Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Spetember 2004
 

4.9. Transkulturelle Stereotype in den Kunst- und Literaturwerken
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Tamara Fessenko (Tambov/Russland)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Transkulturelle Stereotype in Kunstwerken

Tamara Fessenko (Tambov/Russland)
[BIO]

 

Die Kultur ist kein isoliertes Phänomen, das seine eigentliche unabhängige Geschichte hat: sie existiert seit es den Menschen gibt und muss sich auch nach seinen Gesetzmäßigkeiten entwickeln.

Von den detaillierten kulturfunktionellen und -geschichtlichen Untersuchungen ausgehend (Lotmann 1970, Koch 1986, Posner 1989, Fleischer 1989 u. a. ) haben wir in dem vorliegenden Beitrag vor, den Blick auf ein bisher kaum gründlich erforschtes Thema der verbindenden Funktion der Kultur in der menschlichen Gemeinschaft zu richten, und die Kultur nicht isoliert, sondern im Verbund mit Kunst und Sprache zu untersuchen.

Die Kultur soll als Orientierungssystem definiert werden, an dem die menschlichen Gemeinschaften als Ganzes ihr Handeln ausrichten.

Die Kultur ist ein Zeichensystem: die kulturellen Phänomene als einzelne Zeichen entstehen und funktionieren im bestimmten Sozium. Soziale Systeme als Umwelt für Kultur bestimmen ihr Funktionieren.

Die Kulturzeichen werden mittels der Sozialisierung ins menschliche Bewusstsein eingegliedert, das seinerseits nur dann die Tätigkeit der Menschen steuern kann, wenn es modellhafte Bilder der soziokulturellen Umwelt enthält. Eine derartige Modellbildung wird durch symbolische Mittel realisiert, z.B. durch Rituale, Verhaltensformen, Sprache usw., deren Bedeutung die Angehörigen einer Kultur beherrschen sollen. Dieses Repertoire an Symbolbedeutungen ist veränderlich und soll der gesamten Lebenspraxis und dem Sozialsystem angepasst werden.

Das Sozialsystem ist die Grundlage jeder Kultur, ihre Basis. Man kann sagen, dass das soziale System der Produzent und der Träger der Kultur ist. Deswegen finden die Veränderungen im sozialen System ihren Ausdruck in der Kultur. Die Kultur wirkt auf die soziale Umwelt zurück und kann als Bereich zeichenhafter Phänomene ihre Entwicklung mitsteuern. Zwischen diesen beiden Systembereichen gibt es also vielseitige Wechselwirkungen.

Denselben Zeichencharakter besitzen auch Kunstwerke, aber mit einer anderen Funktion. Zwischen Kultur und Kunst existieren nicht hierarchische, sondern vernetzte Relationen. Wenn das Sozialsystem für die Kultur ihre Umwelt ist, so dient die Kultur für die Kunst als ihre Umwelt.

Die Kunst (so wie die Kultur) resultiert einerseits aus den sozialen Systemen, die sie produziert; andererseits übt sie in vielen Rückkoppelungen als entwickeltes Zeichensystem ihrerseits ihren Einfluss auf den Zustand dieser Sozio - Systeme aus.

Alle Zeichen werden zu kommunikativen Zwecken hergestellt und bilden Nachrichten, die als vernetzte, hierarchische Zeichenmechanismen funktionieren - sowohl im Bereich der Kultur, als auch in der Kunst.

Daraus folgt, dass die Kultur als Gesamtheit der Zeichensysteme erscheint, in der alle kodierten Nachrichten und Traditionen integriert sind.

Die Inhalte der Traditionen können gespeichert und abrufbar sein und werden in erster Linie durch kulturelle Stereotypen repräsentiert. Von W. Lippmann (1922) wurde der Stereotyp-Begriff erstmalig als Bezeichnung kulturell geprägter Einstellungen oder Überzeugungen eingeführt, die die Wahrnehmungs- und Verhaltensformen der Kulturträger strukturieren.

Lippmann bezog diesen Stereotyp-Begriff auf die Gesamtheit konstanter Einstellungen und Wertungen einer Kultur. In späteren Untersuchungen wurde dieser Begriff auf die Interaktionsphänomene verschiedener ethnokultureller und sozialer Gruppen bezogen. Dabei wurden von Stereotypen eine Orientierungsfunktion, eine adaptative und sozialintegrative Funktion, auch eine utilitaristische Funktion festgestellt. Die Stereotypen werden in der Enkulturation (Sozialisation) vorgefertigt übernommen.

