Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

5.9. Austrian Writers and the Unifying Aspects of Cultures
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Donald G. Daviau (Riverside)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Kafka und die künstlerische Avantgarde

Alexander W. Belobratow (Universität St. Petersburg)
[BIO]

 

In einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1919 schreibt Franz Kafka, augenscheinlich seine menschliche Situation resigniert einschätzend (und sich an den dritten, letzten Versuch der Annäherung an Felice Bauer als kümmerlich gescheitert erinnernd): "ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahrens-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich". (1, 558) Es ist eine Aufzeichnung, ein quasi aphoristischer Text, der in mehreren ähnlichen Variationen in Kafkas Nachlaß zu treffen ist. Typisch Kafka, könnte man hier sagen: die ambivalente Lebenssituation des Prager Autors ist hier sehr anschaulich, man kann sagen, bildhaft dargestellt, das einsame Leben, das aber auch dabei mehrere zwischenmenschliche Beziehungen aufzuweisen hat, allein und unter vielen Menschen, in der Familie und distanziert von ihr, auf die ihm gereichte Hand sehnend und diese abweisend usw. usf. Typisch für Kafka ist dieser Text aber auch in einer anderen Hinsicht: es gibt kaum Äußerungen von ihm, die autonom von seinem Schaffen, von seiner Literatur empfunden werden können: Im Brief an Felice Bauer hebt Kafka hervor: "Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein". (2, 444)

Auch diese kurze Aufzeichnung hat ihre "poetologische" bzw. metatextuelle Prägung, auch darin ist es möglich, Kafkas Überlegungen zu seiner Situation und seine Selbstverortung im literarischen Leben zu entdecken. Kafka als etwas absolut Einmaliges, Abgesondertes, keine Vorfahren, keine zeitgenössischen Gemeinschaften, keine Nachkommen Aufweisendes spricht hier einen anderen Kafka an: einen Autor, der seine Vorfahren gut kennt (seine "Blutsverwandten" Flaubert, Dostojevski, Kleist und Grillparzer seien hier zu erwähnen, aber auch Ovid und Cervantes, E.T.A. Hoffmann und Gogol, Hebbel und Dickens), der auch in einer sehr bewegten literarischen "Ehe" mit seiner Zeit ist (es muß nur die Leseliste von Kafka in Erinnerung gebracht werden, um sich das zu vergegenwärtigen) und dessen Werk eine überzeugende produktive Rezeptionsgeschichte hat.

Die zitierte Tagebuchstelle ist auch mit einem gewaltigen ethischen Potential geladen: Kafka stellt uns vor die Situation des vereinsamten Individuums, das aus seiner Vereinsamung unbedingt heraus will und die Unmöglichkeit der Flucht aus ihr schmerzhaft und schuldbewußt reflektiert. Die zitierte Stelle bedeutet aber auch "das Betrügen ohne Betrug" - die immerwährende Selbstinszenierung Kafkas auch in seinen nichtfiktionalen Texten, die zugleich als literarische Versuche, als Fragmente eines unendlichen Textes zu betrachten sind, an dem der Autor sein Leben lang arbeitet und der seine Lust zum Darstellen seines "traumhaften innern Lebens" bestätigt. (Ich verweise auf eine oft zitierte Tagebucheintragung vom 6. August 1914: "Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt".) (1, 546) Kafka verliert doch nie die Leserbeziehung, die wirkungsästhetische Perspektive aus den Augen. Am 13.12.1914 notiert er in seinem Tagebuch über "das Beste", was er geschrieben hat: "An allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt, daß es ihm sehr schwer wird, daß darin für ihn ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser wenigstens meiner Meinung nach rührend wird. Für mich aber [...] sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei viel klarerem Verstande als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird, und meine Klage ist daher möglichst vollkommen, bricht auch nicht etwa plötzlich ab wie wirkliche Klage, sondern verläuft rein und schön. Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer über Leiden mich beklagte, die bei weitem nicht so groß waren wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht soviel Kunstaufwand wie gegenüber dem Leser." (1, 708) Das Spielerische, ja das Schauspielerische der Kunst ist dem Autor durchaus bewußt und, mit Günther Anders, "keines seiner noch so absurden Bilder wirkt völlig beliebig" (3, 41): Kafka erarbeitet eine genaue Schreibstrategie, die im erlaubt, durch die besondere, "andere" Bildlichkeit den Leser auf die intensivste Weise zu beeinflussen und in die "Zelle der Einsamkeit hineinzulocken". (4, 233)

Die am Anfang zitierte Tagebuchnotiz bezeichnet aber auch das zentrale "Thema" Kafkas, das hier seinen bildhaften Ausdruck findet: die Darstellung des dialektischen Verhältnisses zwischen Erkenntnisdrang und Erkenntnisverweigerung . "Ich bin einsam wie Franz Kafka", - soll der Autor im Gespräch mit Gustav Janouch gesagt haben (5, 104), und die bildhaft-bitteren Überlegungen über die fehlenden menschlichen Beziehungen scheinen diese einschüchternde Feststellung zu bestätigen und erlaubten mehreren Forschern, das Werk des zur absoluten Weltbekanntheit und Autorität "verurteilten" Autors isoliert von den "Vorfahren" und der "Ehe" zu interpretieren - auch oftmals mit der Überzeugung: Franz Kafka kann auch keine Nachkommen haben (in der russischen Kafka-Forschung hat die Einmaligkeit und die für die weiteren literarischen Generationen geltende Unfruchtbarkeit von Kafkas literarischer Methode Dmitrij Zatonskij hervorgehoben). (6, 134f) Andererseits sind auch nicht wenige Versuche bekannt, Kafka in einer literarhistorischen Tradition bzw. einem zeitgenössischen kulturellen Kontext zu placieren: Kafka und Dostojevski, Kleist, Dickens, Tolstoj, Goethe, Holitscher, Octav Mirbo, Peter Altenberg, Freud usw. - um nur einige zum Vergleich gezogene Namen zu nennen.

