Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2003
 

4.10. Kultur und Sozium und Kultur. Probleme der Globalisierung
Herausgeber | Editor | Éditeur: Mikhail Blumenkrantz (Charkow)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Bericht: Kultur und Sozium und Kultur. Probleme der Globalisierung

Mikhail Blumenkrantz (Charkow)
[BIO]

 

Heute leben wir nicht nur in einem anderen historischen Raum, einem Raum der post-industriellen Gesellschaft, die über in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Massenmedien verfügt, sondern wir erleben diese geschichtliche Zeit auch anders. In unserer säkularisierten und rationalisierten Welt ohne überhistorische Aufgaben, ohne metaphysischen Horizont, sind wir in einen anderen Zeittyp und ein anderes Paradigma geraten. Nur mechanisch verwenden wir das ehemalige Koordinatensystem weiter, identifizieren uns immer noch in dem Rahmen traditioneller Kulturwerte, ohne uns über die radikalen Veränderungen unseres alltäglichen Seins klar zu werden.

Ohne es zu bemerken, sind wir in einer neuen post-historischen Epoche gelandet. Aus der "abrahamischen Oikumene" drifteten wir in die "Oikumene post-apokalyptischer" Apokalypsis; das bedeutet in diesem Zusammenhang eine Demarkationslinie, die letzte durch das christliche kulturelle Paradigma gegebene Grenze. Vom christlichen Standpunkt kann man über den Beginn der Antigeschichte reden, über eine Reise jenseits des Zauberspiegels.

Zusammen mit dem Verlust der metaphysischen Dimension hat unser Bewusstsein auch die unendliche Vielfältigkeit von symbolischen Formen verloren, worin der Mensch aus dem mittelalterlichen Europa sich und die ihn umgebende Welt fasste. Die durch die christliche Kultur erschaffene Verbindung der menschlichen Existenz mit dem Absoluten wurde annulliert.

Der begonnene Prozess der Säkularisation des Bewusstseins hat allmählich dazu geführt, dass Kultursymbole sich in Kulturemblematik verwandelten. Ein Emblem ist im Grunde genommen ein inhaltsloses Symbol, das nur einen Schein der symbolischen Form beinhaltet. Aber zum Unterschied vom wahren Symbol hat es die schaffende Vieldeutigkeit der Sinne und die Fähigkeit, die Innerwelt einer Persönlichkeit mit den Urgründen der Existenz zu korrelieren, verloren. In der Tat ist das Simulacrumsystem - Jean Baudrillards Meinung nach - die Besonderheit der gegenwärtigen Kultur.

Die totalitären Regime haben den nach der geschichtlichen Existenz und den geschichtlichen Maßstäben hungernden Menschen die Täuschung der geschichtlichen Perspektive angeboten.

Sie simulierten eine metahistorische Dimension der Geschichte, kippten die religiöse Vertikale auf die ideologische Horizontale der historischen Werte. Das Resultat war, dass diese Werte eine sakrale Füllung erhielten, die imstande war, einen religiösen Impuls hervorzurufen. Jedoch findet dieser Impuls seine Verwirklichung nicht in der religiösen Symbolik, sondern in der ideologischen Emblematik. Die Kunst der Unterschiebung des religiösen Symbols durch ein ideologisches Emblem ist eines der Instrumente der Machttechnologie der totalitären Systemen.

Die Genealogie der verbannten Literatur ist uralt. Ein Bogen, der sich von Ovid über Dante bis hin zu Thomas Mann und Robert Musil, vom Fürsten Andrej Kurbski, einem Zeitgenossen von Ivan dem Schrecklichen, bis auf die drei Emigrationswellen der modernen russischen Literatur erstreckt. Man sollte glauben, wir, die Heutigen, die wir uns als Nachkommen und Schicksalsgenossen jener vorigen Emigrantenschaft verstehen, der Vergangenheit angehören, seitdem der Eiserne Vorhang nicht mehr da ist. Aber nicht im geringsten: Man kann die Verbannung für ungültig erklären; sie aber unwirklich zu machen, ist unmöglich. Denn das Exil ist ein lebenslanges Brandmal, ist eine existenzielle Kategorie.

© Mikhail Blumenkrantz (Charkow)

4.10. Kultur und Sozium und Kultur. Probleme der Globalisierung

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For quotation purposes:
Mikhail Blumenkrantz (Charkow): Bericht: Kultur und Sozium und Kultur. Probleme der Globalisierung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_10/blumenkrantz_report15.htm

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