Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juli 2004
 

3.7. In/visible communities at and across borders
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Axel Borsdorf und Vera Mayer (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Aktuelle Tendenzen der Dezentralisierung von Kultureinrichtungen in Wien und Paris

Walter Rohn (Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften)
[BIO]

 

1 Einleitung

Der Einsatz von Kulturprojekten als Katalysatoren für die Stadtentwicklung repräsentiert bereits eine weit verbreitete Strategie. Im Rahmen dieser Strategie werden Kulturprojekte als Werkzeuge für die bauliche, räumliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung von Städten eingesetzt. Rezente Konzeptionen dieses Ansatzes sind u.a. "cultural flagship projects" (Bianchini 1993: 5), "cultural upgrading policy" (Seo 2002: 114), "culture-orientated approaches to urban revitalization" (Griffiths 1995: 255) oder "entertainment-led regeneration" (McCarthy 2002: 105).

Kulturelle Strategien der Stadtentwicklung können sowohl auf gesamtstädtischer wie auf lokaler Ebene (Bezirke, Stadtteile usw.) implementiert werden. Auf der gesamtstädtischen Ebene dienen groß dimensionierte Kulturprojekte im Kontext des Städtewettbewerbs primär der Schaffung von neuen und attraktiven Images für Städte. Beispiele sind hier etwa die "grands travaux" der Mitterrand-Ära in Paris, das Guggenheim Museum in Bilbao, Tate Modern in London oder die Präsentation von Graz als Europäische Kulturhauptstadt 2003.

Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Kulturinitiativen auf der lokalen Ebene. Diese Projekte zielen primär auf die Aufwertung peripherer oder anderer benachteiligter Stadtviertel ab. Anzumerken ist hier, dass die Grenzen zwischen Projekten auf der gesamtstädtischen und solchen auf der lokalen Ebene gelegentlich verschwimmen. Zu den möglichen positiven Auswirkungen von lokalen Kulturprojekten zählen u.a. die Förderung der kulturellen Autonomie von Stadtvierteln, die Demokratisierung von Kultur, die Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und die Herausbildung einer stärkeren Identität von Stadtteilen.

Zu Beginn sind hier zwei Begriffe abzugrenzen: Der Terminus Kultur wird u. a. in philosophischen, anthropologischen, linguistischen, ästhetischen oder historischen Kontexten verwendet. Aus den vielen angebotenen Definitionen von Kultur wird hier die von Marshall Salins (University of Chicago) im Jahr 1995 unterbreitete Festlegung herausgegriffen. Salins definiert Kultur in prägnanter Weise als "total and distinctive way of life of a people or society" (INST 2003). Die zweite Abgrenzung bezieht sich auf die neuen Kulturinitiativen in den Randbezirken. Unter diesen werden die seit etwa Mitte der 1990er Jahre etablierten Veranstaltungsorte und Festivals für Musik, Theater, Kabarett, Lesungen, Ausstellungen, Installationen, Performances, Medienkunst, elektronische Kunst und Film in den Randgebieten verstanden.

Die Auswirkungen neuer Kulturprojekte auf die Entwicklung von peripheren Gebieten in europäischen Kernstädten werden derzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts am Institut für Stadt- und Regionalforschung der ÖAW untersucht. Im Folgenden werden am Beispiel von Wien und Paris erste Ergebnisse aus diesem Forschungsprojekt vorgestellt.

 

2 Fallstudie Wien

Bis zu den frühen 1990er Jahren litten die Wiener Außenbezirke - die Bezirke 10 bis 23 - in Bezug auf die kulturelle Infrastruktur unter einer starken Unterversorgung. Etwa zur Mitte der 1990er Jahre setzte in den Wiener Randbezirken ein Boom neuer Kultureinrichtungen ein. Eine Fülle neuer Einrichtungen, in erster Linie für darstellende und bildende Kunst sowie Film, wurde gegründet. Das Gloria Theater, das Orpheum, das frühere Kabelwerk und das Theater des Augenblicks präsentieren Theater- und Kabarettprogramme (vgl. Karte 1). Der Jazzclub Davis, die Bank-Austria-Halle, die Sargfabrik, das Cafe Concerto und das Vorstadt sind primär Orte für Musikdarbietungen. Das Kulturkabinett, die jährliche Kunstmesse Soho in Ottakring, "Das Projekt" und der Aktionsradius Augarten präsentieren verschiedene Kunstrichtungen, die Galerie Art und Weise zeigt Malerei und Fotografie. Dazu kommen mehrere Multiplexkinos und die Filmvorführungen auf dem Areal von Schloss Neugebäude.

