Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

4.8. Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Fritz Peter Kirsch (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Psychische Globalisierung? Vom Projekt einer Weltliteratur zur Realität der Weltunterhaltungskultur

Jost Schneider (Bochum)
[BIO]

 

Die Internationalisierung der literarischen Kultur ist kein Phänomen der Moderne. Die Geschichte der literarischen Übersetzung begann mit den ersten Hochkulturen. Die geistliche Dichtung der Weltreligionen verbreitete sich sehr früh entlang den Reiserouten der jeweiligen Missionare. Und auch die lateinische Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit machte vor politisch-geographischen Grenzen nicht halt.

Man könnte demnach glauben, dass Literatur schon immer Weltliteratur war, ja dass Universalität geradezu ein Wesensmerkmal von Literatur schlechthin ist. Doch der Schein trügt. Denn die regelmäßige Teilhabe an schriftlicher, geschweige denn transnationaler literarischer Kommunikation war bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein das Privileg einer dünnen Gesellschafts- und Bildungselite.(1)

Erst die ökonomischen und technologischen Fortschritte des Industriezeitalters bewirken eine Veränderung dieser Situation. Die Rationalisierung der Arbeitsabläufe und die Verwendung immer komplizierterer Maschinen führen sowohl in den Städten als auch auf dem Land zu einer Steigerung der beruflichen Anforderungen. Folgerichtig wird etwa in Deutschland ab den 1820er Jahren die Schulpflicht durchgesetzt. Die Literaturverlage reagieren zeitnah auf die Entstehung neuer Käuferschichten. In Gestalt der Kolportage- und Unterhaltungsromane entsteht die moderne Massenliteratur, deren Rezeption nur soviel Zeit, Geld und Bildung erfordert, wie die große Masse der Land- und Industriearbeiter dieser Ära durchschnittlich erübrigen kann.

Die Entstehung des Projektes 'Weltliteratur' muss aus diesem sozial- und bildungsgeschichtlichen Kontext heraus verstanden werden. In Goethes vielzitierter Definition von 1827(2) meint der Begriff, wie Manfred Koch im Detail zeigen konnte(3), den Kanon jener Meisterwerke, die den Ansprüchen einer klassizistischen Ästhetik und zugleich den aufklärerischen Konzepten des 'historischen Sinns' (nach Herder) und des 'ewigen Friedens' (nach Kant) gerecht werden. Schon früh ist dieser anspruchsvolle Begriff jedoch verwässert worden. Er bezeichnet in der breiten literarischen Öffentlichkeit de facto die Gesamtheit jener Werke, die in Enzyklopädien wie Kindlers Literatur Lexikon oder Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur aufgenommen werden. Die darin herrschenden Selektionskriterien reflektieren nach wie vor das intellektuelle Niveau und die Mediennutzungsgewohnheiten der Bildungselite. 'Weltliteratur' geht nach dem Verständnis dieser Elite zwar jeden Menschen etwas an, aber der Begriff 'Mensch' wird hierbei auf der Grundlage einer normativen Anthropologie stark verengt und idealisiert.(4)

Das Projekt 'Weltliteratur' ist demnach bis heute ein Integrations- und Distinktionsprojekt, das die internationale Bildungselite als Erkenntnis-, Werte- und Kommunikationsgemeinschaft zu definieren versucht. Mit Bourdieu könnte man von einer Habitusgemeinschaft sprechen, deren in alle Welt verstreute Mitglieder sich u.a. dadurch auszeichnen, dass sie eine "ästhetische Einstellung"(5) einzunehmen vermögen. Diese Einstellung basiert auf der internalisierten Gewohnheit, künstlerische Objekte jederzeit als Artefakte wahrzunehmen, d.h. ihnen gegenüber eine reflexive Distanz aufzubauen und beizubehalten. Unterstützt wird dieser Vorgang in der Literatur durch Stilelemente wie die Kohärenzstörung, die Achronie, den abrupten Ich-/Er-Wechsel, die Entkonkretisierung der Schauplätze oder ähnliche Irritations- und Verfremdungseffekte. Zusammenfassend lässt sich hier von einer Poetik der Identifikationsverhinderung sprechen: Der Rezipient soll sich nicht in der Welt der Fiktion verlieren, nicht in ihr versinken, sondern gewissermaßen stets den Kopf über Wasser behalten. Die Habitusgemeinschaft der internationalen Bildungselite ist eine Geistes- und keine Gefühlsgemeinschaft.

