Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2005
 

3.7. In/visible communities at and across borders
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Axel Borsdorf und Vera Mayer (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Wenn Städte "geformter Geist" sind, wofür steht dann Postsuburbia? - Spurenlesen im ruralen Raum

Axel Borsdorf (Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien und Universität Innsbruck)
[BIO]

 

1. Von Urbs zu Postsuburbia

Seit Beginn des Industriezeitalters unterliegen europäische Städte einem bemerkenswerten Strukturwandel. Galt seit der Entstehung und der Einführung des Stadtrechtes die klare Scheidung von Stadt und Land im Sinne des Wahrspruchs "Bürger und Bauer scheidet die Mauer", fiel zunächst bereits mit der Bauernbefreiung die Rechtsgrenze, und mit der folgenden Bevölkerungsexplosion konnten dann auch die Städte über den sie einschnürenden Befestigungsring hinauswachsen.

Spätestens im 20. Jh. kam es dann zur Suburbanisierung, d.h. zur Entstehung von Wohnquartieren, die hinsichtlich vieler Grundfunktionen (Versorgung, Verwaltung, Arbeit, Freizeit etc.) vom Zentrum abhängig blieben. Funktionen, die die Kernstadt für ein weiteres Umland einschließlich des suburbanen Ringes anbietet, wurden nach Christaller (1933) als "zentrale Funktionen" bezeichnet, wobei "zentral" semantisch als "räumlich in der Mitte" und als "bedeutend" zu verstehen war. Die Bedeutung kann als "Reichweite" definiert werden: Je weitere Wege Konsumenten für ein Gut oder eine Dienstleistung in Kauf nehmen, desto ausgeprägter ist dessen Zentralität. Bereits im Jahrhundert der Suburbanisierung haben sich die Unterschiede zwischen Stadt und Land zunehmend verringert, an die Stelle der Stadt-Land-Dichotomie war das Stadt-Land-Kontinuum getreten. Die zunehmende Schwierigkeit der Festlegung von Grenzen in diesem Kontinuum spiegelt sich in den in allen Ländern Europas entwickelten, jedoch international nicht vergleichbaren Methoden zur Agglomerationsraumabgrenzung (Deutschland und Österreich: Stadtregion, Großbritannien: Conurbation, Frankreich: Agglomération etc.) wider.

Erst in den letzten Jahrzehnten scheinen aber ganz neue Strukturen zu entstehen. Manche ehe­mals suburbanen Quartiere "emanzipieren" sich, verlieren ihre Rolle als Ergänzungsräume des Zentrums und gewinnen selbst zentrale Funktionen. Darüber hinaus entstehen neue Knoten, oft orientiert an Einkaufszentren, Industrieparks, Büro-"Cities", Freizeitzentren, die ganz anders als "Suburbia" neben dem Wohnen weitere Funktionen anbieten. Funktionen, die häufig als "zentral" im Sinne von "bedeutend" klassifiziert werden können, räumlich aber nicht mehr zentral angeordnet sind.

Diese neuen Strukturen am Rande der Städte sind weder im traditionellen Sinn "urban" noch "suburban" und schon gar nicht "rural", obwohl sie Elemente aller dieser Raumkategorien aufweisen. Sieverts hat mit seinem Begriff "Zwischenstadt" versucht, diesem intermediären Charakter gerecht zu werden, andere haben die neuen Strukturen einfach als "outskirts" (Dubois-Taine 2004), als "Stadtland/Urbanscape" (Eisinger & Schneider 2003), als "Ville Emergente" (Piron & Dubois-Taine 1998) oder auch als "Postsuburbia" (Aring 2001; Priebs 2001; Borsdorf 2004) bezeichnet. Postsuburbia ist zunächst ein zeitlich definierter Begriff, "Raumstruktur nach der suburbanen Epoche", ihm sind jedoch auch Bedeutungsgehalte aus dem semantischen Feld der Postmoderne immanent. Er soll im Folgenden für das zu bewertende Phänomen verwendet werden.