Karte 1: Neue Kulturinitiativen in den Wiener Außenbezirken (mit regulärem Programmangebot)

Quelle: Eigener Entwurf auf Basis von Programmankündigungen in Falter, Die Presse, Kurier sowie verschiedenen Internetressourcen.

Die neuen Kultureinrichtungen in den Wiener Außenbezirken unterscheiden sich nicht nur in Hinblick auf ihr Kulturprogramm, sondern auch in Bezug auf ihre Größe und Finanzierungsform voneinander. Während das Gloria Theater, die Bank-Austria-Halle und die Multiplexkinos ein zahlenmäßig größeres Publikum anziehen, bieten beispielsweise das Kulturkabinett, Davis, Vorstadt oder Art und Weise Veranstaltungen in kleinerem Rahmen an. Hinsichtlich der Finanzierung der Projekte ist zwischen Einrichtungen mit einem hohen Ausmaß öffentlicher Unterstützung (Gloria Theater, "Das Projekt"), Initiativen mit einer öffentlich-privaten Finanzierung (Soho in Ottakring), in ehrenamtlicher Weise betriebenen Einrichtungen (Art und Weise, Aktionsradius Augarten) und den rein kommerziellen Multiplex-Kinos zu unterscheiden. Wie die Karte 1 zeigt, sind im 16. und im 21. Bezirk bereits Cluster an neuen Kultureinrichtungen entstanden.

Die Kunstmesse Soho in Ottakring wurde im Jahr 1999 von Ula Schneider ins Leben gerufen. Die Veranstaltung findet jeweils Ende Mai, Anfang Juni im Brunnenviertel im 16. Bezirk statt. Das in der Nähe des Gürtels gelegene Brunnenviertel sowie generell die östlichen Teile des 16. Bezirks sind Gebiete mit einer teilweise schlechten Bausubstanz und einem hohen Ausländeranteil an der Bevölkerung. In den frühen 1990er Jahren wählten junge Künstler das multikulturelle Brunnenviertel wegen der vergleichsweise niedrigeren Mieten und Immobilienpreise als ihr Wohn- und Arbeitsgebiet.

Ula Schneider zitiert im Interview Entwicklungen im New Yorker SoHo als ihren Bezugspunkt. Das wichtigste Motiv für die Ansiedelung von Soho im Gebiet des Brunnenmarkts sei gewesen, "etwas im eigenen Viertel zu tun" (Interview mit Ula Schneider, 28. 5. 2001). Die grundlegende Idee von Soho war es, Kunstausstellungen und Events in leer stehenden und genutzten Geschäftslokalen zu präsentieren. Weitere Kunstprojekte finden in den Straßen oder auf dem Yppenplatz, dem zentralen Platz des Brunnenviertels, statt. Mit der Schaffung von Ausstellungsräumen für junge Künstler leitet Soho auch Stadterneuerungsprozesse im Brunnenviertel ein. Zusätzlich zu staatlicher und kommunaler Finanzierung wird das Kunstfestival auch von der Wiener Wirtschaftskammer unterstützt. Querverbindungen von Soho bestehen zur IG Bildende Kunst in der Gumpendorfer Straße und zur "wienstation" am Lerchenfelder Gürtel (Interview mit Schneider).

Das künstlerische Programm von Soho in Ottakring basiert v.a. auf der Präsentation von Malerei, Objektkunst, Installationen, Performances, Fotografie, Film, Video und Medienkunst, elektronischer Kunst, Lesungen und Musik (Schneider 2003). In den vergangenen Jahren ist Soho in Ottakring zum kulturellen "flagship project" des 16. Bezirks geworden. Auf Basis der lebendigen Szene von Künstlern und Kulturprojekten hat die Bezirksvertretung das Label "Ottakring Kultur" gegründet und unternimmt Versuche, das Areal als Kulturbezirk zu vermarkten (Art Position 2003).

Im Frühjahr 2003 wurde vom Autor eine Befragung der Besucher von Soho in Ottakring durchgeführt, aus der hier - in der gebotenen Kürze - einige wichtige Ergebnisse zusammengefasst werden. Im Rahmen der Publikumsbefragung konnten 128 verwertbare Fragebögen gesammelt werden. Die Auswertung dieser Befragung zeigt, dass das Publikum der Kunstmesse relativ jung ist. 40% der Besucher sind jünger als 30 Jahre und weitere 39% zwischen 30 und 40 Jahre alt. Das Publikum von Soho ist weiters als sehr gebildet einzustufen. 48% der Befragten besitzen einen Fachhochschul- oder Universitätsabschluss (alle Ergebnisse: Befragung Soho 2003).