Doch auch eine solche internationale Gefühlsgemeinschaft existiert. Sie besteht nicht aus der kosmopolitischen Bildungselite, sondern aus dem weltweiten Publikum der Unterhaltungsindustrie, deren aufwändige Produkte für den Weltmarkt konzipiert sind. Die ökonomischen und technologischen Aspekte dieser Internationalisierung sind mehrfach detailliert beschrieben worden.(6) Doch hier an dieser Stelle interessieren mehr die psychischen Voraussetzungen dieses Phänomens. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass z.B. die Romane von Simmel und Konsalik jeweils in mehr als 60 Sprachen übersetzt wurden und weltweit Bestsellerauflagen erreichten. Denn diese Werke sind nicht auf ästhetische Distanz, sondern auf Identifikation ausgelegt. Wie ist das aber möglich? Wie kann sich der russische oder brasilianische Leser mit einer literarischen Figur identifizieren, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist?

Um diese Frage zu beantworten, muß hier der Begriff der Identifikation genauer definiert werden. Dabei muss zunächst konstatiert werden, dass die damit befassten Forschungsdisziplinen bisher keine Einigkeit über eine solche Definition erzielen konnten. Im wesentlichen stehen sich drei verschiedene Auffassungen gegenüber, und zwar eine rezeptionsästhetische, eine medienwissenschaftliche und eine literaturpsychologische. Die Unterschiede zwischen diesen Ansätzen sind weniger auf verschiedenartige Interpretationen der selben Phänomene als vielmehr auf die Verschiedenartigkeit der fokussierten Phänomene selbst zurückzuführen.

So verfolgt der Rezeptionsästhetiker Hans Robert Jauss offenbar das Ziel, sämtliche Formen des Involvement unter seinem Begriff der Identifikation zu subsumieren. Neben der Identifikation im engeren Sinne berücksichtigt er deshalb auch z. B. Phänomene wie das Mitleid oder das karnevaleske Rollenspiel.(7) Die medienwissenschaftliche Forschung, wie sie in Heinz Bonfadellis Studie zur Medienwirkungsforschung dargestellt wurde,(8) ist demgegenüber - aus gegebenen Anlässen - vorrangig an der Erforschung der Imitationsproblematik interessiert. Es geht also z.B. um die Frage, ob und wann jugendliche Rezipienten von gewaltbetonten Computerspielen den für normal gehaltenen Realitätsbezug verlieren und die ihnen gezeigten Gewalttaten nachahmen. Dies ist zweifellos ein wichtiges Problem, aber ebenso zweifellos nicht der Normalfall von Identifikation.

Am ehesten wird man, was diesen Normalfall betrifft, doch bei der dritten der genannten Forschungsdisziplinen, also bei der Literaturpsychologie, fündig. Den Grundgedanken der psychologischen Identifikationstheorie hat Norman Holland formuliert; er besagt, dass das Zustandekommen von Identifikation im Akt der Lektüre nicht von Äußerlichkeiten abhängt, sondern auf der Wiedererkennung gleichartiger psychischer Tiefenstrukturen beruht.(9) Gemäß den Prinzipien seiner Identitätspsychologie verengt Holland diese Strukturen allerdings auf das, was die individuelle Bearbeitung der sogenannten 'Identitätsthematik' tangiert. Im Sinne von Hans-Joachim Seemann und Walter Schönau soll hier demgegenüber unterstellt werden, dass prinzipiell jeder nicht rein-individuelle seelische Konflikt geeignet ist, den Identifikationsprozess in Gang zu setzen.(10)