In meinem Vortrag möchte ich der obenangeführten Selbstbeschreibung von Kafka folgen und seine ambivalente schöpferische "Ehelust" hervorheben, die ihn u.a. in die "ferne Nähe" von bahnbrechenden Künstlern seiner Zeit führt, die um 1910 das Paradigma der bildenden Kunst der Moderne kreiert haben: es geht um die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts, vertreten u.a. durch Vassilij Kandinsky, Pablo Picasso, Kazimir Malewitsch, Piet Mondrian, Marcel Duchamp. Ich verwende den Begriff "künstlerische Avantgarde" ohne Anknüpfung an die ideologisch-politischen Orientierungen und Platzzuweisungen -- auch nicht im Sinne eines Georg Lukács, der Kafka als einen "nihilistischen Avantgardisten" bezeichnete (7, 55): es geht mir hauptsächlich um einige Künstler in den ersten 20 Jahren des 20. Jahrhunderts, die zum Paradigmenwechsel in der bildenden Kunst entscheidend beigetragen und die kanonische Ästhetik sowohl der idealistischen Tradition, "in der Schönheit sich nur nach dem Gesetz der Transsubstantion und der Transfiguration" zu äußern vermag, als auch der Tradition der realistischen, nachahmenden Kunst verweigert und auf die weite Peripherie des künstlerischen Lebens verdrängt haben. Es geht um die Künstler der Zeit um 1910, die dem "Machen", also dem ursprünglichen Impuls des künstlerischen Handelns, den Vorrang geben, die von den "Nachbildnern" zu den "Werkbildnern" werden - mehr noch, deren Ambitionen nicht selten über die Stufe des Werkbildens hinausgehen: sie, wie Werner Hofmann in seinem Standardwerk "Die Grundlagen der modernen Kunst" schreibt, "rivalisieren unter Berufung auf die in ihnen wirkende seherische Kraft mit dem "Wesensbildner". (8, 293) Kafkas avantgardistische Leistung, sein "Ansturm gegen die letzte irdische Grenze" (1, 878) in der Schreibkunst scheint dabei viele tiefgreifende Intentionen aufzuweisen, die der Umbruchszeit der europäischen bildenden Kunst durchaus eigen waren.

Kafkas Bezeichnung als Augenmensch scheint in der Forschung vorbehaltlos anerkannt zu sein. Wolfgang Rothe beginnt seine Einführung zum Band "Kafka in der Kunst" mit den Worten: "Von den Weisen des Menschen, die Außenwelt sinnlich wahrzunehmen, bevorzugte Franz Kafka entschieden den Gesichtssinn, ja dieser scheint bei ihm einseitig zu Lasten der anderen Sinnesvermögen ausgebildet gewesen zu sein." (9, 9) Das Bildhafte und seine entscheidende Bedeutung in der Erzählkunst von Kafka wurde auch mehrmals (seit dem Beitrag von Wilhelm Emrich "Die Bilderwelt Franz Kafkas", 1960) hervorgehoben. Es ist auch allgemein bekannt, dass Kafka ein leidenschaftlicher Zeichner war und für die "Linie" in der Kunst ein deutliches Interesse zeigte. Auch die ungewöhnlich häufige Präsenz der Bilder vom verschiedenen Rang und Ursprung in seinen fiktionalen Texten ist der Forschung nicht entgangen (es würde reichen, kurz auf die "Produkte" der bildenden Kunst in "Process" zu erinnern: an die Richterporträts, an die Figur der Göttin der Gerechtigkeit und ihre wesentlichen Transmutationen, aber auch an eine unflätige Zeichung, die Joseph K. auf dem Tisch des Untersuchungsrichters entdeckt; es wäre in diesem Zusammenhang auch wichtig, auf die "innere Ikonographie" der Schlußszene des Romans hinzuweisen - mit ihrer Verarbeitung mehrerer Bildvorlagen: von den Gemälden, die die Opferung von Isaak verschiedentlicherweise darstellen, bis zu einer zeitgenössischen antisemitischen Flugblattzeichung, die drei grausame Männer darstellt, von denen der eine einen schutz- und widerstandslosen Jungen festhält und zwei andere ihm die Kehle mit einem langen Messer durchschneiden. (10, 22f.)

Dabei springt es in die Augen, wie wenig die Kafka-Forschung sich für den Problemkreis "Kafka und die bildende Kunst" interessierte. "Es ist ... auffällig, daß Kafkas ausgedehnte Beschäftigung mit der bildenden Kunst eine verhältnismäßig geringe Beachtung gefunden hat" (11, 293) - beteuert Heinz Ladendorf 1961, nach ca. 10 Jahren der Kafka-Forschung, in seinem Beitrag, der mit überzeugenden kunsthistorischen Kenntnissen ausgerüstet ist und die meisten Erwähnungen der bildenden Künstler bei Kafka auflistet. Aber auch 30 Jahre danach wiederholt ein anderer Forscher, Jiri Kotalik: "Im Verhältnis zur Persönlichkeit und dem Werk Franz Kafkas wird das Gebiet der bildenden Kunst eher gelegentlich und marginal in der Beziehung zu den Hauptanliegen seines Lebens und Schaffens erwähnt". In seinem Essay "Kafka und die bildende Kunst" setzt der tschechische Forscher ein bescheidenes Ziel: "Die Absicht bei meinen heutigen Bemerkungen ist es, wenigstens daran zu erinnern, daß Kafka seit seiner Jugend ein ständiges Verhältnis zur bildenden Kunst hatte". (12, 67)