Eine der primären Fragestellungen betraf den Einzugsbereich der Besucher von Kulturveranstaltungen in den Randbezirken. In Bezug auf Soho in Ottakring lautet die Frage, ob das Festival einen Teil der lokalen kulturellen Infrastruktur repräsentiert oder ob die Besucher - im Zuge eines "kulturellen Binnentourismus" - aus ganz Wien kommen. Für die Besucher von Soho kann die Frage eindeutig beantwortet werden: Lediglich 13% des Soho-Publikums leben im 16. Bezirk. Weitere 14% der Besucher stammen aus den angrenzenden Außen- und 18% aus den benachbarten Innenbezirken. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Soho-Besucher (55%) in weiter entfernten Stadtteilen wohnt.

Interessante Antworten ergab auch die Frage nach den kulturellen Aktionsräumen der Soho-Besucher. Aufgrund der noch immer ungenügend ausgebauten kulturellen Infrastruktur der Wiener Randbezirke frequentieren 86% der Befragten primär Kulturveranstaltungen in den besser ausgestatteten Innenbezirken. Besucher aus den Wiener Außenbezirken nehmen jedoch häufiger an Kultur-Events in peripheren Stadtteilen teil als jene aus den Innenbezirken. Während die Besucher der Kunstmesse größtenteils mit dem Programmangebot von Soho zufrieden sind, zeigen sich diese überwiegend unzufrieden mit dem generellen Kulturangebot in den Außenbezirken.

Weiters wurden die Soho-Besucher hinsichtlich ihrer Position zu den möglichen Auswirkungen von Kulturprojekten auf die Entwicklung der Randbezirke befragt. Die erste dieser Fragen bezog sich auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Randbezirken. Insgesamt 97% der Besucher stuften den diesbezüglichen Beitrag von Kultureinrichtungen als sehr bedeutend bzw. bedeutend ein. Etwas weniger optimistisch ist die Einschätzung der Besucher in Hinblick auf die Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Während insgesamt 91% der Befragten den Beitrag von Kultureinrichtungen zur Integration für sehr bedeutend bzw. bedeutend halten, ist hier im Vergleich zu der vorangegangenen Frage ein höherer Anteil von Antworten der Kategorie "bedeutend" zu verzeichnen.

Im Jahr 2004 hat das Team um Ula Schneider unter dem Titel "living room-soho" einen Relaunch des Festivals gestartet. Das Konzept für 2004/05 sieht für das erste Jahr einen "interdisziplinären, zweiwöchigen Diskursraum im 82living room-soho'" und für das zweite Jahr "eine öffentliche Präsentationszeit von Ausstellungen und Projekten als Ergebnis der Auseinandersetzungen im 82living room-soho'" vor (Verein Soho in Ottakring 2004).

 

3 Fallstudie Paris

Die Dezentralisierung von wichtigen Kultureinrichtungen hat in Paris bereits in den späten 1980er Jahren begonnen. Im Zuge der "grands travaux" wurden die neue Pariser Oper an der place de la Bastille im Südosten (12. Bezirk) und das "Musée des Sciences et de l'Industrie" im Nordosten (19. Bezirk) der französischen Metropole angesiedelt. Rezente Beispiele dieser Standortpolitik sind die neue Nationalbibliothek im Südosten (13. Bezirk) sowie die "Cité de la Musique" und die "Grande Halle de la Villette", die beide in unmittelbarer Nähe des Wissenschaftsmuseums situiert sind. Trotz dieser Anstrengungen verfügen die Pariser Innenbezirke noch immer über ein viel dichteres Netz an Kultureinrichtungen als die am Stadtrand gelegenen Arrondissements.

Aufgrund seiner strukturellen Defizite wurde der 20. Bezirk (Ménilmontand) im Osten von Paris als Untersuchungsgebiet für eine Fallstudie ausgewählt (vgl. Karte 2). Die Forschungsarbeiten für die Fallstudie, im Rahmen derer drei Kultureinrichtungen des Bezirks im Detail vorgestellt werden, wurden im September 2002 durchgeführt.