 

2. Die These

Vor rund 70 Jahren hat Schwind (1932) die Physiognomie und die innere Gliederung von Städten als materielle Ausprägungen der Kultur interpretiert. Ihm zufolge sind sie Materialisierungen von Geisteshaltungen oder auch einfacher "geformter Geist". Da in ihnen Strukturelemente unterschiedlichen Alters vorhanden sind, spiegeln sie auch den Wandel von Geisteshaltungen und die Veränderungen, die eine Kultur insgesamt oder in ihren Teilelementen (Religion, Brauchtum, Wirtschaft, Politik etc.) durchgemacht hat, wider. Wilhelmy (1952) hat diese Erkenntnis zu dem Versuch animiert, eine solche Regionalkultur, nämlich die südamerikanische, auf der Grundlage ihrer Materialisierung in ihren Städten zu interpretieren. Er nannte sein Buch folgerichtig "Südamerika im Spiegel seiner Städte". Städte wurden von ihm als Spiegelbild einer Kultur in den unterschiedlichen nationalen Ausprägungen verstanden und interpretiert. Steger (1986) interpretierte in der Folge unter kulturanthropologischen Aspekten Städte und konnte zeigen, wie stark urbane Zeichen und Strukturen im Bewusstsein und Unterbewusstsein der Bürger verankert sind.

Einen systematischeren Ansatz lieferte schließlich Benoit (1978) mit seiner "Semiotik der gebauten Umwelt", in dem die Zeichen und Strukturen in eine Ordnung gebracht wurden. Seither wird zwischen der Syntax und der Semantik von Zeichen unterschieden, wobei die Bedeutung sehr unterschiedlichen Gehalt haben kann. Ein Kreis kann syntaktisch einzeln oder in einer Reihe (z.B. als Ornament) angeordnet sein. Dies hat per se noch keinen Bedeutungsgehalt, insbesondere, wenn die Form nur schmückende Funktionen besitzt. Aber jede Syntax kann eine Bedeutung haben, etwa als "semantische Form" (z.B. der Kreis als kompakteste Fläche, der Kreis in seinem Verhältnis zur Demokratie - etwa beim "runden Tisch", bei der "Runde" etc.), als Piktogramm (der Kreis mit zulaufenden Pfeilen als Zeichen für Treffpunkt, Info-Point, Zentrale), als Metapher (der Kreis mit Speichen als Rad) oder schließlich als Symbol (z.B. Yin-Yang-Symbolik).

In jüngster Zeit sind unter dem Einfluss postmoderner Gedanken neue Gedanken und Methoden zum "Spurenlesen" (Short 1996: 30; vgl. auch Wood 2003: 135 f.) im Raum entwickelt worden. Harvey (1985: XV) hat in diesem Zusammenhang auch die alte Erkenntnis von Schwind, Wilhelmy und Benoit unterstrichen, dass der Terminus "gebaute Umwelt" nicht wertneutral, sondern wert- und bedeutungsgeladen ist. Er hat insbesondere darauf hingewiesen, dass Formen und Strukturen im urbanen Raum weder neutral noch passiv sind. Sie wurden zu bestimmten Zeiten zu bestimmten Zwecken errichtet und beeinflussen bis heute Verhalten und Wertungen der Bewohner (vgl. auch Harvey 1999: 374 ff.).

Unter semiotischen Gesichtspunkten kann jede Form einen Bedeutungsgehalt aufweisen. In der Regel hat sie das auch, denn nichts ist wirklich zufällig. Jede Form sagt etwas aus, und daher kann eine sorgfältige Analyse von Formen und Strukturen - etwa in Städten - zu einem besseren Verständnis der diese Formen und Strukturen generierenden Geisteshaltungen führen. Mit den Zeichen verhält es sich aber ein wenig so wie mit dem Alphabet: Nur wer die Bedeutung des Zeichens weiß, kann es verstehen. In der Kultur- und Stadtlandschaft ist dies aber noch ein wenig komplizierter: Jedes Zeichen kann von jedem Individuum anders erkannt, wahrgenommen und gedeutet werden. Eine klare Anleitung, wie sie Schlüter oder Schüler noch mit der "Morphologie der Kulturlandschaft" (vgl. Geisler 1924) liefern wollte, kann es nicht geben.

Im Folgenden soll versucht werden, diesen Gedanken am Beispiel der "gebauten Umwelt" in Europa zu verfolgen. Dabei soll auch getestet werden, inwieweit die genannte - hermeneutische - Methode in der Lage ist, zum Verständnis jüngerer Entwicklungsprozesse beizutragen.

