gesellschaft betrogen sah, vor allem wegen der Angst der christlichen Bewohner Galiziens vor ökonomischer Konkurrenz, wandte sich seit den 80er Jahren immer stärker der jüdischen nationalen Bewegung zu. Die sich langsam in Galizien herausbildende Arbeiterklasse, unter der es viele Juden gab, sympathisierte eher mit den Idealen des Internationalismus und Sozialismus.

Obwohl sich seit 1868, als Polnisch wieder die Verwaltungssprache und Sprache der Bildungsanstalten wurde, immer mehr gebildete Juden polnisch akkulturierten, blieb die Strömung der westeuropäischen Akkulturation der Ostjuden mittels deutscher Sprache und Literatur bis zum Ende der Existenz der Habsburgermonarchie lebendig, eines der bekanntesten Beispiele wäre dabei Joseph Roth. Ein Zeugnis des Fortbestehens dieser Strömung sind die Thematik und der Ideengehalt der Werke Moritz Rappaports, und einen Beweis der Lebendigkeit dieser Akkulturierungsrichtung im Hinblick auf die Sprache bilden ja alle Werke, die aus der Feder deutschschreibender Verfasser stammten, die galizisch-jüdischer Herkunft waren. Dazu gehören nicht nur die Texte dieses Maskils, auf die ich gleich zu sprechen komme, sondern auch vieler anderer jüdischer Autoren galizischer Herkunft von Karl Emil Franzos bis zu Soma Morgenstern.

Diese Verfasser bezeichnen sich zwar bereits im 19. Jahrhundert ethnisch-konfessionell als Juden, aber bereits durch die Wahl des Deutschen als Medium, durch das sie ihre Rezipienten erreichen wollen, bekennen sie sich zum deutschen Kulturmodell, was meistens bedeutet, dass ihnen die Deutschen näher als die Slawen stehen. Man muss allerdings hinzufügen, dass zwar die Wahl der deutschen Sprache eine bestimmte Kulturpräferenz bedeutete, dass es aber keineswegs zwangsläufig die Ablehnung der polnischen Kultur bedeuten musste. Man kann hier beispielsweise Siegfried Lipiner (1856-1911) aus Jaroslau nennen, den verdienten Übersetzer des "Pan Tadeusz" ("Herr Thaddäus oder Der letzte Einritt in Litauen", 1882), der "Dziady" ("Die Totenfeier", 1887) und anderer Werke von Adam Mickiewicz. Ein anderes Beispiel wäre Gotthilf Kohn (1844-1916), der Sohn des berühmten fortschrittlichen Lemberger Rabbiners Abraham Kohn, der 1848 von den orthodoxen Juden auf heimtückische Weise ermordet worden war. Gotthilf Kohn übersetzte und veröffentlichte Mickiewiczs "Poetische Meisterwerke" (1880-1884) und die Anthologie "Libertas. Lieder und Reminiszenzen aus der Zeit der Freiheitskämpfe" (1884). Genauer wird sich mit dieser Problematik der Beitrag von Martin Pollack befassen.

 

2. Rappaports Leben und Schaffen bis 1860, mit bes. Berücksichtigung des Jahres 1848

Die Übersetzertätigkeit aus dem Polnischen ins Deutsche ist auch eines der Betätigungsfelder des Arztes und Dichters Moritz Rappaport (1808-1880).(1) Rappaport gehörte der zweiten Generation der jüdischen Aufklärer in Galizien an und popularisierte die Ideen der Haskalah als Dichter, Publizist und ehrenamtlich arbeitender sozialer Aktivist. Er wurde in Lemberg geboren und ging dort bis 1822 auf die Schule, wurde dann von seinem Vater nach Wien geschickt, wo er die Schulausbildung beendete und das Medizinstudium aufnahm. Noch in Lemberg begann er Hebräisch zu lernen und sich mit der hebräischen Dichtung und Wissenschaft bekannt zu machen, was später in seiner Dichtung Früchte tragen sollte. 1833 kam er als ausgebildeter Arzt nach Lemberg zurück und begann zu praktizieren. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit religiösen Gegenständen und begann zuerst Davids Psalmen und dann Jeremias Klagelieder ins Polnische zu übersetzen. Nach einigen Jahren folgte die Übersetzung des Hoheliedes Salomos. 1842 verfasste der junge Dichter auf Deutsch das epische Gedicht "Mose", das er dem Wohltäter der Juden, Sir Moses Montefiore, zueignete und das der biblischen Figur des Gründers der mosaischen Religion gewidmet war. In den Jahren 1841-1847 redigierte Rappaport die literarische Beilage des Lemberger Amtsblattes "Leseblätter für Stadt und Land zur Beförderung der Kultur in Kunst, Wissenschaft und Leben" und ab 1841 auch die "Lemberger politische Zeitung".

Während der Revolution des Jahres 1848 ("Völkerfrühling") nahm Rappaport aktiv am politischen Leben der Stadt teil. U.a. verfasste er politische Flugblätter wie "Gruß an die Freiheit" und "Konsititutionsweihe und Amnestie", mit denen er die Aprilkonstitution und die Rückkehr politischer Gefangener aus den Festungen Spielberg und Kufstein begrüßte.

Das erstere Gedicht sei im folgenden angeführt:

Gruß an die Freiheit
Es flammt ein Strahl so licht und höhr
Auf unsre Fluren nieder
Und in dem lauten Jubelchor
Erschallen Freiheitslieder

Sei uns gegrüßt du goldner Strahl
In deiner reinsten Klarheit,
Was wir ersehnt als Ideal
Ist Wirklichkeit und Wahrheit!

Die Presse frei! Das höchste Ziel,
Das stets den Geist entzückte
Und auch die schwerste Presse fiel,
Die jede Brust erdrückte.