Die im Vergleich zu den Pariser Zentrumsbezirken rudimentäre, gegenüber den Wiener Randbezirken allerdings gut ausgebaute kulturelle Infrastruktur des 20. Pariser Stadtbezirks setzt sich u.a. aus folgenden Einrichtungen zusammen. Das "Théâtre National de la Colline" ist eines der bekanntesten französischen Staatstheater. Weiters beherbergt das 20. Arrondissement mehrere mittlere und kleine Theater wie das "Théâtre de l'Est Parisien" (siehe Detailpräsentation), das "Vingtiéme Théâtre", die "Comédie de la Passarelle" und das "Théâtre de Ménilmontand". Das "Flêche d'Or" (s. u.) und Cafés wie "Lou Pascalou" oder "Oh 20e" sind Häuser für Livemusik. "Confluences - Maison des Arts Urbains" und die "Maroquinerie" (s. u.) präsentieren verschiedene Kunstgattungen. Das zur gleichnamigen Kinokette gehörende "MK2 Gambetta" ist das einzige Kino des Bezirks.

Karte 2: Untersuchungsgebiet und administrative Gliederung der Stadt Paris

Quelle: Eigener Entwurf auf Basis von Michelin 1994.

"La Maroquinerie - Café Littéraire" in der rue Boyer 23 ist eine kleine, private, im Jahr 1998 gegründete Kulturinitiative mit einem hervorragenden künstlerischen Programm aus den Sparten Theater, Literatur und Musik. Die Ansiedelung ihrer Einrichtung in einem der Randbezirke von Paris war von Anfang an die Absicht der Gründer der "Maroquinerie" (Interview mit Vizedirektorin Patricia Pailleaud, 13. 9. 2002). Die "Maroquinerie" befindet sich auf historischem Boden. Von 1877 bis 1939 war die rue Boyer einer der Standorte der Arbeiterkooperative "La Bellevilloise", die der Bevölkerung im 19. und 20. Bezirk diente und auch selbst Kulturveranstaltungen anbot (Meusy 2001). Eine später an diesem Ort angesiedelte Lederwarenfabrik gab der "Maroquinerie" schließlich ihren Namen.

In Ergänzung zu den Theaterproduktionen, Lesungen und Musikdarbietungen (Folk, World, Jazz usw.) veranstaltet die "Maroquinerie" auch Diskussionen mit Künstlern und stellt literarische Zeitschriften sowie Forschungsarbeiten vor. Mit der Großen Halle, die etwa 150 Zuschauern Platz bietet, und dem literarischen Café für etwa 65 Besucher verfügt die Einrichtung über zwei Veranstaltungsräume. Etwa die Hälfte der Besucher stammt aus dem Stadtviertel bzw. Bezirk. Die Finanzierung der Kultureinrichtung basiert fast ausschließlich auf privaten Quellen, d.h. den Ticketverkäufen und den Erlösen des angeschlossenen Restaurants und der Kaffeebar. Das Programm der "Maroquinerie" wird v.a. über Flyer, Plakate und Ankündigungen in Programmzeitschriften, wie Pariscope oder Zurb@n, beworben. Seit 2003 verfügt die "Maroquinerie" auch über eine eigene Website (http://www.lamaroquinerie.fr/).

Im Zuge der Übernahme des Managements der "Maroquinerie" durch Asterios Productions im Jahr 2003 erfuhr das Programmangebot der Einrichtung eine Kommerzialisierung und inhaltliche Glättung. Frühere emanzipatorische Elemente wie politische Diskussionen oder die Präsentation politischer Zeitschriften wurden eliminiert. Dieses "streamlining" des Programms spiegelt die im Osten von Paris vonstatten gehenden Gentrifizierungsprozesse wider.

Das Musiklokal "Flêche d'Or" in der rue de Bagnolet 102 ist in der "Gare de Charonne", einem Bahnhof der früheren Ringbahn "Petite Ceinture" angesiedelt. In den frühen 1990er Jahren beteiligten sich einige Künstler an den Hausbesetzungen im Charonne-Viertel des 20. Bezirks und erfuhren auf diese Weise von dem leer stehenden Bahnhof. Die Künstler trafen eine Vereinbarung mit den französischen Staatsbahnen, adaptierten das Gebäude für ihre Zwecke und eröffneten das "Flêche d'Or" im Jahr 1995. Zur Entstehung der Einrichtung hält da Rocha, einer der Gründer der Einrichtung, fest, dass "es der Ort war, der die Betreiber ausgewählt hat" (Interview mit Manuel da Rocha, 13. 9. 2002).