Identifikation meint also im Folgenden ein nicht-pathologisches, nicht außer Kontrolle geratendes, transientes Sich-Hineinversetzen in eine literarische Figur auf der Basis der Wiederkennung eines für den Rezipienten noch aktuellen, aber in der Regel unbewusst bleibenden seelischen Konfliktes. Äußerlichkeiten wie Alter, Geschlecht, Hautfarbe, gesellschaftliche Stellung und dergleichen sind hierbei im Prinzip ohne Belang. Zwar steigt mit der äußerlichen Gleichheit auch die Wahrscheinlichkeit, dass Figur und Rezipient gleichartige Seelenkonflikte aufweisen. Doch von ausschlaggebender Bedeutung bleibt eben in letzter Instanz der gemeinsame psychische Konflikt.

Aus dem Blickwinkel einer modernen Leseforschung ist dem nun allerdings hinzuzufügen, dass es mit der bloßen Gleichartigkeit der Konflikte noch nicht getan ist. Vielmehr muss auch eine adäquate Konflikterkennungskompetenz vorliegen, damit es überhaupt zu einer Wiedererkennung des Konfliktthemas kommt. Der klassischen Psychoanalyse ist dieses Problem fremd. Sie unterstellt, dass es eine universale 'Sprache des Unbewussten' gibt, die sich z.B. in Träumen äußert und die hauptsächlich auf Prinzipien der Analogiebildung und der Assoziation beruht.

Aus dem Blickwinkel der literaturwissenschaftlichen Stilistik ist jedoch auf den Umstand hinzuweisen, dass gerade jene Texte die Identifikation befördern, die sich von der textlinguistisch inkohärenten Sprache des manifesten Traumes besonders weit entfernen. Die Textverständlichkeit ist eine wesentliche Determinante der Konflikterkennbarkeit und vor allem auch der Konflikterkennungsbereitschaft. Als verständlich gelten hierbei kohärente Texte mit chronologischer Zeitstruktur, konkretisierten Schauplätzen, schematisiertem Handlungsverlauf, mittlerem Informations- und Redundanzniveau sowie alltagsnaher Diktion. In diesem Sinne verständliche Texte gestatten eine reibungsfreiere Aktualisierung jener Skripte und Geschichtengrammatiken(11), denen die neuere Leseforschung so viel Aufmerksamkeit gewidmet hat. Kann ein Leser die ihm geläufigen Skripte und Geschichtengrammatiken nicht zur Anwendung bringen, kommt es offenbar nur bei Vorhandensein einer ästhetischen Einstellung zu einer Intensivierung der Verstehensbemühung, andernfalls hingegen zum Lektüreabbruch.

Für die Frage der die Identifikation ermöglichenden Konflikterkennung bedeutet dies, dass nicht nur psychologische, sondern auch stilistische Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Erkennung gelingen kann. Und auf diesem Gebiet dürften die wesentlichen Ursachen für die fortschreitende Internationalisierung der Unterhaltungsliteratur zu suchen sein. Denn anders als die Konfliktlösungen sind im Falle der Unterhaltungsliteratur die rezeptionspsychologisch relevanten Konflikte als solche - natürlich nicht aus logischem, sondern aus ökonomischem Kalkül - unabhängig von Nationen und Kulturen. Skripte und Geschichtengrammatiken sind demgegenüber alles andere als kulturhistorisch invariant. Sie müssen also je und je erlernt werden.