Die Fessel sank, die umschnürt
So viele Heldenglieder
Und mit der Freiheit Schmuck geziert
Begrüßen wir die Brüder!(2)

Durch seine Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit im Jahre 1848 bekannt geworden, zog sich Rappaport nach dem Sieg der Reaktion aus der öffentlichen Tätigkeit zurück. Wie jedoch der polnische Adelige Stanislaw Kunasiewicz in seiner Broschüre aus dem Zyklus "Causerien über die Übersetzer polnischer Dichter" (Orig. "Pogadanki o tlumaczach poetów polskich"), u.d.T. "Dr. M. Rappaport. Jego stanowisko w spoleczeñstwie ¿ydowskiem i kraju" ("Dr. M. Rapapport. Seine Stellung in der jüdischen Gesellschaft und im Lande"), die zum 70. Geburtstag des Dichters 1878 vermehrt veröffentlicht wurde, über Rappaport schreibt: "Diese Vorzüge haben ihm die Hochachtung und Anerkennung gebracht; es ist also kein Wunder, daß, als er sich zurückziehen wollte, er zu Hause aufgefunden wurde und man ihn aus der stillen Klause auf ein breiteres Wirkungsfeld zurückbrachte. Einmal dorthin gebracht, begann er mit dem ihm eigenen Eifer sowohl im Stadtrat zu arbeiten, wohin man ihn aus Ehrenbietung gewählt hatte, als auch im jüdischen Krankenhaus, zu dessen Vorgesetzten er ernannt worden war."(3)

Unter den vielen beruflichen und ehrenamtlichen Beschäftigungen blieb Rappaport nicht viel Zeit für die Dichtung übrig. So verfasste er in den Jahren 1852-1860 lediglich vier Gelegenheitsgedichte, die vier großen Vertretern der deutschen, in einem Falle deutsch-jüdischer Literatur gewidmet waren: "Göthe. Seinen Manen geweiht" (1852), "Prolog zur Schillerfeier" (1859), "Am Todestage Moses Mendelssohns" (1860) und "Festgedicht zur Lessingfeier" (1860).

 

3. Rappaports polnisch-jüdische Identität

Trotz der offensichtlichen Bindung an die deutsche Kultur fühlte sich Rappaport als Pole bzw. als Pole und Jude. Zwei bezeichnende Beispiele seien angeführt.

3.1. Polemik mit Hebbel

Als Friedrich Hebbel am 19.10.1861 in der Leipziger "Illustrierten Zeitung" sein panegyrisches Gedicht an den König Wilhelm I. mit einer antislawischen Strophe veröffentlichte, reagierte Rappaport im Namen des beleidigten Nationalstolzes der Polen in der "Österreichischen Zeitung" vom 20.10.1861. Hebbel schrieb nämlich in einer der Strophen:

Auch die Bedientenvölker rütteln
Am Bau, den jeder todt geglaubt
Die Czechen und Polacken schütteln
Ihr strupp´ges Kariatidenhaupt.

Rappaport reagierte mit einem Gedicht folgenden Wortlauts:

Doch sprich! Wer gab dir Recht und Weihe
Wenn dein Gesang Germania preist
Daß du das Wort, das kühne, freie
Auf and´re Völker schmähend weist?
Wo ist dein Recht wenn unverhohlen
Du über deutschen Zwiespalt klagst,
Daß du den edlen Stamm der Polen
Bedientenvolk zu nennen wagst?

Schlag auf die Blätter der Geschichte,
Der Wahrheit ew´ges Heiligthum,
Den Barden frag, der im Gedichte
Den Hochsinn feiert, und den Ruhm!
Die Helden frage aller Zonen,
Wo nur der Freiheit Tempel ragt,
Wer je das Volk der Jagiellonen
Bedientenvolk zu nennen wagt?
"(4)

Die einst mächtige polnische Dynastie der Jagellonen ist im 16. Jahrhundert ausgestorben. Wie wir es sehen, war der jüdische Aufklärer mit einem polnischen Geschichtsbewusstsein ausgestattet, das dem der polnischen Adeligen ähnelte. Laut Kunasiewicz gehörte Rappaport auch zu jenen, die auf den Ausbruch des polnischen Januaraufstandes 1863 gegen Russland mit einem Aufruf an die jüdische Jugend reagierten, sich an der Freiheitsbewegung zu beteiligen, da sie ja der Befreiung der gemeinsamen Heimat galt.

3.2. Das epische Gedicht "Bajazzo" (1863)

Seit 1861 arbeitete Rappaport an seinem zweiten epischen Gedicht "Bajazzo" (d.h. der Harlekin, der Schauspieler), das er im Jahre des Ausbruchs der Insurrektion vollendete. Das Hauptthema dieses Werkes ist der Konflikt zwischen den orthodoxen galizischen Juden und den neuen geistigen Strömungen, die aus dem Westen Europas kommen. Ihr Vertreter und zugleich das Opfer dieses Konflikts ist der junge Komödiant, der wegen seiner Verleumdung als Freigeist sein Zuhause verlassen musste und der seine Tragik unter der Maske des Mimen verbarg. Der Dichter bedient sich eines alten literarischen Kunstgriffs, ein Doppelbild des Gauklers zu schaffen, der vor dem Publikum den Narren, den Dummen, den Hanswurst spielen muss, in Wirklichkeit aber viel über die Welt, das Leben, kosmische Fragen nachgrübelt und sich auch für politisches Zeitgeschehen interessiert. Das Gedicht wechselt stets zwischen dem lyrischen Du, mit dem sich der auktoriale Erzähler an den Helden wendet, und dem Ich-Erzähler des Bajazzo. Wahrscheinlich verteilt der Autor die Rolle, mit der er sich selbst identifiziert, auf diese zwei Sprecher.

Der Held wird zuerst in die kleine Welt geführt, die Enge des provinziellen Nestes, dann in die große - die Welt der Salons in einer Metropole, wo platte Gespräche über Geld und Politik geführt werden. Der Bajazzo betrachtet diese Welt des eitlen Tands und des Fassadenwahrens als einen Zirkus und wundert sich, dass diese Gaukler doch so viel auf gute Manieren halten. Aus der Welt des Salons wird er in den Staatsrat geführt, wo eine Debatte über die revolutionären Unruhen - offensichtlich ist das Jahr 1848 gemeint, geführt wird. Manche Politiker plädieren dafür, mit Gewalt zu reagieren, andere sind für Milde und Humanität. Den Streit beendet der Vorsitzende, der vorschlägt, dass man zum Schein dem Begehren des Volkes nachgeben, in Wirklichkeit aber alles beim Alten belassen und dann die Aufwiegler bestrafen sollte.