 

3. Beispiele semiotischer Analyse und Interpretation

In früheren Arbeiten wurde versucht, symbolische Elemente in europäischen und lateinamerikanischen Städten zu identifizieren und zu interpretieren. Von H.-A. Steger (1986) stammt das Beispiel der Ile de la Cité in Paris, auf der sich Notre Dame als Materialisierung der hochzentralisierten katholischen Kirche und der Palais de la Justice als Symbol der Ideale der Französischen Revolution befinden. Wie ein Ei, vom Fruchtwasser der Seine umflossen und das ganze Land immer wieder befruchtend, so führt Steger aus, fokussiere sich die französische Kultur nicht nur auf Paris, sondern innerhalb der Hauptstadt auf diesen Kristallisationspunkt. Die Struktur vieler mitteleuropäischer Städte gleicht der von Tübingen, das in einem anderen Beitrag als Beispiel herangezogen wurde (hierzu und im Folgenden: Borsdorf 1989). Im Spannungsfeld der beiden Pole der Altstadt, dem Schloss als Sitz der weltlichen Gewalt und der Stiftskirche als Sitz der geistlichen Autorität, konnte sich das Bürgertum etablieren, an Macht, Wirtschaftskraft und Einfluss gewinnen und Marktplatz und Rathaus zum Zentrum der Stadt machen.

Abbildung 1: Westberlin (links) und Ostberlin (rechts) im Vergleich
Quelle: CVK Schroedel geographische Verlagsanstalt 1984.

Berlin repräsentiert wie keine andere europäische Stadt den Einfluss von Geisteshaltung und Ideologie auf die Stadtgestalt. Zur Zeit der Teilung entstand im Westen ein neues Zentrum im Bereich Tauentzienstraße/Kurfürstendamm, gekennzeichnet durch Funktionsvielfalt und Kleinkammerung. Ganz anders der Osten: Das traditionelle Stadtzentrum wurde ausgeräumt, Handel und private Dienstleistungen verschwanden, stattdessen rückten staatliche Verwaltungsfunktionen nach. Eine breite Achse zwischen Marx-Engels- und Alexanderplatz diente dem Staat für die Selbstdarstellung. Im Westen sorgte das Privateigentum am Boden für Kleinkammerung, im Osten gestattete das Gesellschaftseigentum am Boden großzügige Planungen. Dort wurde gebaute Umwelt auch ganz bewusst zur Initiierung und Steuerung des Bewusstseins (im Sinne des "sozialistischen Menschen") eingesetzt.

Ähnliche Beispiele kennen wir auch aus Lateinamerika. Zur Inkazeit war der Umriss von Cuzco als liegender Puma mit der Bergfestung Sacsayhuaman als hoch erhobener Kopf ausgeprägt. Zwischen den Vorder- und Hinterläufen befand sich ein einseitig offener Platz, der die Verbindung zu den vier Provinzen des Reiches herstellte. Die Symbolkraft wirkt bis in die Gegenwart nach, denn noch heute kann man von einem Cuzqueño, nach der Wohnadresse gefragt, hören: "Vivo en las tipas!" ("Ich lebe in den Eingeweiden [des Pumas]!"). Brasilia, die Hauptstadt Brasiliens, wurde als Flugzeug ausgelegt, welches das Land in eine neue Zukunft fliegen sollte. Im Cockpit die drei Gewalten, unter den Tragflächen (wo sich im Flugzeug die Treibstofftanks befinden) die Bevölkerung als Treibstoff des neuen Brasiliens. Gebaute Umwelt, das wird an diesen Beispielen offensichtlich, kann sowohl Materialisation von Kultur sein (Paris, Tübingen, West-Berlin), aber auch bewusst zur Erzielung eines bestimmten Bewusstseins oder einer Geisteshaltung eingesetzt werden (Ost-Berlin, Cuzco, Brasilia).

 

4. Semiotische Elemente in Postsuburbia

Frankhauser (2003) sowie Schumacher & Koch (2004) haben darauf hingewiesen, dass sich nicht nur am Rand europäischer Städte, sondern auch im weiteren Umland fraktale Strukturen finden. Das Resultat ist eine Struktur von "urban perforations" (ebenda: 54), die, als Fraktale ausgebildet, als Beleg für die Evidenz und Bedeutung "chaotischer" Entwicklungen in der Postmoderne gelten kann. Die Siedlungsränder und -umfelder sind daher logische Materialisationen der postmodernen Geisteshaltung, in denen sich Elemente der Chaostheorie, der Beliebigkeit, der Informalität und der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", beispielsweise bei der Umsetzung sehr unterschiedlicher Lebensstile im Laufe eines Tages oder einer Woche, widerspiegeln.

Abbildung 2: Fraktale Siedlungsstruktur der Schweiz
Quelle: Eisinger & Schneider 2003.