Wo kann aber der Angehörige eines bestimmten Kulturkreises über jene Sitten, Gebräuche, Rituale und Verhaltensmuster informiert werden, die in Form von Skripten memoriert werden? Für die Beantwortung dieser Frage ist es entscheidend, dass hierbei der Anschauung keine Praxis zu folgen braucht. Um etwa den westlichen Lebensstil zu kennen, muss man ihn nicht selbst praktizieren oder akzeptieren. Und so kann davon ausgegangen werden, dass z.B. durch Werbespots, durch Musikvideos, durch Fernsehnachrichten und viele weitere Medienformate die entsprechenden Informationen transportiert werden. Im Sinne der sozial-kognitiven Lerntheorie von Albert Bandura muss hinzugefügt werden, dass eine positive Verstärkung der auf diesem Weg gesammelten Informationen erforderlich ist, wenn der Lernerfolg von Dauer sein soll; aber gleichzeitig ist zu betonen, dass ein solches Lernen nach der Theorie Banduras kein Imitationslernen ist, d.h., dass der Rezipient die ihm zufließenden Informationen selbstständig filtern und kritisch bewerten kann.(12)

Damit ist ein wesentlicher Unterschied zu den älteren Kulturimperialismus- und Manipulationstheorien benannt. Als Beispiele für derartige Konzepte seien hier nur die Dialektik der Aufklärung (1944) von Horkheimer und Adorno sowie die Freibeuterschriften (1975) von Pier Paolo Pasolini genannt. In beiden Werken trifft man noch auf das Schreckensbild eines passiven, manipulierten, unmündigen Medienkonsumenten, der zum Opfer einer globalen Kulturnivellierung durch die kommerzialisierte Unterhaltungsindustrie wird. Rezeptionspsychologisch ist dies zu einfach gedacht. Doch in einer anderen Hinsicht sind die Dialektik der Aufklärung und die Freibeuterschriften noch aktuell: Sie beschreiben die extreme Asymmetrie in der globalen Verteilung von Medienangeboten und von kulturkreisspezifischem Wissen über Skripte. Der 'american way of life' ist auf allen Kontinenten bekannt, während asiatische oder afrikanische Kulturtraditionen und Verhaltensmuster in der westlichen Welt vergleichsweise fremd geblieben sind. Was die Globalisierung von Skripten betrifft, so kann also nach wie vor von einer Homogenisierung durch Verwestlichung gesprochen werden. Wie es in Amerika bei einer Familienfeier oder bei einem Restaurantbesuch zugeht, ist heute praktisch weltweit bekannt.

Was darüber hinaus die globale Homogenisierung von Geschichtengrammatiken betrifft, so ist auf den Siegeszug einer spezifischen Form des Romans hinzuweisen, die im 19. Jahrhundert in Westeuropa und Nordamerika entwickelt wurde. Gemeint ist der Abenteuer- und Unterhaltungsroman in der Nachfolge von Autoren wie Scott, Cooper, Sue, Dumas, Lafontaine, Clauren usw. Aus ihren Werken leitet sich jene trivialrealistische Standardform des Bestsellerromans ab, die inzwischen den Löwenanteil der literarischen Kommunikation weltweit abzudecken scheint. Diese Standardform erfüllt in vollendetem Maße die oben genannten Kriterien für Textverständlichkeit wie Kohärenz, Konkretisierung der Schauplätze, Schematik des Handlungsverlaufs, Nähe zur Alltagssprache usw. Die Kompetenz zur Rezeption derartiger Texte kann inzwischen als Schlüsselkompetenz für die Teilhabe an schriftlicher literarischer Kommunikation bezeichnet werden. Die Standardform des internationalen Unterhaltungsromans hat weltweit nicht nur die Bestsellerlisten, sondern auch die Geschichtengrammatiken erobert.(13)

Die Voraussetzungen und Auswirkungen der psychischen Globalisierung können wie folgt resümiert werden:

Voraussetzungen

Auswirkungen

Den Gefahren der Verwesentlichung, der Entdynamisierung und der irrationalen Menschheitstümelei stehen allerdings auch drei spezifische Vorzüge der psychischen Globalisierung gegenüber. Erstens ist dies die Steigerung der Fähigkeit zu menschlicher Anteilnahme über Ländergrenzen hinweg. Zweitens muss der tendenzielle Abbau von Migrations- und Reiseängsten genannt werden; man erwartet auf fernen Kontinenten keine 'Wilden' mehr, sondern die besagten Menschen wie Du und Ich. Drittens schließlich kann die Ökonomisierung und Rationalisierung der Kulturindustrie bis zu einem gewissen Grad als ressourcenschonende Effizienzsteigerung gewürdigt werden.