Die Einnahmen des "Flêche d'Or" stammen großteils aus der an die Einrichtung angeschlossenen Gastronomie (Bar, Restaurant). Die niedrigen Eintrittspreise tragen nur zu einem geringen Teil zur Finanzierung der Einrichtung bei. Aufgrund der starken lokalen Verankerung des "Flêche d'Or" kommt ein beträchtlicher Teil der Besucher aus dem Charonne-Viertel oder den benachbarten Gemeinden jenseits des Boulevard Périphérique (Interview mit da Rocha).

Ebenso wie jenes der "Maroquinerie" wurde auch das Programm des "Flêche d'Or" im Jahr 2003 einer starken Veränderung unterworfen. Das Veranstaltungsprogramm wurde auf Musikdarbietungen aus den Genres französischer Folk, Reggae, Rock, HipHop, Jazz und elektronische Musik fokussiert. Frühere partizipatorische Programmelemente wie eine offene Bühne für Amateurmusiker, die Beteiligung an dem lokalen TV-Programm "Télé Bocal" sowie politische Debatten mit Vertretern von Le Monde diplomatique, Attac usw. fielen dem "streamlining" zum Opfer. Das aktuelle Programmangebot des Musiklokals ist unter http://www.flechedor.com/ einzusehen.

Im Gegensatz zu den beiden zuvor dargestellten Einrichtungen repräsentiert das "Théâtre de l'Est Parisien" (TEP) eine der ältesten Kultureinrichtungen des 20. Bezirks. Das TEP wurde im Jahr 1963 im Gebäude eines früheren Kinos in der rue Malte-Brun 13-17 gegründet. 1984 übersiedelte das "Théâtre de l'Est Parisien" an seinen gegenwärtigen Standort in der avenue Gambetta 159. Mitte der 1980er Jahre wurde am früheren Standort des TEP das bereits angesprochene "Théâtre National de la Colline" etabliert (Interview mit Vizedirektor Claude Juin, 19. 9. 2002). Guy Rétoré, der Gründer des TEP, wurde im 20. Arrondissement geboren. Deshalb war es Rétorés Intention, sein "populäres Theater" bzw. Nachbarschaftstheater in seinem Heimatbezirk anzusiedeln (Denizot 1999).

Das Theater in der avenue Gambetta verfügt über 400 Sitzplätze, die durchschnittliche Auslastung liegt bei 50%. Durch die staatliche Basisfinanzierung ist das TEP in der Lage, verbilligte Abonnements und Tickets anzubieten. Das "Théâtre de l'Est Parisien" versucht, einen engen Kontakt zu den Menschen im "quartier" zu halten und veranstaltet seine "spectacles-baladeurs" an den Arbeitsstätten, in Bibliotheken und in Schulen. Das TEP veranstaltet u.a. auch Workshops für Schauspieler und Autoren sowie Lesungen (Interview mit Juin). Die Aufführungen und Veranstaltungen des "Théâtre de l'Est Parisien" werden durch Plakate, das TEP-Jahresprogramm, Ankündigungen in Stadtzeitungen sowie über die 2003 eingerichtete Website http://www.theatre-estparisien.net/ beworben.

 

4 Schlussfolgerungen

In den Abschnitten 2 und 3 wurden neue Kulturinitiativen und rezente Trends in den Randzonen von Wien und Paris vorgestellt. Wie bereits festgehalten, begann die Dezentralisierung von großen Kultureinrichtungen in Paris schon in den späten 1980er Jahren. Das erste Wiener Beispiel für die Verlagerung einer wichtigen Kultureinrichtung (im weitesten Sinn) repräsentiert die 2003 eröffnete neue Zentralbibliothek am Gürtel. Für die Zielsetzung dieses Beitrags ist es am dienlichsten, die Entwicklungen in zwei Außenbezirken in Wien und Paris einander gegenüberzustellen.

Im Zuge der seit Mitte der 1990er Jahre in den Wiener Randbezirken zu beobachtenden Trends entstand in Ottakring (16. Bezirk) eine attraktive junge Kulturszene. Die Musiklokale "Vorstadt" und "Cafe Concerto" sowie die Galerie "Art und Weise" repräsentieren neue Kultureinrichtungen, die ein regelmäßiges Programm anbieten. Der Club International am Yppenplatz, der v.a. Lesungen veranstaltet, die Galerie "Masc Foundation" und das Musiklokal "Bach" sind aktuelle Beispiele für "locations" mit einem sporadischen Programm. Die genannten Beispiele repräsentieren alle kleinere lokale Einrichtungen.