Aus zeichentheoretischer Sicht liegt in diesem Fall die Prägung durch Zeichen vor, die individuenextern gesteuert ist. Im Unterschied zur Kategorisierung werden die Stereotype hauptsächlich durch kulturelle Vermittlung von Zeichen erlernt, wenn die Kategorienbildung an persönliche Erfahrungen und Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gekoppelt sind.

Die Stereotypen werden sowohl durch verbale Zeichen, als auch durch Zeichen der Kunst (usw.) repräsentiert.

Unerforscht bleiben transkulturelle Stereotype, die von uns als Modelle verstanden werden, die sich auf die Verallgemeinerung von transkulturellen Wahrnehmungs- und Vorstellungsformen beziehen. Das transkulturelle Stereotyp wird über das im Bewusstsein verschiedener sprachkultureller Gemeinschaften verankerte Modell der "Transkulturalität" ausgedrückt.

* * *

Eines der gebräuchlichsten Stereotypen in der bildenden Kunst ist die Landschaft. Jede traditionelle Fabel, der Malerei Christusgeburt, die Flucht nach Ägypten u. a. hat als ihren Hintergrund die Natur, die sich aktiv an der Handlung beteiligt.

Eine große Rolle spielt die Natur in den Kunstwerken vieler russischen, deutschen, österreichischen u. a. Maler, sowie auch in den Gemälden von Albrecht Altdorfer, und zwar, in seinem Gemälde "Die Schlacht von Alexander Makedonski"; die Natur ergreift und die Handlung "aufsaugt", als ob sie ihr gehört.Die Natur ist ebenso still, wie der Mensch und bildet mit ihm eine organische Einheit.

Albrecht Altdorfer stellt die Natur als eine bewohnte, belebte Gegend dar: der Mensch lebt in und mit dieser Gegend, und der Maler betont in seinen Gemälden die weiche Bereitwilligkeit der Natur den Menschen "aufzunehmen".

Die Schönheit der von Albrecht Altdorfer -gemalten Natur ist eigentlich ein künstlerisches Ergebnis der auf eigene Weise wahrgenommenen Wirklichkeit. In einigen seiner Bildern ("Die Landschaft von der Donau bei Regensburg" u. a.) fehlt der Mensch; hier ist folgendes Sinnelement wichtig: die Landschaft ist für alle Handlungen offen, welche da realisiert werden können, d. h. diese Gegend ist die menschliche Welt, und die Natur bewahrt den menschlichen Gehalt auf.

Die Interpretation der Landschaft als Darstellung der Umweltschönheit ist eine neutrale Landschaftsvorstellung. Es gibt aber folgende polare Darstellungen der Landschaft:

1) die Landschaft als Gestalt der "menschlichen" Wirklichkeit;

2) die Landschaft als Gestalt der nach ihren heimlichen, verstecken Gesetzen wachsenden Natur.

Die Sphäre der Natürlichen verbreitet sich und gewinnt für sich die Selbständigkeit. Aber zwischen dem Menschen und der Natur gibt es in den Gemälden von Albrecht Altdorfer keine Spannung, keinen Konflikt.

Eine ganz andere Situation erlebt die Landschaft Anfang des XIX. Jhs. in der deutschen bildenden Kunst. Das Individuum erlebt die Natur als Gestalt der ganzen Umwelt. Die Natur bei Kaspar David Friedrich mag keinen Menschen und hält ihn nur im Vordergrund wie, z.B. auf seinem Bild "Die Landschaft von der Elbe" (1820). Friedrichs Schiffe sind menschenleer, und die Menschengesichter sind immer von den Zuschauern abgewandt, weil die Menschen auf Friedrichs Gemälden der Natur entfremdet sind: die Natur umarmt die ganze Welt, aber die Welt ohne Menschen; die Natur ist wunderschön. Seine Gemälde "Wiesen bei Greifswald", "Hügel und Feld bei Dresden" (1820) stellen realistische Landschaften dar, doch die Natur verdrängt den Menschen wie ein fremdes Element.

Sehr beliebt ist die Landschaft von den russischen Malern: Repin, Schischkin, Aiwasowski u. a., aber die Natur symbolisiert bei ihnen die menschenfreudige Wirklichkeit. Also, die Natur als transkulturelles Gestaltstereotyp verbindet die Kulturen und spiegelt die innerliche, mentale Einheit der menschlichen Kulturen wider.