Fazit: Die Goethesche 'Weltliteratur' dient im wesentlichen einer schichteninternen Selbstverständigung. Sie verkündet ihren toleranten Kosmopolitismus einer Bildungselite, in der - von seltenen Ausnahmen abgesehen - dieser tolerante Kosmopolitismus habitusbedingt ohnehin tief verwurzelt ist.(16) Die Weltunterhaltungsliteratur weist demgegenüber eine größere soziale Reichweite auf; da sie aber nicht auf einer Angleichung der Lebenswelten und der Werteordnungen, sondern nur auf der globalen Bekanntmachung bestimmter Skripte und Geschichtengrammatiken beruht, bleibt ihre Wirkung oberflächlich. Die psychische Globalisierung kann eine karitativ und kulturindustriell verwertbare Menschheitstümelei, aber kein politisch belastbares Weltbürgertum erzeugen. Ohne eine globale Homogenisierung des Lebensstandards und des Bildungsniveaus ist also zwar ein Weltpublikum, aber keine Weltgesellschaft im Sinne der europäischen Aufklärung herzustellen.

Die postmoderne Alteritätstheorie hat diesen Sachverhalt explizit gebilligt.(17) Doch die Feier des 'Anderen' kommt verfrüht. Sie wirkt zynisch, insofern und solange kulturelle Andersartigkeit kein Ergebnis autonomer Entscheidungen, sondern hauptsächlich ein Produkt der ungleichen Verteilung von Erwerbs- und Bildungschancen ist.

© Jost Schneider (Bochum)


ANMERKUNGEN

(1) Erich Schön, der beste Kenner dieser Materie, beziffert die Zahl der regelmäßigen Literaturleser noch für die Jahre um 1800 auf nicht einmal ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Zwar lag die Alphabetisierungsquote zu dieser Zeit bereits - mit starken regionalen Schwankungen - erheblich höher. Doch gelesen wurden fast nie literarische Werke, sondern Geschäftsbriefe, Zeitungen, Kalender, Ratgeber und dergleichen: Schön, Erich: Leser [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Hg. v. Harald Fricke. Berlin u. New York 2000. S. 410-413. Hier: S. 411. - Vgl. auch Schneider, Jost: Literarische Kommunikation in Deutschland. Historische Entwicklung und soziale Differenzierung. Berlin u. New York 2004.

(2) Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens [1836/48]. Hg. v. Fritz Bergemann. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1992. S. 211f.: "Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen."

(3) Koch, Manfred: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff 'Weltliteratur'. Tübingen 2002. S. 17 u.ö. - Vgl. auch Steinmetz, Horst: Weltliteratur. Umriß eines literaturgeschichtlichen Konzepts. In: H. St.: Literatur und Geschichte. Vier Versuche. München 1988. S. 103-126 u. 136-141. - Birus, Hendrik: Weltliteratur [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin u. New York 2003. S. 825-827.

(4) Kindlers Neues Literatur Lexikon berücksichtigt zwar auch Texte von Heinrich Clauren oder Hedwig Courths-Mahler. Doch die Verfasser der entsprechenden Artikel lassen keinen Zweifel daran entstehen, dass es sich hierbei um eine bloße Kanonisierung auf dem Gnadenweg handelt.

(5) Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt v. Bernd Schwibs u. Achim Russer [französ. 1979]. Frankfurt a. M. 1987. S. 57-85 u.ö.