Im Kafka-Handbuch nimmt dieses Thema auch einen mehr als bescheidenen Platz ein: es werden die Zeichnungen von Kafka kurz dargestellt in der Sparte "Lebenszeugnisse", wobei dem künstlerischen Inhalt nur wenige Zeilen gewidmet sind. (13) Hartmut Binder beschreibt "Kafkas Verständnis bildender Künstler", bleibt aber nach der minutiösen biographischen Schilderung einiger Kontakte von Kafka zu den Werken der bildenden Kunst überzeugt: "Überblickt man das ausgebreitete Material, so läßt sich sagen, daß Kafka zwar gelegentlich den Wunsch gehabt haben mag, mehr über die Voraussetzungen und die Schöpfer bestimmter bildnerischer Werke zu erfahren, daß er aber doch die von ihm beigezogenen Quellen hauptsächlich als Studienmaterial für die Lebensprobleme angesehen hat, die er selbst, nicht allein als Schreibender, mit sich und seiner Umwelt hatte". (14, 33) Die lapidare Feststellung, dass Kafkas Interesse für Gaugin und van Gogh nur in einem Punkt "eine bemerkenswerte Übereinstimmumg" aufweist, nämlich, dass sie "ein erfülltes Leben unter der südlichen Sonne" führten, was Kafka als Ideal vorschwebte, scheint das totale Desinteresse des Forschers für die kreativen Kontexte des Prager Autors aufzuweisen und jegliche Partizipation Kafkas an den Gehalten und Formen der Kunstströmungen seiner Epoche auszuschließen.

Es kann eine unumgängliche Frage entstehen: Bin ich hier ev. auf einem falschen Terrain, das für Kafka selbst irrelevant bzw. marginal war? Diese Frage zu beantworten zu versuchen und auf Grund einer ev. Antwort eine neue Frage aufzuwerfen, nämlich die Frage nach den Beziehungen von Kafkas Werk zur bildenden Kunst der europäischen Avantgarde um 1910, wäre das eigentliche Anliegen meines Beitrags. Und ich möchte diese Frage-Antwort-Frage-Perspektive in zwei Schritten umreißen, indem ich, erstens, Kafkas prononciertes und permanentes Interesse für die bildende Kunst, seine Kenntnisse in der Kunstgeschichte und seine "intervisuellen" Strategien umreiße, und zweitens, in Kafkas Werk die Spuren seines "einsamen Dialogs" mit der zeitgenössischen Kultur der künstlerischen Avantgarde auf der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten seines "traumhaften innern Lebens" zu stellen versuche.

 

1. Es ist bekannt, daß "Kafkas dichterisches Werk in einer Zeit aufwächst, die für die bildende Kunst in Europa eine besondere Bedeutung besitzt. ... die Jahre um 1910 (verarbeiten) die westeuropäischen Anstöße seit den die Wandlung der Kunst entscheidenden neunziger Jahren und (führen) zugleich eine erste Blüte der Moderne herauf." Dabei ist "die Bedeutung der bildenden Kunst für die Dichtung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts ständig gewachsen. Sie spielt nicht nur als Stoff in Romanen, Erzählungen und Gedichten eine große Rolle. Charakteristisch ist eher, daß die Gestalt des Kunstwerkes und seine Form zum Gegenstand der dichterischen Aussage gemacht werden". (11, 293) Es ist auch die Zeit der massiven Selbstreflexionen der bildenden Künstler, der sog. "Literarisierung" der Kunst (im deutlichen Kontrast zu einem der Gebote der deutschen idealistischen Ästhetik "Bilde Künstler, rede nicht"). Dieser Prozeß der Selbstbesinnung der Kunst und Literatur findet seinen Ausdruck auch im breiten Auftreten der sog. "Doppelbegabungen", die sowohl Literatur als auch bildende Kunst zum Hauptbereich ihrer schöpferischen Realisationen wählen (Kandinsky und Kokoschka sind hier u.a. zu erwähnen). Die Selbstreflexionen und Selbstdarstellungen der Künstler zeugen von ihrem irritierten Verhältnis zum Publikum, aber auch von der Hinwendung zum quasi literarischen Narrativ, dessen Notwendigkeit bei der fortschreitenden Zerstörung der tradierten Formen und Inhalte der bildenden Kunst sowohl für den Künstler, als auch für sein Publikum augenscheinlich ist.

Heinz Ladendorf ist als erster "einigen Fingerzeigen in den Tagebüchern, Briefen, Romanen und Erzählungen" nachgegangen und hat zu zeigen versucht, "daß auch Kafka, wie viele andere Dichter der Zeit, enge Beziehungen zur Kunst und sogar besonders enge Beziehungen zur Kunstgeschichte" besaß. (11, 294)

Wie bekannt, hat Kafka Kunstgeschichte studiert. Im Wintersemester 1901/1902 belegte er an der Prager Universität eine Vorlesung von Schultz zur Geschichte der deutschen Baukunst und dessen kunstgeschichtliche Übungen, im Sommersemester 1902 die Vorlesungen zur Geschichte der niederländischen Malerei und zur Geschichte der christlichen Bildhauerei. Im Sommersemester 1905 hat er noch an den kunstgeschichtlichen Übungen für Anfänger von Schmied teilgenommen. Auf die enge Verbindung mit dem Kunsthistoriker Oskar Pollak, einem ehemaligen Mitschüler, wurde auch oftmals hingewiesen. "Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß eben Oskar Pollak Franz Kafka gründlich in die Geschichte der bildenden Kunst einführte", meint Kotalik. (12, 68) Unter Pollaks Einfluß bezieht Kafka zwischen 1901 und 1904 die Zeitschrift "Der Kunstwart", die er eifrig liest. Hartmut Binder meint sogar: "In gewisser Beziehung blieb die Zeitschrift ... , auch für seine Auffassung von Literatur, prägend für sein ganzes Leben". (14, 18)