Dann wird die Handlung in die Nationalversammlung nach Frankfurt verlegt, die vom lyrischen Ich kritisiert wird, er meint, dort werde, wie schon seit einem halben Jahrhundert in Deutschland, lediglich geschwätzt und nichts getan. Als ein wichtiges Thema wird von dem Verfasser die Frage nach der Entscheidung für Groß-Deutschland mit Österreich und dessen territorialen Errungenschaften oder Klein-Deutschland ohne das Habsburgerreich erörtert. Die Entscheidung fällt für ein kleineres, aber korrektes, monoethnisches Deutschland, das all die den anderen Völkern geraubten Territorien zurückgibt:

Wir können Deutschland nur dann ein´gen,
Wenn wir es von den Schlacken rein´gen,
Von allem Aussatz, der es hemmt,
Den ihm der Zeitstrom angeschwemmt,
Was einst der Väter roher Muth
Eroberte im Strom von Blut,
Wenn sie, wie die Geschichte lehrt,
Nach fremdem Eigenthum begehrt,
Gebt sie heraus, die Völker, Länder,
Sie sind blos [sic] schleppende Gewänder,
Die plump nur schlottern, weit und breit,
Wie um den Leib ein weites Kleid.(5)

Über Österreich heißt es weiter:

Reißt ab das Glied, das riesig schwer,
Sich Deutschlands Schild nennt, Deutschlands Wehr,
Das sich am Fremden vollgesaugt,
Und nicht mehr für Germanien taugt.(6)

Der Autor vereinigt hier also die kleindeutsche Lösung mit der Notwendigkeit der geschichtlichen Gerechtigkeit, die verlangt, erbeutete Länder ihren ethnischen Eigentümern zurückzugeben.

Von diesen allgemeinen Überlegungen geht der Ich-Erzähler zu seiner Lebensgeschichte über, die er in der Zweiten Abteilung nachholen will, um den Lesern mitzuteilen, wieso er ein Bajazzo geworden ist. Sein Vater war nämlich ein sanfter, frommer galizischer orthodoxer Jude gewesen, der früh verwitwet war und auf einer Geschäftsreise nach Berlin eine attraktive emanzipierte Jüdin kennenlernte, die er als seine neue Ehefrau nach Hause brachte. Die fröhliche junge Gattin versuchte in ihr neues Haus wenigstens ein wenig von dem Licht der Haskalah hineinzubringen und vor allem ihrem Stiefsohn wenigstens die Grundlagen der weltlichen Bildung zu vermitteln. Dieses war damals in den Kreisen der galizischen Juden noch sehr verpönt. So reagierte die fromme Umgebung voller Wut auf diese Neuerungsversuche. Eine typische Haltung eines Orthodoxen wird am Beispiel des düsteren Heuchlers Herrn Friedells veranschaulicht, der sich in das Haus des Kaufmanns eingeschlichen hatte und wie der Moliersche Tartuffe den Hausherrn um den Finger wickelte. Er stachelte seinen Gastgeber beständig gegen die gottlose Frau und den durch das Lernen verdorbenen Sohn auf, was endlich dazu führte, dass die Familie auseinanderbrach und der Junge von Zuhause fliehen musste und Zuflucht bei einer Schauspielertruppe suchte, die sich seiner annahm. Der Text ist also offensichtlich didaktisch geprägt, er dient der Polemik mit dem jüdischen konservativen Lager und endet mit dem vom aufklärerischen Optimismus getragenen Gedanken, dass diese Finsternis einmal vom Licht durchbrochen wird.

Der junge Ich-Erzähler, der die traurige Geschichte seines Lebens nacherzählt, besitzt zweifelsohne ein polnisches Nationalbewusstsein. Mit Stolz erinnert er an die großen Epochen der Geschichte Polens, empfindet wie die Polen die Weichsel als ein semantisches Zeichen für seine Heimat:

Das Land, wo Kraft und Hochsinn thronen,
Die Weichsel ziert, ein Silberband,
Das edle Reich der Jagellonen,
es ist mein theures Vaterland.
Hier in den schönen trauten Hallen
Dem Glück geweihet und dem Wohle,
Ging auf mein Stern und ist gefallen,
Vernimm es, Freund, ich bin ein Pole!(7)

Und dann fallen die Worte, die zu einem Schlagwort geworden sind, das das Schicksal eines polnischen Juden zusammenfasst:

Ein Pole und ein Jude sein
Das ist des Unglücks Doppelkranz!(8)

Der Erzähler meint dann, dass diese Herkunft, die die Phantasie des Orients mit dem Feuer des Slawen in seiner Brust vereinigte, zwangsläufig bewirkte, dass er Dichter werden musste. Dabei fühlt der Leser immer stärker, dass es eine autobiographische Aussage des Autors ist, dass nicht ein missglückter Schauspieler spricht, sondern der Autor, der mit seiner doppelten Identität im Schreiben die Überwindung seiner inneren Kluft versucht. Gleichzeitig ist hier eine typisch romantische Konzeption des Dichters als eines vom Leiden gezeichneten Menschen geschaffen, wie sie z.B. in der polnischen Literatur bei Mickiewicz und Slowacki deutlich vorkommt, der dank seinem Leid zu einem Propheten und Wahrheitssprecher wird. Die Gedanken der Haskalah verbinden sich also in diesem epischen Gedicht mit den Ideen der polnischen Romantik.