(6) Vgl. Lash, Scott: Die globale Kulturindustrie. Frankfurt a.M. 1998, sowie besonders: Casanova, Pascale: La république mondiale des lettres. Paris 1999.

(7) Jauss, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Bd. I. München 1977. S. 220. Jauss kennt eine assoziative, eine admirative, eine sympathetische, eine kathartische und sogar eine ironische 'Identifikation'.

(8) Bonfadelli, Heinz: Medienwirkungsforschung I. Grundlagen und theoretische Perspektiven. 2., korrig. Aufl. Konstanz 2001. S. 197-199.

(9) Holland, Norman N.: 5 Readers Reading. New Haven u. London 1975. Hier: S. 205: "Identifiation simply does not take place on the basis of surface similarities between reader and literary character. Nothing in this study will support that idea or suggest that superficial resemblances of gender, age, culture, or class (in a Marxist sense, for example) have any important role in and of themselves in response. What counts are the deeper structures of adaptation and lifestyle. To be sure, surface similarities between a reader and a character may indicate a deeper psychological similarity and so may seem to provide a point for identification. Identification as such, however, takes place not because of external likenesses but because of an internal matching of adaptation and defense within a total dynamic of response."

(10) Seemann, Hans-Joachim: Das Motiv der Kästchenwahl. Eine ergänzende psychoanalytische Studie unter Verwendung der Reaktionen einer Analysandin. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 1980, S. 171-287. - Schönau, Walter: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991. S. 58f.

(11) Skripte sind komplexe Wissens- und Erfahrungscluster, die sich auf Geschehnisfolgen wie z.B. Familienfeier, Theaterbesuch oder Rendezvous beziehen. Geschichtengrammatiken sind Kenntnisse und Erwartungen hinsichtlich des Aufbaus und der typischen Inhalte einer Textsorte. Vgl. hierzu Christmann, Ursula / Groeben, Norbert: Psychologie des Lesens. In: Franzmann, Bodo u.a. (Hg.): Handbuch Lesen. München 1999. S. 145-223. Hier: S. 166-172 u. 183-191.

(12) Vgl. Groeben, Norbert / Vorderer, Peter: Leserpsychologie. Lesemotivation-Lektürewirkung. Münster 1988. S. 254-271.

(13) Vgl. Schneider, Jost: Einführung in die Roman-Analyse. Darmstadt 2003. S. 70-122. - Für den Bereich des Films läßt sich übrigens analog von der Hervorbringung einer global vermarktbaren Standardform des Unterhaltungsfilms sprechen (man denke an den Erfolg von'Derrick' im indischen Fernsehen u. ä.).

(14) Wenn es gleichwohl zu einer solchen Verwestlichung kommen sollte, wäre sie jedenfalls nicht oder nicht maßgeblich auf die psychische Globalisierung zurückzuführen.

(15) Die heute so moderne 'literarische Anthropologie' hat noch kein adäquates Bewusstsein für diese Problematik entwickelt.

(16) Goethe selbst sah sich immerhin im Jahre 1828 dazu veranlaßt, in seinem Aufsatz über Die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin eine etwas defensivere Definition seines Weltliteratur-Begriffes zu formulieren: "Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, daß die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger. Nein! hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken." (Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12: Schriften zur Kunst. Textkrit. durchges. v. Erich Trunz. Komment. v. Herbert von Einem. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Textkrit. durchges. u. komment. v. Hans Joachim Schrimpf. Taschenbuchausgabe d. 9., neubearb. Aufl. 1981. München 1982. S. 363)

(17) Vgl. die Darstellung der entsprechenden postmodernen Positionen von Claus Clüver und Jochen Hörisch bei Koch 2002, S. 12-16.


4.8. Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?

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For quotation purposes:
Jost Schneider (Bochum): Psychische Globalisierung? Vom Projekt einer Weltliteratur zur Realität der Weltunterhaltungskultur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_08/schneider15.htm

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