In den Tagebüchern findet man auch Eintragungen, wo Kafka versucht, Kunstwerke mit wenigen Worten eindringlich zu beschreiben, z.B. geht es 1910 um eine Zeichnung von Schnorr von Carolsfeldt (1877) und 1911 um eine Zeichnung von Johann Gottfried Schadow (Friedrich v. Schiller, 1804). Ob diese kurzen und ziemlich lapidaren Aufzeichnungen als "Belege für eine Sehfähigkeit und Beobachtungsgabe" aufzufassen sind, "die auf eine schon lange vorausgehende Teilnahme an Werken der bildenden Kunst zurückschließen lassen", wie Heinz Ladendorf meint, bleibt durchaus offen. Die von Ladendorf vertretene Meinung, "daß Kafka einen weiten, in dieser Zeit auch den Gebildeten keineswegs selbstverständlichen Überblick über die Kunst vom Quatrocento bis zum 19. Jahrhundert besaß" (11, 296), scheint überspannt zu sein. Ja, Kafka sind mehrere Namen und Gemälden vertraut. Es werden Signorelli und Michelangelo erwähnt. Beim Besuch des Louvre scheint Kafka 1911 auf die Begnung mit den Gemälden von Mantegna, Raffael, Tizian, Tintoretto, Velasquez, Rubens, Jordaens, Veronese, Claude Lorrain, David, Ingres schon gut vorbereitet zu sein. Und doch lässt sich "aus den verschiedenen verstreuten Einzelbemerkungen ein Mosaik der kunstgeschichtlichen Kenntnisse Kafkas nicht zusammensetzen". (11, 295) Wie es oftmals in der Kafka-Forschung der Fall ist, kann hier ein apokrypher Text helfen - Kafkas Gespräche mit Gustav Janouch: Da werden mehrere Namen der Künstler genannt, die auch von einer bestimmten Erklärung und einem Kommentar seitens Kafka begleitet werden. Picasso, Kokoschka und Dadaisten werden erwähnt und kurz kommentiert.

Das Argumentationssystem von Ladendorf scheint sich dabei auf der Schiene der faktographischen Bestätigung der Beziehungen von Kafka zu konkreten Künstlern zu bewegen, wobei manche Argumente ziemlich naiv klingen: "Kafkas Stellung zur neueren Kunst zeigt nicht nur eine starke Anteilnahme, sondern auch eine seinen Schriften entsprechende Modernität. Seine Vorliebe für van Gogh wurde bereits erwähnt; das Buch mit den Abbildungen und Zeichnungen ... befand sich in seinem Besitz". (11, 298)

Da die Bestätigung der Kenntnisse Kafkas im Bereich der westeuropäischen avantgardistischen Kunst (bis auf Picasso und Dada) sehr spärlich sind bzw. gänzlich fehlen, wendet sich Ladendorf kurz der tschechischen künstlerischen Avantgarde zu: "In der böhmischen Kunst seiner Zeit hat Kafka sich mit nicht erlahmender Anteilnahme umgesehen, wie zahlreiche Notizen zeigen, die näher zu erläutern freilich einem Spezialisten vorbehalten bleiben muss: die Namen von Ales, Asher, Bernhard, Bruder Capek, Myslbeck, Nowak, Pietsch, Pittermann, Saloun, Sucharda, Sychra, Szafranski" (11, 302) kommen wiederholt in den Tagebüchern und Briefen vor.

Im Beitrag von Kotalik, dem von Ladendorf ersehnten "Spezialisten", wird die "Rettung der Avantgarde" für Kafka fortgesetzt, indem auf die entscheidenden Impulse in der Richtung der aktuellen Erscheinungen der zeitgenössischen Kunst hingewiesen wird, die aus den Jahren der Freundschaft mit Max Brod kommen: "Es ist eines der unvergänglichen Verdienste Max Brods um die tschechische moderne Kunst, daß er bereits beim ersten Zusammentreffen den einsetzenden Eintritt der jungen Generation begriff und würdigte, dessen erster Vorbote die Ausstellung der Gruppe "Osma" (die Acht) im Frühling 1907 war". Kotalik betont dabei: "Zu der allmählichen Ausprägung und gedanklichen Orientierung des sich konzentrierenden Interesses Franz Kafkas für die bildende Kunst, zu der Fähigkeit, die grundlegenden Werte zu erkennen und konkrete Impulse auf diesem Gebiet aufzunehmen, hat ohne Zweifel die Prager Kultur der bildenden Kunst in der Zeit des Lebens des Schriftstellers beigetragen". (12, 69) Der Forscher erwähnt viele deutsche und tschechische Namen der bildenden Künstler jener Zeit sowie zahlreiche Ausstellungen der europäischen Künstler von Rang (Rodin, Munch, Picasso u.e.a.), die die Atmosphäre der Prager Kultur stark beeinflußten. Er kommt zur Schlussfolgerung, dass "Franz Kafka in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg in Prag einen überraschenden Reichtum von Werten der bildenden Kunst der Gegenwart kennenlernen konnte. Es ist offensichtlich, daß die Zeittendenzen des Expressionismus, des Kubismus, zum Teil des Futurismus, des Schriftstellers bildnerische Sicht der Dinge und Geschehnisse bereicherten, in ihrem Interesse für das scharfe Detail und ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit der raumbezogenen Vorstellungskraft, und daß solcherart die Einflüsse der Bilder und Skulpturen wohl in vieler Hinsicht in der Struktur seines Werkes offenbar sind". (12, 80)