3.3. Übersetzungen polnischer Lyrik und die Reaktion von Kunasiewicz

In den 60er Jahren übersetzte Rappaport eine Reihe von Gedichten der polnischen Romantik wie die "Ode an die Jugend" , "Switessee" und "Das Fischlein" von Mickiewicz, "In der Schweiz" Slowackis oder das "Choral" von Kornel Ujejski ins Deutsche. Diese Übersetzungen werden von Kunasiewicz in seiner kleinen Monographie abgedruckt. Kunasiewicz widmet diese Broschüre dem polonophilen Dichter Heinrich Nitschmann und zitiert im Vorwort zur zweiten Auflage einen Dankesbrief Rappaports, der sich über die Würdigung seiner Übersetzungen "polnischer Meisterdichtung" freut und behauptet, diese sei für ihn ein mächtiger Ansporn zur weiteren Übersetzungsarbeit: "Bedürfte es noch eines Spornes die kostbaren Perlen polnischer Poesie in weitere, fremdländische Kreise einzuführen, die freundliche Würdigung polnischer Schriftsteller und Journale müsste dazu mächtig beitragen".(9)

Kunasiewicz versucht sich in seinem Text über die Vorurteile gegen die Juden zu erheben, er nennt die polnischen Könige, die diese vor Jahrhunderten in Polen aufgenommen haben, als solche, die in ihrer religiösen Toleranz der Entwicklung der europäischen Zivilisation um einige Jahrhunderte voraus waren(10), er meint aber, dass die Juden später ein schädliches Element geworden seien, wobei er eine solche - damals als harmlos geltende - Auffassung nicht ohne Recht damit begründet, dass den Juden auf einigen Gebieten Privilegien gegeben worden seien, (damit sind wohl das Bankwesen und die Kaufmannschaft gemeint,) während sie von anderen fern gehalten worden seien (wohl Zunfthandwerk und Ackerbau).(11)

Rappaport dürfe er seine Hochachtung unbedingt erweisen, da dieser sich als Pole fühle und zu dieser kleinen Gruppe der Juden gehöre, die sich mit der polnischen Heimat identifizieren und in ihren Glaubensbrüdern das polnische Nationalbewusstsein wachzurufen suchen. Er vertritt diese Auffassung vor allem auf Grund der Übersetzungen Rappaports aus dem Polnischen, dessen Polemik gegen Hebbel und dessen episches Gedicht "Bajazzo". Vom Drama "Esterka" scheint er nichts zu wissen, es würde auch schlecht in sein Gesamtbild passen.

 

4. Das Drama "Esterka" - eine Distanzierung von Polen?

Das 1873 anonym in Wien veröffentlichte Trauerspiel "Esterka" illustriert eine spätere Schaffensphase, in der sich Rappaport offensichtlich enttäuscht von Polen distanziert. Allerdings muss ich zugeben, dass ich das, wie es damals Gang und Gebe war, anonym als Bühnenmanuskript veröffentlichte Drama auf Grund der genauen Kenntnis der polnischen Realien aus der Geschichte und Gegenwart, der pathetischen Sprache, die an die seiner epischen Gedichte erinnert, sowie der Übereinstimmung der Gattung und des Entstehungsdatums mit seiner Biographie Rappaport zuschreibe, aber nicht ausschließen kann, dass es doch ein anderer deutschschreibender polnisch-jüdischer Dichter geschrieben hat.

4.1. Der Stoff

Der Autor stützt sich in diesem Drama auf den mittelalterlichen legendären Stoff der Liebe des Königs Kasimir des Großen (1310-1370) zur schönen Jüdin Esterka, von der erst der Historiograph Jan Dlugosz ein Jahrhundert später berichtete(12) und mit der man die Judenfreundlichkeit dieses großen Königs, zu dessen Zeit sich große jüdische Massen in Polen ansiedelten, und die Privilegien, die dieser den Juden Kleinpolens gab, zu erklären suchte. Heute kann man die Existenz Esterkas weder bestätigen noch widerlegen.(13)

Die Beweggründe des auf die ökonomische Stärkung seines Landes bedachten und um die soziale Gerechtigkeit bemühten Königs bedurften sicher keiner Liebe zu einer Jüdin; er förderte in der jüdischen Ansiedlung ein starkes, tüchtiges Element, das die Städte, den Handel, das Gewerbe und das Finanzwesen entwickelte. Die Korrespondenz zwischen dem Namen der Geliebten des Königs und der biblischen Geschichte von Esther und Ahasver scheint eher auf die biblische Präfiguration hinzuweisen. Nichtsdestoweniger ist es eine der polnischen Legenden, die in Krakau lebendig sind (es gibt im Stadtviertel Kazimierz sogar eine Estera-Straße) und die auf eine Möglichkeit der Verbindung zwischen den Polen und Juden hinweist.

Seit dem 19. Jahrhundert mit seinen erwachenden Nationalismen gibt es viele literarische Bearbeitungen dieses Stoffes in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache, von judenfeindlichen wie bei Aleksander Oppeln-Bronikowski bis zu solchen wie der Erzählung von Lepold von Sacher-Masoch, die darin eine fortschrittliche zukunftsweisende Tat einer überkonfessionellen Eheschließung erblicken. (14)

Rappaport kannte die Geschichte Polens gut. Auf Grund seiner Fabelgestaltung muß man annehmen, dass er auch zumindest manche dieser belletristischen Werke kannte. Sein Drama vereinigt romantische, u.a. schauerromantische, Züge (etwa die Räuberepisoden, die Entführung Esterkas,) mit denen des realistischen Dramas. Die gastfreundliche Aufnahme der Juden in Polen, die von Kasimir dem Großen geführten Kriege u.a. in Masowien um die Vereinigung Polens nach der feudalen Zersplitterung, was schon sein Vater Wladyslaw £okietek angefangen hatte, sowie seine missglückte Ehe mit Adelheid von Hessen und seine Liebe zur Tschechin Rokiczana entnahm der Dramatiker der Geschichte, die Liebe zwischen Kazimierz und Esterka sowie die Geschichte über den Giftanschlag Adelheids auf Rokiczana der Sage, den Handlungsfaden um die großadelige Familie Szamotulski und um die Liebe Hippolyts zu seiner Kindheitsgefährtin Esterka scheint seiner eigenen "Licentia poetica" entsprungen zu sein.

