Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. März 2004
 

4.4. Transnationale und nationale Bestrebungen in der Ukraine
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Larissa Cybenko (Lviv)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Bericht: Transnationale und nationale Bestrebungen in der Ukraine

Larissa Cybenko (Lviv)

 

Nicht zufällig wurde unsere Sektion von einem der Referenten "eine wichtige Sektion" im transnationalen Sinne genannt. Die Ukraine, um deren Identitätsproblematik die Beiträge und die Diskussionen kreisten, konnte selbst als ein treffliches Beispiel des Verbindenden der Kulturen vorgeführt werden: im Laufe der Geschichte lag das Land am Schnittpunkt der Kulturen, Zivilisationen und Religionen, hier verliefen die Grenzen zwischen der lateinischen und byzantinischen Tradition in der west-östlichen Horizontale und zwischen dem Christentum und dem Islam in der nord-südlichen Vertikale. Dabei entwickelten sich die Kulturen der wichtigsten ethnischen Gruppen der Ukraine - wie der Historiker Andreas Kappeler betont -, der Ukrainer, Russen, Juden und Polen - nicht getrennt voneinander, sondern sie standen in vielfältigen Wechselbeziehungen.

Eine derartige geopolitische Lage bewirkte aber nicht nur verbindende Tendenzen und Bestrebungen in der Kultur der Ukraine, sondern brachte auch eine Trennung hervor. Besonders kontinuierlich wurde sie in den Beziehungen zur Ukraine von seiten ihrer westlichen und östlichen Nachbarstaaten, Polen und Russland, verfolgt. Aufgrund von Bemühungen um den politischen und kulturellen Einfluß kam es dazu, daß ukrainische Problematiken und Ukrainistik als Sonderfach der Slawistik öfters in den Schatten von Polonistik und insbesondere von Russistik gerieten. Deswegen wurde in der Sektion als eine der ersten Fragen das Problem diskutiert, was eigentlich Ukrainistik wäre: Philologie, Hobby oder Politik? Die Antwort hieß: es wurde und wird mit der Ukrainistik viel Politik gemacht. Eine enorme Rolle spielten dabei immer die Machtverhältnisse. Diese Tatsache führte dazu, daß im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrere ideologie- und politikorientierte Wissenschaften von der ukrainischen Sprache, Literatur und Kultur entstanden, wie z.B. die offizielle Ukrainistik in der sowjetischen Ukraine und die Ukrainistik in der ukrainischen Emigration. In der Auslandsslawistik bedingte die Dominanz des Russischen, daß Ukrainistik von den Slawisten meistens als Hobby betrieben wurde - eine Tatsache, die noch bis vor kurzem aktuell war.

Diese Problematik provozierte die nächste Diskussion - und zwar zur Rolle der historischen Teilung der Ukraine zwischen zwei Mächten: der österreichisch-ungarischen Monarchie und dem russischem Zarenreich im Laufe des 19. Jahrhunderts, insbesondere in der Zeit, als das Ukrainische wie eine Nationalsprache entwickelt wurde. Es ergab sich, daß diese Teilung verschiedene Bedingungen für das Erhalten des Ukrainischen (des Ruthenischen in den westlichen ukrainischen Gebieten) sowie für die Entwicklung der Ukrainistik zufolge hatte. Die Sektion hat die Frage nach der Rolle der Kulturpolitik, die in Österreich-Ungarn hinsichtlich der Ukrainer (Ruthenen) in Galizien betrieben wurde, in diesem Prozeß gestellt. Es wurde gezeigt, daß besonders in diesem Teil der gespalteten Ukraine günstige Bedingungen für das Etablieren von "ukraihnica" vorhanden waren.

Außerdem kam es im Rahmen der pluriethnischen Gesellschaft, die in der Vielvölkermonarchie im Laufe der Zeit - vorwiegend aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestaltet wurde - zum Entstehen kontemporär ähnlicher geistiger Phänomene, die durch ein geschichtliches und kulturelles Milieu bedingt waren. Einen interessanten Fall stellte das Beispiel der Ideenübereinstimmung bezüglich der Fragen der Assimilation und der Bildung eines eigenen Staates bei dem jüdischen Denker Martin Buber und dem Ukrainer Ivan Franko dar, für die die Bedeutung Galiziens für die Gestaltung Ihrer Werk unentbehrlich war. Der Mittelpunkt des Diskurses lag bei der Erläuterung der Bedeutung des Phänomens der Verfremdung des Eigenen über das Fremde bei der Lösung solcher existentiell wichtiger Fragen wie das Angleichen und (oder) Erhalten der eigenen Identität. An diese Überlegungen schloß die Frage von der Bedeutung Wiens der Jahrhundertwende als Treffpunkt von Menschen und Kulturen an, seine Rolle für das Schaffen der Autoren vom politisch und kulturell einheitlichen mitteleuropäischen Raum, wie es im Fall der Ukrainer und Polen in Österreich-Ungarn war.

In der Sektion war auch die Rede von der Literatur des Mittelalters, die mehreren Kulturen angehört und die Zugänge zu deren Deutung dementsprechend außer der nationalen Plattform laut dem Paradigma des 19. Jahrhunderts liegen. Am Beispiel des "Igorliedes" wurde gezeigt, daß es einerseits um die Tendenzen der Instrumentalisierung solcher Werke durch Nationalismen und Chauvinismen geht, andererseits aber die Zugehörigkeit an eigenes Kulturgut des einzelnen Volkes nicht eindeutig verneint sein darf. Ein Resultat war das Erzielen eines Verständnis darüber, daß "ukrainisch" nicht "russophob" bedeute. Schließlich wurde in der Sektion vom Bild der Ukraine, die öfters als "terra incognita" in der Rezeption von anderen Kulturen vorkommt, in den mitteleuropäischen Literaturen gesprochen. Ein prägnantes Beispiel dafür war die Deutung des ukrainischen Elements in der tschechoslowakischen Literatur der Zwischenkriegszeit.

Die Arbeit war äußerst produktiv, die Vielfältigkeit der von spannenden Diskussionen begleitenden Referate, die mehrere Dimensionen der Behandlung der transnationalen und nationalen Bestrebungen in der Ukraine vorlegten, bewies die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Durchführung unserer Sektion.

© Larissa Cybenko (Lviv)

4.4. Transnationale und nationale Bestrebungen in der Ukraine

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Larissa Cybenko (Lviv): Bericht: Transnationale und nationale Bestrebungen in der Ukraine. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_04/cybenko_report15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 12.11.2003     INST