Als eines der Gestaltstereotypen, dessen transkulturelle Bedeutung sowohl diachron als auch synchron kaum zu bestreiten ist, erscheint "das Menschengesicht". Dabei handelt es sich nicht um ein Porträt, sondern um ein Menschengesicht als ein Darstellungsobjekt.

Die Darstellung des Menschengesichtes entwickelt sich mit der Zeit, vertieft sich, schließt in sich "das Psychologische" ein und begreift sich mit der Zeit ganz anders.

Im diachronischen Kontext zeigt sich, dass die sogenannte Vergangenheit der Kunst eng mit ihrer Gegenwart verbunden ist, in der Darstellen des Menschengesichtes als Menschencharakter widergespiegelt wird.

Im Griechischen ist "der Charakter" als Außenzeichen des Innerlichen interpretiert, aber der "neueuropäische Charakter" ist das Innerliche selbst, sein Wesen. Daraus kommt, dass der Charakter in der modernen Kunst den Menschen und seine Persönlichkeit anders interpretiert, als es eigentlich am Ende des 18. Anfang des 19. Jhs. geschah.

Der Menschencharakter funktionierte als Erbe des altertümlichen Charakters, solange er mittels äußerlicher Gestalt dargestellt wurde.

Seit dem 18. Jh. begann die Reglementierung der Menschengestalt in der bildenden Kunst, und diese Gestalt sollte eigentlich die Harmonie zwischen dem Äußeren und dem Inneren widerspiegeln. Also, die "Menschengestalt" ist ein transkulturelles Stereotyp, welches mit der Entwicklung der bildenden Kunst verbunden ist.

Im 18. Jh. repräsentiert das Porträt die genaue Maske des Menschen und malt die Kopie seines sozialen Daseins. Die innerliche Welt des Individuums war bedeutungslos. Doch die Kunst der besten Vertreter dieser Periode sieht das Entwicklungsresultat voraus, z. B. Rembrand konnte das Unschöne als Ausprägung der inneren Schönheit darstellen.

Im deutschen Klassizismus wurde es durch den Widerspruch realisiert. In der Jahrhundertwende ist die Persönlichkeit zur Idee, zur inneren Form des Menschen geworden, und der Charakter zu ihrem Gepräge.

In der bildenden Kunst des 19. Jhs. wird der Mensch als natürliches Element der Welt dargestellt. Diese realistische Nachbildung des Menschengesichtes war in der bildenden Kunst unterschiedlich.

Alle kennen z. B. das Porträt von Marsellen Debouten (1875), gemalt von Eduard Manet. Im Vordergrund ist das Menschengesicht, das seine eigene Wahrheit und Lebensgeschichte ausdrückt, und dieses Gesicht erscheint als Endergebnis und Gepräge des inneren Menschenlebens. Dieses Gesicht schafft auf dem Bild selbst seine Umgebung.

Der konzeptuale Inhalt des Schaffens vom österreichischen Maler Ferdinand Georg Waldmüller (1793-1865) ist die sog. Stoffrealität der Wirklichkeit, und die Menschengesichter sind bei ihm besonders realistisch, wie z.B. die Äpfel.

Auf seinem bekannten Bild "Kinder im Fenster" (1840) hat der Maler zuerst den Rahmen und besonders das Holz dieses Rahmens gemalt; damit betont er, dass jeder Augenblick seine eigene Beziehung zur Ewigkeit hat. In diesem Holzrahmen sind vier Kindergesichter dargestellt; diese Gesichter scheinen real zu sein und gleichzeitig ideal: diese Idealität wird in erster Linie durch die Lebenskraft dieser Kindergesichter bestimmt. Man kann sagen, dass der Maler seine Bilder wegen der Menschengesichter schuf.

Anziehend ist das Frauengesicht auf dem Porträt der Mutter des Kapitäns von Stirle Holzmeister (1819). Das ruhige Gesicht einer alten Frau, die ihr Lebensalter nicht verheimlicht. Ihr Blick verschweigt nichts und offenbart nichts: so wie ein Ding (ein Gegenstand) in Ruhe liegt, so ist auch dieses Frauengesicht ruhig, gelassen und unerschütterlich. Das heißt, zwischen dem Ding und dem Menschen gibt es bei Waldmüller keine Sinngrenze.