4.2. Die Figuren, die Handlung und Deutung

Die Gestalten des Dramas sind in zwei ethnisch-konfessionelle Lager eingeteilt, die zuerst in voller Symbiose zu leben scheinen, dann aber erweist es sich, dass der Gegensatz zwischen ihnen nur in der Ausnahmegestalt des Königs Kasimir zu überbrücken ist. Die eine Gruppe bilden die adligen katholischen Polen, gruppiert um das Geschlecht Szamotulski, die edle Fürstin-Witwe Ludmila Szamotulska, ihr in Liebe zu Esterka entbrannter Sohn Hippolyt, seine Verlobte, die ungarische Gräfin Hathvanyi (die sich nur durch ihr besonderes Temperament von den adeligen Polen unterscheidet), der Schurke Waclaw, Hippolyts Förster und Handlanger, sowie der Schloßkaplan Bonifacius. Die jüdische Gruppe besteht aus der schönen Esterka, die zusammen mit Hippolyt und Julia Hathvanyi erzogen wurde, ihrer Mutter Deborah, ihrer Muhme Lea, dem frommen, unwirschen, redlichen Diener Samuel und ihrem Verlobten aus dem fernen Amsterdam, Salomon. Eine andere Gruppe der Polen bilden diejenigen, die der Zuschauer erst im 3. und 5. Akt in Krakau kennen lernt: die Masse des Bürgertums, aus der drei nur mit Nummern gekennzeichnete Bürger als ihre Stimme hervorstechen, zwei Edelleute, die die Bürger gegen Kasimir und die Juden aufzuwiegeln suchen, der Starost Pokrywna, der Hüter des Gefängnisses der Königin Adelheid in Zarnowice (recte Zarnowiec), andere königliche Funktionäre und schließlich der König Kasimir der Große, der mehr als "Deus ex machina", denn als eine dramatische Person fungiert. So ist der dramatische Partner und Gegenspieler der zur Titelfigur erkorenen Esterka nicht der König, sondern der junge Aristokrat Hippolyt, der in sündiger Liebe zu Esterka entbrennt, die, als er das geliebte Mädchen nicht heiraten kann, ihn zum Anschlag auf ihren Verlobten und dann zu ihrer Entführung verleitet. Schließlich büßt er seine Tat mit seinem Kampf für das Vaterland und seinem Tode bei der Verteidigung Esterkas. So beziehen sich die Trauerspiel-Kategorien "Katastrophe" und "Sühne" nicht auf den König und nicht auf die vorbildliche und eher passive Heldin Esterka, sondern eben auf diesen gemischten Charakter.

Die Wertung des Autors fällt eindeutig zugunsten der jüdischen Gruppe aus, deren fünf dargestellte Vertreter sowie zwei, die nicht persönlich auftreten, von deren heldenhaften Opfertod für die Familie Szamotulski und im Falle des Vaters Gavriel auch für Polen stets die Rede ist, makellose Figuren sind, edle, kultivierte, selbstlose, fromme Menschen, denen - mit Ausnahme des rechtschaffenen Dieners - man lediglich den Vorwurf machen kann, dass sie zu gutgläubig sind, dass sie zu leicht an die Freundschaft der Polen und die Integration in die polnische Gesellschaft dank der dankbaren Szamotulskis geglaubt haben. Von den Polen hat eigentlich nur der König die gleichen moralischen Qualitäten: nicht weit von ihm steht die Mutter Szamotulska, die in einem einzigen Augenblick Unrecht begeht, als sie Esterka anfleht, ihren Sohn doch zu heiraten. Hippolyt steht zwischen dem Guten und Bösen und ist dadurch ein geeigneter dramatischer Held. Die Ungarin Julia, seine offizielle Verlobte, begeht ebenfalls tadelnswerte Taten, als sie auf Grund ihrer Eifersucht auf Esterka, deren Mutter von der Liebe Hippolyts unterrichtet und dann in einer Aufwallung schwesterlicher Liebe zu Esterka, wohl aber auch aus Rache gegen den Ungetreuen, dessen Untaten dem König berichtet. Ein völliger Schurke ist Waclaw, den einmal Hippolyt vor den Folgen seines Totschlages verteidigte und der nun bereit ist, jedes Bubenstück für seinen Herrn bzw. gegen Belohnung oder auch aus interessenlosem Hass gegen die Juden zu vollbringen. Besonders die funktionale Symmetrie und moralische Diskrepanz zwischen dem jüdischen und dem (angeblich) christlichen Diener soll dem Rezipienten dieses Dramas die Kluft zwischen dem Niveau dieser beiden Welten vergegenwärtigen.

Hippolyt ist von Natur aus edel und wohl erzogen, hält viel auf die Ehre seines Geschlechts, aber die Leidenschaft zu Esterka und die Gefahr, sie an einen anderen zu verlieren, machen ihn dazu fähig, den Konkurrenten durch einen Schuss aus dem Hinterhalt beseitigen zu wollen und Esterka zu entführen, mit dem Zweck, falls sie sich weiter weigert, seine Frau zu werden, sie zu seiner Mätresse zu machen. Das ist allerdings schon der Höhepunkt seiner Schlechtigkeit; tatsächlich die Hand an das Mädchen zu legen, vermag er nicht, er beginnt zu bereuen und möchte durch den Selbstmord die Schande, die er der Familie angetan hat, löschen. Dies wird aber sowohl von seiner Mutter als auch von Esterka wie später auch von dem König für seine größte Sünde gehalten, von der sie ihn abhalten. Er bekommt die Chance, sich auf dem Felde der Ehre zu rehabilitieren, wo er als namenloser Gemeiner sich den ritterlichen Rang erst erkämpfen muss. So wäscht er den Flecken auf dem Namen der edlen Familie ab. Die poetische Gerechtigkeit lässt ihn aber aus einem Hinterhalt heraus durch die Hand seines eigenen Helfers Waclaw fallen, während er Esterka und andere Juden auf dem Wawel vor dem Angriff der Ritter und des von Waclaw angeführten Pöbels verteidigt.