Die Hervorhebung des "Einflusses" auf Kafka im Sinne der alten Einflussforschung scheint die sonst nicht unwichtige These über die Vermittlungsrolle der Prager bildenden Kunst einigermaßen ins Wanken bringen zu können. Der Versuch von Heinz Ladendorf, die "Intervisualität" Kafkas durch die "Macht des Zeitstils" zu erklären, "die bei den Einzelanalysen dichterischer Werke oft ... außer Betracht bleibt", schaut viel produktiver aus, obwohl hier das konkrete Rezeptionsmaterial keine bestätigte Verbindung zu Kafka aufweist. "Die Künstler einer gemeinsamen Epoche sind meist einem gemeinsamen Anschauungsfeld und einer gemeinsamen Bilderwelt verpflichtet, die in der neueren Kunst als Ikonologie einen genauso festen Bestand hat und genauso deutlich Wandlungen erkennen läßt, wie alle Ikonographie der Jahrhunderte vorher." (11, 304) Als ein wichtiges Beispiel wird Seurats Zirkusbild (1890/1891) angeführt und mit Kafkas "bildhafter Darstellung" "Auf der Galerie" (1910/1912) verglichen.

Wolfgang Rothe meint dazu: "Im strengen Sinne beweisbar ... sind differenzierte kunsthistorische Kenntnisse Kafkas hier ebensowenig wie in anderen ikonographischen Bereichen, auf die Ladendorf ebenfalls ausführlich eingeht. Was wichtige Motive der neueren europäischen Kunst anlangt ..., der Kunsthistoriker kann lediglich erstaunt teilweise frappante motivische Parallelen zwischen der Kunstgeschichte und Kafkas Texten konstatieren; er darf zwar von dessen "bildhaften Motiven", allgemeiner von einem "bildhaften Denken" bzw. "Bilddenken" des Erzählers Franz Kafka sprechen, muss es aber beim Rekurs auf eine ezwas vage "Macht des Zeitstils" belassen, wenn er veblüffende thematische Analogien erklären will". (9, 10) Rothe setzt fort: "Wie gewagt immer so weitgehende Schlüsse erscheinen, -- eine Veranlagung Kafkas zu bildhaftem Denken, seine Neigung, sich mittels und in Bildern auszudrücken, kann keineswegs geleugnet werden." Ist diese Art, die Welt zu sehen und zu beschreiben, mit der "natürlichen Beschaffenheit" von Kafkas Auge verbunden, wie Rothe meint? "Es war kein Organ, das begierig Außenwelt einsaugt und Realität getreu abschildert" (9, 10) so Rothe, im Rahmen des Angeborenen und Naturgemäßen bleibend und somit jegliche kulturelle Quellen des Kafkaschen künstlerischen Schaffens an die Peripherie verschiebend. Hier scheint es notwendig zu sein, auch zwischen den Aufzeichnungen Kafkas zu unterscheiden, die wir in seinen Tagebüchern entdecken und die einen direkten Anlass, ein konkretes Beobachtungsobjekt haben, und denen, die in seinen fiktionalen Texten mit einer bestimmten Aufgabe beladen sind und aus seinem Gedankenbildervorrat geschöpft werden, das deutliche Bezüge zur neuen Perspektive in den bildenden Künsten aufweist.

Welches Bildinventar wird dabei von Kafka in Anspruch genommen? Aus seinen Tagebüchern können wir durchaus konventionelle "Bilder", Betrachtungen, Beschreibungen der Welt entnehmen, wo es um den direkten Beobachter geht und dieser von keiner "Poetik der verunsichernden Wirkung " (15, 354) Gebrauch macht: z.B. die Tagebucheintragung vom 22.05.1912: "Die lustige Dicke in der Loge. Die Wilde mit der rohen Nase, dem aschebestaubten Gesicht, den Schultern die sich aus dem übrigens nicht dekolletierten Kleide drängen, dem hin und her gezerrten Rücken, der einfachen weißgetupften Bluse, dem Fechterhandschuh [...] Die über den Ohren gedrehten Zöpfe, nicht das reinste hellblaue Band auf dem Hinterkopf, das Haar vorn im dünnen aber dichten Büschel geht rund um die Stirn und vorn weit über sie hinaus." (1, 421f) Und im Oktober 1913 notiert Kafka: "Der Prof. Grünwald ... Das Einschlucken der heißen Suppe, das Hineinbeißen und gleichzeitige Ablecken des nicht abgeschälten Salamistumpfes, das schluckweise ernste Trinken des schon warmen Bieres, das Ausbrechen des Schweißes um die Nase herum. Eine Widerlichkeit, die durch gierigstes Anschauen und Beriechen nicht auszukosten ist." (1, 583) Und - noch ein kurzes Zitat - Kafkas Erinnerung an den "Gerichtshof im Hotel" vom 23.07.1914: "Das Gesicht F.´s. Sie fährt mit den Händen in die Haare, wischt die Nase mit der Hand, gähnt." (1, 658)