Das 1999 gegründete Festival Soho in Ottakring ist zur herausragenden künstlerischen Veranstaltung des 16. Bezirks geworden. Wie die 2003 durchgeführte Befragung der Soho-Besucher zeigt, herrscht eine große Zufriedenheit mit dem zweiwöchigen Kunstfestival. Im Gegensatz dazu sind die Befragten unzufrieden mit dem generellen Angebot an Kulturveranstaltungen in den Wiener Außenbezirken. Von besonderem Interesse sind die Einzugsbereiche der Besucher der neuen Kulturinitiativen in den Randbezirken. Werden die neuen Kultureinrichtungen und -festivals einen Teil der lokalen kulturellen Infrastruktur bilden oder - wie im Fall von Soho - von Besuchern aus dem gesamten Stadtgebiet in Anspruch genommen werden?

Soho in Ottakring und die anderen neuen Kulturinitiativen im 16. Bezirk haben bereits zu einer Aufwertung des Gebiets beigetragen. Signifikante Anzeichen einer Gentrifizierung sind jedoch noch nicht zu beobachten. Was zu einer positiven Entwicklung lokaler Kulturszenen in den Wiener Randbezirken fehlt, ist eine entsprechende unterstützende Kulturpolitik der Stadtverwaltung.

Wie bereits festgehalten, ist die kulturelle Infrastruktur des 20. Pariser Stadtbezirks relativ besser ausgebaut als jene des Wiener Vergleichsbezirks. Wie das Beispiel des "Théâtre de l'Est Parisien" zeigt, setzte in Paris auch die Herausbildung von kleineren dezentralen Kulturprojekten früher ein als in Wien. Von einigen vorwiegend staatlich finanzierten Einrichtungen (TEP, "Théâtre National de la Colline") abgesehen, hält die Mehrheit der kleineren Kultureinrichtungen bewusst Abstand zur staatlichen oder kommunalen Kulturpolitik. Im Falle der "Maroquinerie" und des "Fléche d`Or", zweier im Detail vorgestellter Kulturinitiativen, beruhte dies auf dem basisdemokratischen Engagement der Gründer dieser Einrichtungen. Bis zu ihrem Relaunch im Jahr 2003 flochten die "Maroquinerie" und das "Fléche d`Or" partizipatorische und emanzipatorische Elemente in ihr Programm ein. Aufgrund ihrer starken Verankerung in den jeweiligen "quartiers" war der Anteil an Besuchern aus dem lokalen Umfeld groß.

Im Jahr 2003 wurde das Veranstaltungsprogramm der "Maroquinerie" und des "Fléche d`Or" einer Kommerzialisierung und inhaltlichen Glättung unterworfen. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Veränderungen auf die Beziehung zwischen den beiden Häusern und ihrem lokalen Publikum auswirken werden. Wie die Interviewpartner betonten, haben die Aktivitäten der Kultureinrichtungen bereits Auswirkungen auf den lokalen Immobilienmarkt gezeitigt. Das "streamlining" der Veranstaltungsprogramme und die Veränderungen auf dem Immobilienmarkt sind jedenfalls als Indikatoren für die im Osten von Paris vonstatten gehenden Gentrifizierungsprozesse einzustufen.

Auf Basis einschlägiger Forschungsarbeiten (Bianchini 1993, Griffiths 1995, McCarthy 2002 und Seo 2002) und der Ergebnisse der beiden vorgestellten Fallstudien wird eine abschließende Typologie der Auswirkungen neuer Kultureinrichtungen auf die Entwicklung städtischer Randbezirke erstellt.

Mögliche Auswirkungen im Kulturbereich (unmittelbare Effekte) sind:

Auswirkungen auf die generelle Stadtentwicklung (mittelbare Effekte) sind:

An den aufgelisteten Effekten kann abgelesen werden, dass Kultureinrichtungen einen wertvollen Beitrag zur Schaffung prosperierender und lebenswerter Städte und Stadtteile leisten können. Es liegt an den jeweiligen Stadtverwaltungen, die Kulturinitiativen in den Randbezirken zu unterstützen und damit die Chance für eine positive Stadtentwicklung zu ergreifen.

© Walter Rohn (Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften)


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3.7. In/visible communities at and across borders

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Walter Rohn (Österr. Akademie der Wissenschaften): Aktuelle Tendenzen der Dezentralisierung von Kultureinrichtungen in Wien und Paris. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_7/rohn15.htm

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