Er ist ein typischer romantisch Liebender, seine Liebe zu Esterka ist ungestüm und unbedingt. Das Leben ohne Esterka hat für ihn keinen Sinn. Er ist bereit, sie zu seiner Frau zu machen und auf seinen gesellschaftlichen Rang zu verzichten, als sie sich aber aus moralischen und religiösen Gründen weigert, wirft er ihr zu Ende des 2. Aufzugs ins Gesicht, dass sie eine "Niedrige" und "Hergelaufene aus dem fremden Lande" sei(15), und droht, dass sie doch seine Geliebte wird. Durch diese Gestalt wird wohl gezeigt, dass selbst für einen edlen Polen die Juden nur die "hergelaufenen Fremden" sind und dass er sich als Pole mehr von seinen Leidenschaften als von ethischen Grundsätzen leiten lässt. Hippolyt behandelt die jüdischen Ansiedler höflich und freundlich, weil seine Familie es ihm anerzogen hat und weil er Esterka zuerst wie eine Schwester liebt. Im Moment der Empörung ist er aber bereit, den unschuldigen Juden Salomon aus Amsterdam durch Waclaw überfallen zu lassen und selbst zu töten versuchen, weil er keinen anderen Ausweg aus seiner persönlichen Krise sieht. Er ist auch bereit, gegen Esterka Gewalt anzuwenden und befiehlt Waclaw, sie zu entführen, bloß die Folgen dieser Entführung zu konsumieren, ist er nicht verdorben genug. Für seine zwei Schritte vom Weg der Tugend muss er bestraft werden. Die Bewährungsprobe, die ihm Kasimir auferlegt, besteht er, sterben muss er wohl aus dramatisch-technischen Gründen: Esterka will ihn ja nicht, und sie weigert sich, Christin zu werden, ihre Hand muss für den König frei sein, so lässt ihn der Autor eines edlen und sühnenden Todes sterben.

Was Esterka und Hippolyt nicht vermocht haben, weil sie sein Egoismus und Standesvorurteil auseinander brachten, das vermag der ideale Held, der König Kasimir. Der weise und energische Herrscher, dem das Recht und die Freiheit seines Volkes, die aber kein Egoismus sein darf, also als Demokratie verstanden werden muss, über allem stehen und dem kein konfessionelles Vorurteil gegen die Juden die Augen verschließt, darf Esterka lieben und wird von ihr geliebt. Aber diese Lösung wird nicht verallgemeinert, wird nicht utopisch behandelt. Im Gegenteil, es wird immer wieder veranschaulicht, dass sein Volk und selbst die Edlen seines Landes seine Sicht nicht teilen. Vor allem die Szenen im 3. und 5. Aufzug, die in Krakau spielen, zeigen, wie stark die Bevölkerung Polens ihrem Herrscher seine "Liebe" zu den Juden übel nimmt und gegen sie zetert, selbst bevor er Esterka zu seiner Geliebten macht. Die Adeligen hassen den König, weil er sie um einen Teil ihrer uneingeschränkten Herrschaft im Lande brachte, so wiegeln sie das Volk gegen ihn auf und suchen nach seinen schwachen Seiten. Da sind die Juden ein willkommener Sündenbock. Die Stadtbürger hängen am König, der ihnen die Rechte verliehen hat, aber sie sind im religiösen Vorurteil befangen, das die Geistlichen fördern, und haben Angst vor der jüdischen ökonomisch-gesellschaftlichen Konkurrenz. Im dritten Aufzug hetzen die Krakauer einander gegen die Juden auf und sind gleich überzeugt, dass der gefangene Jude, in Wahrheit der rechtschaffene Samuel, der Giftmischer sein musste, der der Königin Adelheid Gift für Rokiczana lieferte. Sie lassen sich von Waclaw aufwiegeln und möchten den gefangenen Juden am liebsten lynchen, da sie befürchten, dass er als Hexenmeister dem Gefängnis entfliehen könnte. Die Zuverlässigkeit der königlichen Diener rettet ihn davor, und als selbst die Gräfin Szamotulska für den Juden und somit gegen ihren eigenen Sohn zeugt, wird die Gefahr von ihm erst mal abgewendet.

Der vierte Aufzug ist der Esterka-Handlung gewidmet. Lea und Salomon, die sich nach Amsterdam begeben wollen, wollen sie mitnehmen. Ihre Mutter ist auch dafür, das Land zu verlassen, wo "Schande und Entehrung" sie bedrohen.(16) Allein der ritterliche König fühlt sich verpflichtet, der Familie die Verdienste ihres gefallenen Vaters und Bruders bzw. Sohnes zu lohnen, so lädt er sie alle nach Krakau ein, will ihr Gastgeber sein und sie wie alle jüdischen Ankömmlinge beschützen. Wie es geschieht, dass Esterka zu seiner geliebten Partnerin wird, zeigt das Drama nicht, es muss zwischen dem 4. und 5. Aufzug geschehen sein. Nur zeigt es sich, dass ihr Entschluss, die königliche Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen, verhängnisvolle Folgen hat. Die ganze Stadt tuschelt über den König, der zwar über ihr Leben, nicht aber über ihr Seelenheil verfügen dürfe, und glaubt sich aus religiösen Gründen dazu berechtigt, gegen den König zu meutern. Sie reden sich ein, die jüdische Königin werde den König zu ihrem Glauben bekehren und von ihnen fordern, sich vom Christentum abzuwenden, Kirchen zu zerstören und Synagogen zu bauen. Der als Priester verkleidete Waclaw wiegelt sie geschickt auf, wodurch die hetzende Rolle der Priester betont wird. Esterka droht die erneute Entführung und der Tod in den Wellen der Weichsel, wovor sie Hippolyt rettet. Das Ende ist offen, der König wird den drohenden Aufstand niederschlagen müssen. Es wäre eigentlich logisch, dass Esterka jetzt mit den ihren nach Amsterdam fliehen würde, doch sie liebt den König und die beiden bitten die sterbende Fürstin Szamotulska um ihren Segen.