Es fallen hier präzise Beschreibungen des Äußeren auf, eine an Flaubert erinnernde Technik der Darstellung, der Kafka durchaus gewachsen war und die er kaum in seinen literarischen Werken verwendete. Die psychologisch-mimetische Ausrichtung wird von ihm zur Kenntnis genommen, er verweigert sie aber in seiner Kunst - auf eine sehr eigentümliche Weise. Das Äußere des Geschehens wird minutiös beschrieben, diese Beschreibung enthält aber die deutlichen Brüche mit der Konvention, mit der Darstellung der empirischen Welt, die bei ihm wie auf einem kubistischen Bild konzipiert und in einer linearen Abfolge beschrieben wird, wodurch das Statische dieser Welt in seiner ganzen Erstarrung vor dem geheimnisvollen Ereignis, vor dem Rätsel, vor dem Unaussprechlichen erscheint. (Wenn wir die Aufzeichnungen von Janouch als akzeptabel annehmen, scheint von besonderer Interesse Kafkas Bemerkung zu Picasso zu sein: "Er notiert bloß die Verunstaltungen, die noch nicht in unser Bewußtsein eingedrungen sind. Kunst ist ein Spiegel, der ´vorausgeht´ wie eine Uhr - manchmal!" (5, 88f)

Ich zitiere aus "Die Verwandlung": "Gregor trat nicht in das Zimmer, sondern lehnte sich von innen an den festgeriegelten Türflügel, so daß sein Leib nur zur Hälfte und darüber der seitlich geneigte Kopf zu sehen war, mit dem er zu den anderen hinüberlugte. Es war inzwischen viel heller geworden; klar stand auf der anderen Straßenseite ein Ausschnitt des gegenüberliegenden, endlosen, grauschwarzen Hauses - es war ein Krankenhaus - mit seinen hart die Front durchbrechenden regelmäßigen Fenstern; der Regen fiel noch nieder, aber nur mit großen, einzeln sichtbaren und förmlich auch einzelweise auf die Erde hinuntergeworfenen Tropfen. Das Frühstücksgeschirr stand in überreicher Zahl auf dem Tisch, denn für den Vater war das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er bei der Lektüre verschiedener Zeitungen stundenlang hinzog. Gerade an der gegenüberliegenden Wand hing eine Photographie Gregors aus seiner Militärzeit, die ihn als Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen, sorglos lächelnd, Respekt für seine Haltung und Uniform verlangte. Die Tür zum Vorzimmer war geöffnet, und man sah, da auch die Wohnungstür offen war, auf den Vorplatz der Wohnung hinaus und auf den Beginn der abwärts führenden Treppe." (16, 68f)

Es fällt hier mehreres auf: die Detailfülle bei der Beschreibung, die eine quasi realistische Beschreibung zu sein scheint, und der deutliche Bruch mit der mimetisch-psychologisierenden Darstellung (eine gewisse Archaisierung der realistischen Sichtweise), denn es wäre kaum denkbar, diese Beschreibung als die aus der Perspektive der Hauptfigur stammende zu bezeichnen: es geht eher um eine eingeschobene Bühnenanweisung des Autors, der das völlig statische Bild beschreibt, wo die Gegenstände aus ihrer Erstarrung starren - sogar die Regentropfen weisen diese Vereinzelung und Erstarrung auf, obwohl sie auf die Erde von einer unsichtbaren Kraft "hinuntergeworfen" werden.

Die Blickperspektive ist keine psychologisch denkbare bzw. begründbare (nicht aus der Situation Gregors, nicht aus der eines sich erinnernden Erzählers). Es sind hier sozusagen Versatzstücke der realistischen Beschreibung zusammengestellt, die auf einmal zueinandergehörend und disparat sind. Ein darauffolgender quasi-realistischer Monolog Gregors weist auch diese theatralisch-unnatürlichen Züge, seine Erstarrtheit vor dem Unbegreiflichen auf. Gregor spricht einen längeren Text, bemüht sich dabei seine aufgerichtete Haltung zu bewahren und kann angeblich auch mit seinem Blick genau fixieren, wie sich alle Anwesenden gebärden ("Gregor sah ihn [den Prokuristen] auch, wie er [...] die Hand gegen den offenen Mund drückte [...] Die Mutter [...] mit [...] hoch sich sträubenden Haaren [...] sah zuerst mit gefalteten Händen den Vater an, ging dann zwei Schritte zu Gregor hin und fiel inmitten ihrer rings um sie herum sich ausbreitenden Röcke nieder [...] Der Vater ballte mit feindseligem Ausdruck die Faust [...], beschattete dann mit den Händen die Augen und weinte". (16, 69)

Es ist wohl gut bekannt, wie unbeholfen-naiv Kafkas erste Leser und Zuhörer auf seine Bilder reagierten. Nach der Lesung der Novelle "Das Urteil" vor seinen Bekannten und Verwandten notierte Kafka in seinem Tagebuch: "der alte Weltsch [...] lobte [...] besonders die bildliche Darstellung in der Geschichte: "ich sehe diesen Vater vor mir" und dabei sah er ausschließlich auf den leeren Sessel, in dem er während der Vorlesung gesessen war." Kafka reagiert ziemlich drastisch auf diese konforme bildhafte Rezeption: "Die Schwester sagte: "Es ist unsere Wohnung." Ich staunte darüber, wie sie die Örtlichkeit mißverstand und sagte: "Da müßte ja der Vater auf dem Klosett wohnen." (1, 493) Das Mißverstehen der Örtlichkeit betrifft nicht die Verwechslung einer Wohnung mit der anderen: es geht um eine andere Örtlichkeit, um die der inneren Welt. Mit Kafka "gibt (es) keine Beobachtung der innern Welt, so wie es eine der äußern gibt. Zumindest deskriptive Psychologie ist wahrscheinlich in der Gänze ein Anthropomorphismus [...] Die innere Welt läßt sich nur leben, nicht beschreiben." Der Prager Autor schreibt über "die ungeheuere Welt", die er "im Kopfe" hat. "Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar." (1, 562) Diese innere Perspektive ist die eines Starrenden, eines auf die erstarrten Zuschauer Schauenden, wenn die Welt plötzlich anders wird, und dieses Anderssein ist an den Leser zu vermitteln, der nicht nur zu den erstarrten Zuschauern gehört, sondern auch durch die Beobachtung des Beobachters zum Miterleben seiner Metamorphosen fähig wird.