Weitere sinngebende Elemente der gegenwärtigen Raumstruktur in Urbs und Postsuburbia sind Bänder ("ribbons"), Clones und Ufos. Bänder verbinden die Elemente der chaotischen Struktur, in der sich geklonte, immer wiederkehrende Elemente wiederfinden: Wohnquartiere aus Ein- und Mehrfamilienhäusern oder Industrieviertel, deren Uniformität in einem merkwürdigen Gegensatz zum ausgesprochenen Wunsch nach Individualisierung steht. Schumacher & Koch (2004: 57) bezeichnen die Clones als "Prairie der Wünsche", in der die Bewohner in radikalster Form zum Ausdruck bringen, wie sie leben wollen, ohne die tatsächliche Homogenität und Langeweile dieser Wünsche zu erkennen. Erker, Wintergarten, britischer Rasen und Koreatanne - in jüngster Zeit auch Pultdach und Schwimmteich - sind Symbole dieser Unfähigkeit, einen eigenen Stil jenseits der Moden zu kreieren. Clones kennzeichneten auch schon die Suburbia - die fast unerträgliche Wiederholung des Trivialen ist nichts Neues in den Städten der Moderne. Mehr als ihre pure Existenz ist die Tatsache überraschend, dass sich die Wende von der Spät- zur Postmoderne nicht in markanterer Weise im Raum materialisiert hat. Das hat sie aber, nur nicht im Bereich des Wohnbaus, für den mit Mitscherlich (1968) immer noch das Wort von der "Unwirtlichkeit der Städte" gelten kann.

Ein wirklich neues und für das Neue auch symbolhaftes Element postsuburbaner Raumstrukturen sind jene Einheiten, die ohne Rücksicht auf ihre Umwelt in ihrer schieren Größe und ihrer solitären Form in nahezu präpotenter Weise auf sich aufmerksam machen, die aber keine wirkliche räumliche Verankerung aufweisen. Sie könnten sich ebenso gut an anderer Stelle der Stadt befinden, dort "gelandet" sein. Wenn diese Metapher ausgebaut wird, sind solche Einheiten auch als "Ufo" zu bezeichnen, als "unidentifizierte Flugobjekte", die von irgendwoher kommend für eine Zeit irgendwo gelandet sind. Solche Ufos sind die Einkaufstempel neuer Art (Malls), die Bürohochhaustürme großer Unternehmen (z.B. Palmers im Süden von Wien), die per Einfahrtstor bewachten Business- und Technologieparks und viele andere. Wie bei Ufos kann ihre Verweildauer durchaus kurz sein. Im Falle der Malls wird bereits bei der Planung die Lebensdauer berechnet, selten beträgt diese mehr als 20 Jahre. Ufos sind aber durchaus "landmarks" im Raumgefüge und in aller Regel stehen sie mit ihren Funktionen (Versorgung, Konsum, Verwaltung, Unternehmensleitung) mit dem traditionellen Stadtzentrum im Wettbewerb.

Zwei Beispiele mögen die in diesen Ufos verwendete Zeichensprache zu deuten. Die westlich von Innsbruck lokalisierte Mall "Cyta" sendet bereits mit ihrem Namen das Signal aus, dass hier eine neue "City" entstanden ist. Die Nähe zu griechisch "cyta", italienisch "cittá", französisch "cité", spanisch "ciudad" ist durchaus gewollt: Cyta präsentiert sich selbstbewusst als Alternative oder neue Spielart des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadtzentrums: Attraktive Geschäfte, schöne Schaufenster, gute Restaurants, breite Straßen zum Flanieren, aber auch Dienstleistungen (Post, Friseur, Bank) - alle Funktionen, die bislang und nach Christaller (1933) als "zentral" galten, sind in der Cyta in weiter Ferne vom alten Stadtzentrum angeordnet. In der alten Stadt war der Marktplatz das Zentrum. In der Cyta wird dieser durch einen runden, Ufo-artig von einer Glaskuppel überdeckten Platz ersetzt, der, von drei Stockwerken amphitheaterähnlich einsehbar, für allerhand Spektakel dient: Modeschauen, Miss-Wahlen, Karaoke-Wettbewerbe, aber auch mal ein Handwerker- oder Künstlermarkt und ähnliche "events" lösen einander ab und locken Konsumenten an.

Noch deutlicher wird der semiotische Gehalt der Formensprache in dem südlich von Madrid angelegten Einkaufstempel "Madrid Xanadú". Mit 184.000 m² Fläche, davon 135.000 m² "general leased area", ist er fast viermal größer als die Cyta. Den Besuchern stehen neben 220 Ladengeschäften 15 Kinos und 30 Restaurants offen, darüber hinaus bietet Xanadú eine Indoor-Go-Cart-Arena, ein High-Tech-Bowling-Centre und eine 240 m lange und 100 m breite Skipiste unter Dach, ganzjährig künstlich klimatisiert und beschneit.