4.4. Die Aktualisierung des Themas und Universalisierung des Aussagegehalts

Auf diese Weise thematisiert Rappaport die historische Tatsache der massenhaften jüdischen Immigration nach Polen in der Zeit der Herrschaft Kasimirs des Großen (1333-1370), gibt ihr aber einen pessimistischen Ausklang. Seine Prämissen sind die Sachverhalte, wie er sie aus dem 19. Jahrhundert kannte. Im Drama erscheinen manche Anachronismen und manche als Prophezeiung verkleideten Worte über die Zukunft Polens nach Kasimirs Tod. So hat der Autor meines Erachtens sowohl bewusst als auch unbewusst das Geschehen aktualisiert und ihm durch einen größeren Rahmen der jüdischen Anwesenheit in Polen einen universellen Aussagegehalt verleihen wollen.

Im 1. Aufzug erzählt die Fürstin ihrem Schlosskaplan die Geschichte, wie die jüdische Familie Gawriels, die aus Regensburg vor Judenverfolgungen geflohen war, sich bereits durch das Lebensopfer ihres Sohnes, der Herrn Szamotulski bei einer Jagd vor einem wilden Tier rettete und selbst dabei umkam, das Recht erwarb, als ihresgleichen in ihrem Herrenhause zu wohnen und in Polen zu leben. Der Kaplan ist Ritter genug, um Hochachtung für diese Verdienste der Fremdlinge zu hegen. Er wundert sich nur, dass sie aus der deutschen Heimat verjagt wurden:

Und Deutschland wird als Muster uns gepriesen
Fremd bliebe noch solche Gräuel dem Polenland.

Darauf entgegnet die Fürstin prophetisch:

Gemach, ehrwürd´ger Herr! Ihm fehlt bis jetzt
Nur blos der Gegenstand [...](17)

Daraufhin erzählt sie, dass die Juden erst seit kurzem auf das Geheiß des Königs in Polen leben. Es wird von der Fürstin auch vom "hellen Strahl germanischer Cultur"(18) gesprochen, in dem die Ankömmlinge gebadet hätten. Da sieht man die Perspektivierung des 19. Jahrhunderts. Als Waclaw im 2. Aufzug von dem Anschlag hört, den ihm Hippolyt gegen den Juden aus Amsterdam befiehlt, mahnt er, dass dem König "ein gottleugnerischer Judenhals / Nicht weniger als eine Christenkehle" gelte(19). Im 3. Aufzug entgegnet die Mutter Esterkas, Deborah, auf die Behauptung der Fürstin, Kasimir habe ihnen eine neue Heimat gegeben, dass es lediglich der König war, nicht sein Volk, das den Geist des Rechts noch nicht erfasste (20).

Im 3. Aufzug sehen wir am genauesten die Vorurteile der Städter gegen die Juden. Als der König den Ersten Bürger fragt, warum er, der gerechte und bibelfeste Mensch, ein so grimmiger Feind der Juden sei, entgegnet ihm dieser: "Ich bin blos Patriot"(21), was freilich keine Kategorie des 14. Jahrhunderts ist. Auch ist es ein Anachronismus, als Kasimir die Juden einlädt, in der Judenstadt Kazimierz Wohnung zu nehmen(22), denn damals wohnten sie noch im Zentrum Krakaus, und in der neuen Stadt Kazimierz sollte ursprünglich die neu gegründete Universität ihren Sitz haben. Erst im Jahre 1495 wurde Kazimierz zur "Judenstadt"(23)

Im Einvernehmen mit dem Wissenstand der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prophezeit König Kazimierz, dass diese Judenstadt sich in der Zukunft vergrößern wird, bis die Ghettomauern fallen werden und bis ein aufgeklärter Herrscher kommt, der jegliches Vorurteil beseitigen wird. Damit könnte der habsburgische Kaiser gemeint sein, viel mehr scheint es jedoch eine Zukunftsutopie zu sein, denn zur Zeit des Verfassens des Textes sind zwar die Juden in der Habsburgermonarchie gleichberechtigt, aber die Vorurteile leben weiter. Schließlich hat der sterbende Hippolyt eine Vision, die sich auf Polen bezieht, die die Teilungen Polens voraussieht und als Ursache des Unglücks des Vaterlandes die innere Zwietracht nennt.(24) Das sind einige ausgewählte Beispiele der Aktualisierung des Stoffes. Wir sehen daraus, dass der Autor sich nicht mehr mit Polen identifiziert. Zwar hat er einige Sympathie für die einzelnen, hervorragenden Polen und die polnische Geschichte, und ganz besonders für König Kasimir den Großen, aber die jüdische Ansiedlung in Polen erscheint ihm nicht als unbedenklich, eher als aus mannigfaltigen Gründen gefährlich. Es bleibt dahingestellt, ob das edle Vorbild der Verbindung zwischen Esterka und Kazimierz ohne die Aufgabe der Religion eines der Partner jeweils in einem breiteren Maßstab in Polen praktiziert werden wird.

 