"Kafkas Auffassung vom Sehen ... meint ein "Schauen", Erschauen, das von einem ... inneren Auge vollbracht wird" (9, 11), meint Wolfgang Rothe. Es entsteht ein völlig anderes Bildsystem, ein anderer Bezug zur Gegenstandswelt, der aus der Literatur jener Zeit kaum bekannt ist, aber in der bildenden Kunst der Avantgarde gerade um die Zeit entfaltet wird.

 

2. Es ist bekannt, das Kafkas Leser, besonders schreibende Leser (Susan Sontag z.B.), manchmal sehr enttäuscht auf die Kafka-Forschung reagierten. Milan Kundera greift in seinem Essay aus dem Jahre 1991 die "Kafkalogen" an: Sie hätten Kafka aus der Zugehörigkeit zum ästhetischen Kontext moderner Künstler herausgerissen (Strawinski, Webern, Joyce, Picasso). (17, 61) Heinz Ladendorf war einer der ersten, der - wenn auch aus engerer Perspektive - Kafka aus dem Kontext der literarischen Avantgarde verstehen wollte: "Wie sehr auch in ganz einfachen Zeichnungen die Auffassung und Stilisierung völlig zeitgerecht ist, kann die Nebeneinanderstellung seiner Zeichnung eines Reiters und Kandinskys Entwurf für den Blauen Reiter zeigen. Bei allem zugegebenen Abstand des Könnens sind beide Blätter schlagend vergleichbar. Dies um so mehr, als es sich nicht nur um den in der Zeit aktuellen Stoff Reiter und Reiten handelt, sondern auch um entsprechende Formbesprechungen in der gleichen kritischen Zeit des Umbruchs in der Kunst, um 1910." (11, 300) Auch Jiri Kotalik meint: Kafkas Zeichnungen "stehen in offenbarer Beziehung zu den künstlerischen Tendenzen jener Zeit, namentlich dem Expressionismus, teilweise auch dem Futurismus". (12, 67)

Joseph Strelka hat in seinem jüngsten Buch Kafkas "Sensibilität für den Geist der Zeit" hervorgehoben. "Anstatt seiner persönlichen, wo nicht gar egoistischen Absichten im Rahmen einer realistischen Oberflächendarstellung auszudrücken, versuchte er [Kafka] im Einklang mit der Theorie der expressionistischen Bewegung den wesentlichen Kern der Dinge jenseits ihrer Außenerscheinung sichtbar zu machen. Der paradoxe, subjektive Absolutismus hinter jener Haltung betont nicht die Seite des Subjektiven, sondern jene des Absoluten. Seine Figuren gleichen den blauen Pferden Franz Marcs." (18, 104) Und Gerhard Naumann hebt hervor, dass Kafkas Tagebuch "zum Schauplatz seiner nachhaltigen Bemühungen um die medialen Möglichkeiten künstlerischer Darstellung wird: ein Schlüsselproblem der europäischen Moderne insgesamt". (19, 34) Es wäre aus dieser Perspektive sehr wichtig, die stilgeschichtliche Lage Kafkas zu verdeutlichen, in jener Zeit, in der die alte Bilderwelt schon zergangen, in ihrer Ordnung völlig aufgelöst erscheint und doch in die Anfänge einer neuen, nun jeweils zunächst ganz individuell erscheinenden Bildwelt mächtig einwirkt.

Wilhelm Emrich stellt fest, dass in Kafkas Texten "die Grundlagen und

Voraussetzungen, unter denen sich bisher dichterische Sprache entfaltet hatte", zerstört werden. "Zwischen der Psyche und der empirischen Gegenstandswelt besteht kein inniges Wechselverhältnis wie in der Goethezeit. Daher kann die Gegenstandswelt nicht mehr metaphorischer, dichterischer Ausdruck für seelische Empfindungen werden, kann nicht mehr Gleichnis sein für die Gefühlswelt des Subjekts ". (20, 153) Nach einer der Bemerkungen Kafkas: "Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir sinnliche Welt nennen ist das Böse in der geistigen" (21, 236f)

Wassily Kandinsky gehört zu den wichtigsten Theoretikern und Künstlern, die um 1910 die abstrakte Malerei "erfunden" haben. Werner Hofmann meint dazu: "Was dieser "Erfindung" ihr Gewicht gibt, ist der Umstand, daß sie keinem Retortenexperiment ihre Existenz verdankt und kein "Destillat" ist, sondern von einer elementaren geistigen Offenbarung hervorgerufen wurde. Nach Kandinsky: Wenn der Geist nicht in sinnliche Formen gekleidet werden kann, dann muß eben die Malerei auf die sinnliche Wirklichkeit verzichten und sich gegenstandslose Bildzeichen erschließen, die dem Geistigen angemessen sind." (22, 12) Die Suche nach der verborgenen Geistigkeit und Kandinskys Überlegungen zum "inneren Klang" der Dinge betreffen nicht nur die Malerei, sondern auch die Wortkunst: Nach Kandinsky habe das Wort zwei Bedeutungen, "eine erste direkte und eine zweite innere". (23, 24) Dabei scheint es von einer besonderen Bedeutung zu sein, dass Kandinsky die "einfachsten" Formen und Worte anstrebt - mit der Hervorhebung der "gefühlten" Betrachtung: "Ein einfaches, gewohntes Wort [...] kann in Richtig gefühlter Anwendung die Atmosphäre von Trostlosigkeit, Verzweiflung verbreiten". (23, 25)