Das Menschengesicht ist auch in der Bildhauerkunst ein weitverbreiteter Gestaltstereotyp. In meinem Beitrag möchte ich - im Rahmen unserer Problemstellung einige Werken des nicht bekannten Bildhauers ER'SJA vorstellen. Er'sja ist ein Deckname des mordwinischen Bildhauer Stepan Nefjodov (1876 1959).

Er arbeitete mit Holz und Marmor, besonders beliebt war bei ihm doch Holz. Er'sja schuf die ganze Galerie der schönen und ausdrucksvollen Frauengestalten, deren einige Reproduktionen ich hier als Illustration anführe.

Eine der ersten Frauengestalten von Er'sja ist das Porträt eines jungen Mädchens (1912); es ist eigentlich die Verkörperung der Jugend, Unbefangenheit und Natürlichkeit. In der verallgemeinerten Deutung dieses Kopfes kann man die Züge der künftigen Frauenporträts dieses Bildhauers erraten.

1919, als Er'sja im Ural lebte, schuf er ein klassisches Frauenporträt , das er die "Gelassenheit" nannte. Transkulturalität dieser Frauengestalt wird durch Harmonie, physische und seelische Schönheit, Gelassenheit und Klarheit der Frauennatur ausgedrückt, das heißt, durch typische und transkulturelle Eigenschaften, die in allen sprachkulturellen Gemeinschaften geschätzt sind.

In demselben Jahr schuf Er'sja auch das Porträt, das er den "Wunschtraum" nannte. Auf Russisch ist der Begriff Traum nicht männlich, sondern weiblich, was sehr deutlich in diesem Frauengesicht verkörpertöpert wird: der Kopf ist etwas zurückgelehnt, die Augen sind geschlossen, ein leichtes Halblächeln umspielt ihre Lippen.

Man muss betonen, dass die Augen bei Er'sja von besonderer Bedeutung sind: sie können geschlossen oder geöffnet und detailliert durchgearbeitet sein, doch ihr Ausdruck und Umriss hängt von der Beleuchtung und Betrachtungsposition ab.

Er'sja setzt seine Porträtsgalerie mit vielen schöen Gestalten fort, welche man als "psychologische Suite" bezeichnen kann. Dazu gehören solche Gestalt Symbole, wie "Grauen"(1933), ''Unglück"(1933), weiter noch "Sehnsucht"(1944), "Mut"(1932). Ausdrucksvoll sind die Frauengestalten "Laune"(1944) oder "Liebe" (1955): das Frauengesicht ist geheimnissvoll nicht zuletzt wegen ihrer geschlossenen Augen, ihres halblächelnden Mundes und etwas gebeugten Kopfes.

Er'sja's Schaffen ist durch transkulturelle Gestaltstereotype geprägt, welche in erster Linie in Frauengesichtern usgedrückt sind.

"Porträt eines jungen Mädchens" (1912)

"Gelassenheit" (1919)

"Wunschtraum" (1919)

"Grauen"(1933)

 

''Unglück"(1933)

"Sehnsucht"(1944)

"Mut"(1932)

"Laune"(1944)

"Liebe" (1955)

* * *

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass transkulturelle Stereotype als Elemente verschiedener Zeichensysteme wie Sprache, Kunst, Kultur usw. von besonderer Bedeutung für Verständlichkeit und Weiterentwicklung der sozialen Systeme sind, weil sie eine kulturverbindende Funktion ausü--ben.

Die künftige Einheit der menschlichen sprachkulturellen Gesellschaften ist nicht zuletzt durch Transkulturalität der Stereotype als Denk-, Verhaltens- und Wahrnehmungsweise bestimmt.

 

© Tamara Fessenko (Tambov/Russland)


LITERATURVERZEICHNIS

1. Gerndt H.(Hrsg.)(1988). Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder Selbstbilder Identitätt. München

2. Fleischer M.(1994) Die Wirklichkeit der Zeichen. Empirische Kultur- und Literaturwissenschaft (systemtheoretische Grundlagen und Hypothesen)/ Bochum

3. Koch, Walter A. (Hrsg) (1990). Natürlichkeit der Sprache und der Kultur. Bochum

4. Lilli.W.(1982). Grundlagen der Stereotypisierung. Goettingen

5. Schaff A. (1980). Stereotypen und das menschliche Handeln. Wien


4.9. Transkulturelle Stereotype in den Kunst- und Literaturwerken

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For quotation purposes:
Tamara Fessenko (Tambov/Russland): Transkulturelle Stereotype in Kunstwerken. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_09/fessenko15.htm

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