5. Fazit

Nach der Auskunft des "Handbuchs österreichischer Autoren und Autorinnen jüdischer Herkunft" übersiedelte Rappaport 1872 nach Wien, wo er 1880 starb. Auch das weist auf eine Enttäuschung seiner Hoffnung auf eine polnisch-jüdische Bruderschaft hin. Wenn wir seine Autorschaft der "Esterka" voraussetzen, ist ein deutlicher Bruch bzw. eine deutliche Evolution seines Selbstverständnisses von der polnisch-jüdischen zur jüdischen Identität festzustellen. Nichtsdestoweniger sieht man aus seiner Reaktion auf Kunasiewiczs Broschüre, die ja später als das Drama "Esterka" erschien, dass er der polnischen Kultur verpflichtet bleibt. Rappaport vertritt die Generation des Januaraufstandes, in der es noch möglich war, das Bekenntnis zur deutschen Kultur mit dem polnischen Nationalgefühl zu verbinden. Die Maskilim der nächsten Generationen identifizierten sich kaum, insofern sie deutsch schrieben, mit der polnischen Nationalität. Ein Beispiel dafür ist der im Vortrag von Janusz Golec behandelte Karl Emil Franzos. Solche Haltungen wie die doppelte Identität Rappaports gab es viele in der Zeit um den Januaraufstand, später bewirkte der anwachsende Antisemitismus, dass die deutschschreibenden jüdischen Schriftsteller jede Assimilation an eine andere nationale Gemeinschaft ablehnten. Kulturell stand ihnen allerdings die deutsche Kultur näher als die polnische - es gab aber viele polnischassimilierte und auch polnischakkulturierte Juden im Galizien der Verfassungsära, die sich als Dichter und Schriftsteller in der polnischen Sprache betätigten. Später setzte mit dem nach Galizien kommenden Zionismus ein modernes jüdisches Nationalbewusstsein ein, das zusammen mit dem sozialistischen Internationalismus die aufklärerischen bzw. romantischen polnischen und deutschen Identifizierungsmuster, nicht aber die Wirkung dieser Kulturen auf die galizischen Juden verdrängte. Das gleiche gilt für das Polen zwischen den beiden Weltkriegen, wo besonders viele Übersetzer deutscher Literatur jüdischer Herkunft waren, manche aber die polnische Literatur ins Deutsche übersetzten. Die jüdische Intelligenz war durch ihre Mehrsprachigkeit, Bildung, Belesenheit und ihre geistigen Interessen besonders dazu prädestiniert, zwischen der deutschen oder auch jüdischen Kultur und den Kulturen ihrer slawischen Heimatländer zu vermitteln.

© Maria Klanska (Kraków)


ANMERKUNGEN

(1) Biographische Tatsachen werden nach dem Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. v. der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. I: A-I, München 2002, S. 8378, angeführt.

(2) Zitiert nach: Majer Balaban, Dzieje Zydów w Galicyi i Rzeczypospolitej Krakowskiej (Geschichte der Juden in Galizien und in der Krakauer Republik) 1772 - 1868, Lwów o.J., Reprint 1988, S. 153.

(3) Stanislaw Kunasiewicz, Pogadanki o tlumaczach poetów polskich: I. Dr. M. Rappaport. Jego stanowisko w spoleczeñstwie ¿ydowskiem i kraju. 2. verm. Aufl., Lwów 1878, S. 45, Übers. ins Dt. - M.K.

(4) Beides angeführt im Original nach Kunasiewicz, wie Anm. 3, S. 58f. Fetter Druck - im Original gesperrt.

(5) Moritz Rappaport: Bajazzo. Ein Gedicht, Leipzig 1863, S. 46.

(6) Ebenda, S. 47.

(7) Ebenda, S. 92. Im Original gesperrt.

(8) Ebenda, S. 93.

(9) Moritz Rappaport bei Stanislaw Kunasiewicz, wie Anm. 3, S. XI; im dt. Original vom Verfasser angeführt.

(10) Vgl. Kunasiewicz, wie Anm. 3, S. 3.

(11) Vgl. Ebenda, S. 7.

(12) Vgl. Jan Dlugosz, Roczniki czyli Kroniki slawnego Królestwa Polskiego / Orig.: Joannis Dlugossi Annales seu cronicae inclitii Regi Poloniae, Liber nonus (IX. Buch), Warszawa 1985, S. 360.

(13) Vgl. Jerzy Wyrozumski, Kazimierz Wielki (Kasimir der Große), Wroclaw u.a. 1986, S. 212.

(14) Ich habe den polnischen Romanen von Aleksander F. Bronikowski, Kazimierz Wielki i Esterka. Powiesc historyczna z XIV wieku, Warszawa 1828, (deutsche Fassung: Kazimierz der Große, "Piast". Novelle von Alexander Bronikowski, Dresden 1826), Feliks Bernatowicz, Nalêcz, Lwów 1828 und dem objektivsten, dem von Józef Ignacy Kraszewski, Król Chlopów (Der Bauernkönig), Warszawa 1881 den Aufsatz u.d.T. Ester und Esterke. Über einige Fassungen des polnischen Esterke-Stoffes in der Erzählprosa des 19. Jahrhunderts gewidmet. In: Von Enoch bis Kafka. Festschrift für Karl E. Grözinger. Hrsg. v. Manfred Voigts, Wiesbaden 2002, S. 363-391. Eine hervorragende Darstellung der Geschichte des Stoffes in der polnischen und jiddischen Literatur ist die Monographie von Chone Shmeruk: The Esterke Story in Yiddish and Polish Literature, Jerusalem 1985.
Schließlich möchte ich auf die anmutige, auf Deutsch verfasste Erzählung von Leopold von Sacher-Masoch: Esterka. In: Polnische Judengeschichten, Prag 1895, hinweisen, die ich in der von mir herausgegebenen Anthologie: Jüdisches Städtebild Krakau, Frankfurt a. Main 1994, S. 47-55, abgedruckt habe.

(15) Vgl. Esterka. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Wien 1873, S. 60. Ich danke Anna Byczkiewicz von der Universität Lodz für das Zusenden der in Wien fertiggestellten Photokopien dieses Dramas.

(16) Vgl. ebenda, S. 108.

(17) Ebenda, S. 8.

(18) Vgl. ebenda, S. 9.

(19) Vgl. ebenda, S. 29.

(20) Vgl. ebenda, S. 33.

(21) Ebenda, S. 79.

(22) Vgl. ebenda, S. 109.

(23) Vgl. Majer Balaban, Historia Zydów w Krakowie i na Kazimierzu 1304-1868 (Geschichte der Juden in Krakau und Kazimierz), Kraków 1931, Bd. 1, S. 95f.

(24) Vgl. Esterka, wie Anm. 15, S. 130f.


3.5. Wechselbeziehungen zwischen der jüdischen, der slawischen und der deutschen Kultur

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For quotation purposes:
Maria Klanska (Kraków): Moritz Rappaport als Brückenbauer zwischen der deutschen, jüdischen und polnischen Kultur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_5/klanska15.htm

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