Abbildung 3: Einkaufstempel "Madrid Xanadú"
Quelle: Werbeprospekt Xanadú 2004

Xanadú steht vielleicht am eindrucksvollsten für die postmoderne Ablösung des alten, modernen und sehr rationalen Versorgungsverhaltens mit seiner Kosten- und Zeitoptimierung durch das postmoderne Konsumverhalten, bei dem Kosten und Zeit an Bedeutung verlieren, der Erlebnischarakter betont wird und vieles bereits am Angebotsort konsumiert wird, vor allem aber Zeit.

Mit welchen Formen spricht Xanadú die Konsumenten an? Zunächst fallen die sechs Eingangstore auf. Die ganze Anlage ist wie eine mittelalterliche Stadt geschlossen.Die auf zwei Ebenen versetzten Eingänge (drei auf der oberen, drei auf der unteren Ebene der in einen künstlichen Hang gebetteten Anlage) sind mit Turmtorsen versehen und haben große, über dem eigentlichen Tor angebrachte Schilder, die an die Falltore des Mittelalters erinnern, aber mit ihrem postmodernen Design so verfremdet sind, dass sie "fancy" wirken, zugleich aber den Assoziationsmechanismus mit "Stadt" im traditionellen Sinn nicht verlieren. Die Brücke zur Postmoderne schlägt das ovale und transparente Kuppeldach über dem Unterhaltungsbereich, das an ein Ufo erinnert. Wie eine Startrampe für das Riesenraumschiff ist dann die Skiarena angeordnet. Im Innern fühlt man sich in einen Stadtpark versetzt, bis man bemerkt, dass der ganze Wald mit seinen Riesenbäumen und alle Pflanzen aus Plastik bestehen. Sie wurden in den USA eigens für diese Mall angefertigt.

Es ist eine komplett künstliche Welt, auf die sich der Besucher einlässt, und in gewisser Weise bleiben auch die Erlebnisse virtuell: das Walderlebnis, das Bergerlebnis am Skihang und das Stadterlebnis intra mures. Nur das dort ausgegebene Geld und die verbrachte Zeit bleiben Realität.

 

5. Wenn Städte geformter Geist sind, wofür steht dann "Postsuburbia"?

Am Ende dieses Essays bleibt die Ausgangsfrage offen. Postsuburbia ist etwas Neues und es bedeutet den Bruch mit traditionellen Raumstrukturen, sowohl des Städtischen als auch des Ruralen. Es ist auch ein Ergebnis der tiefgreifenden sozioökonomischen Veränderungen am Ende des Transformationsprozesses einer Industriegesellschaft in eine Freizeit- und Dienstleistungsgesellschaft, der Überführung fordistischer in postfordistische Produktionsweisen, des Wandels von der Moderne zur Postmoderne.

Es erscheint im ersten Moment überraschend, dass diese Postmoderne in der ihr wesensverwandten Raumstruktur der Zwischenstadt, des urban-scape oder der Postsuburbia keine wirklich neuen Zeichen verwendet. Stattdessen verwendet sie die Zeichen und Symbole des Mittelalters, der Neuzeit und der Moderne, stellt diese aber in einen ungewohnten Kontext, verfremdet ihre Formen, sorgfältig darauf bedacht, die Verfremdung nicht zu weit zu treiben, und stellt sie eklektizistisch und historisch wie räumlich völlig unpräzis und willkürlich zusammen. Dass Skifahren ursprünglich ein Freizeitvergnügen war, das nur in den stadtfernen Hochgebirgen ausgeübt werden konnte, hindert Postsuburbia nicht daran, Kunstschnee-Skiarenen mit hochrangig zentralen städtischen Funktionen unter einem Dach zu verbinden. Stadttore, Stadttürme, Mauern, Wälder und Vogelzwitschern verbinden Urbanität mit arkadischer Idylle.

Ist unserer Zeit der Geist abhanden gekommen, die Kreativität oder auch nur der Geschmack? Der Erbauer des ersten Hochhauses in Lateinamerika, des Palacio Salvo in Montevideo stürzte sich vom obersten Stockwerk des soeben vollendeten Wolkenkratzers in die Tiefe, als er erkannte, was da seiner architektonischen Phantasie entsprungen war (Wilhelmy & Borsdorf 1984: 140). Diese Sensibilität lassen heutige Architekten leider zumeist vermissen.

© Axel Borsdorf (Wien/Innsbruck)


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3.7. In/visible communities at and across borders

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For quotation purposes:
Axel Borsdorf (Wien/Innsbruck): Wenn Städte "geformter Geist" sind, wofür steht dann Postsuburbia? - Spurenlesen im ruralen Raum. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_7/borsdorf15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 23.9.2005    INST