Guillaume Apollinaire beschreibt die Bestrebungen der künstlerischen Avantgarde jener Zeit: "Sie entfernen sich mehr und mehr von der alten Kunst der optischen Illusionen und der örtlichen Proportionen, um die Größe der metaphysischen auszudrücken. Deshalb eignen der Kunst der Gegenwart, wenn sie sich auch nicht unmittelbar aus religiösen Glaubensvorstellungen herleitet, mehrere Wesenszüge der großen Kunst, das heißt der religiösen Kunst". (22, 13) Gerade diese "heilsgeschichtliche" Perspektive der bildenden Kunst um 1910 wird zum Wesen der Avantgarde erklärt. Und gerade diese Perspektive kann bei Franz Kafka entdeckt werden, mit der notwendigen Berücksichtigung seiner ambivalenten Haltung zu jedem Rettungsversuch, der existenziell notwendig und auf einmal vergeblich ist (siehe z.B. die "Process"-Geschichte).

Es sind in der Kunst der Avantgarde zwei Pole zu verzeichnen, zwei Möglichkeiten, die von Kandinsky auch theoretisch fixiert werden. Zum einen ist es die Position von Piet Mondrian: "Die Basis alles Lebens, aller Religionen, aller Wissenschaft und Kunst ist das Bemühen um eine klare Schau des Universums". (22, 15) Zum anderen ist es van Goghs Position. Die traditionellen christlichen Themen in der Kunst empfindet er als nichtssagend. Er wird vom Sakralen "angesprochen", wenn er eine Olivenernte malt: "laßt uns nicht vergessen, daß die Dinge nicht sind, was sie scheinen, daß Gott uns durch die Dinge des täglichen Lebens höhere Dinge lehrt". (23, 18) Die dingliche Welt wird vom Maler nicht verlassen, sondern im Bereich der Wahrnehmungswirklichkeiten mit "geistigen Augen" (24, 25) wahrgenommen. Mondrians "Kunstwille" führt ihn zum anderen Pol: "Wenn man nicht die Dinge darstellt, bleibt Raum für das Göttliche". (22, 18)

Kandinsky versucht in seinem Aufsatz im Almanach des Blauen Reiters das Gegenständliche und das Abstrakte aufeinander zu verweisen und führt die Begriffe der "großen Realistik" und der "großen Abstraktion" ein. Diese bedeuten für sein Kunstverständnis zwei Wege, "die schließlich zu einem Ziel führen". Mit Werner Hofmann: "Kandinsky unternimmt eine dialektische "Bedeutungsinversion": Die gegenständliche Malerei lehnte er als "Materialismis" ab, solange sie nur die schiere Sichtbarkeit wiedergab. Sobald aber die Dinge mit Geistigkeit aufgeladen sind - das bewirkt offenbar der vergeistigende Blick des Künstlers - verdichtet sich die Gegenständlichkeit zur "großen Realistik" und wird zum Äquivalent ihres Gegensatzes, der "großen Abstraktion". Kandinsky entdeckt den "inneren Klang" der Banal- und Trivialwelt: die tote Materie ist nicht tot, sondern "lebendiger Geist", und er registriert den "inneren Klang", den jeder Gegenstand aussendet." (22, 19)

Franz Kafkas Überlegungen weisen eine nicht unwichtige Annäherung an dieses Modell der Lebenserfahrung und -darstellung: "Es ist sehr gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft". (1, 866)

Kandinsky schreibt in seinem Aufsatz: "Die erwähnte, erst keimende große Realistik ist ein Streben, aus dem Bilde das äußerliche Künstlerische zu vertreiben und den Inhalt des Werkes durch einfache ("unkünstlerische") Wiedergabe des einfachen harten Gegenstandes zu verkörpern. Der große Gegensatz zu dieser Realistik ist die große Abstraktion, die aus dem Bestreben, das Gegenständliche (Reale) scheinbar ganz auszuschalten, besteht und den Inhalt des Werkes in "unmateriellen" Formen zu verkörpern versucht". (8, 154)

Franz Kafka baut seine Welt aufgrund der Kontaminierung beider "großen" Möglichkeiten der Kunst - der großen Realistik und der großen Abstraktion. Gerhart Baumann sieht in Kafkas Zugang zum Wort und zur Schrift das "Symptom einer Bemühung, menschliches Sprechen aus dem durch Lizenz und Tabu geregelten Feld einer heteronomen Sprache, wie sie durch unsere Kultur gebildet wird, herauszunehmen; als einen Versuch, aus dem Feld der Metaphern in eine Welt unbezweifelter Bewahrheitung zurückzukehren, wie sie das Paradies vor dem Sündenfall, vor der Spaltung von Zeichen und Körper, vor der Erfindung von Liebe und Tod darstellt". (25, 218)

Dieser Versuch wird meines Erachtens "ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen", aber auch "mit wilder Vorfahrens-, Ehe- und Nachkommenslust" unternommen. Die künstlerische Avantgarde reicht Kafka die Hand - aber wie fern von ihm, - das bleibt als eine Frage, die an das Ende meiner Ausführungen gesetzt werden muß.

© Alexander W. Belobratow (Universität St. Petersburg)


LITERATUR

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2. Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenzen aus der Verlobungszeit. Frankfurt a. M. 1967.

3. Günther Anders: Kafka, Pro & Contra. München 1951.

4. Peter U. Beicken: Berechnung und Kunstaufwand in Kafkas Erzählrhetorik. In: Franz Kafka - Ein Symposium. Hrsg. von Marie Luise Caputo-Mayr. Berlin/Darmstadt 1978, S.216-234.

5. Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1968.

6. Dmitrij V. Satonskij: Franc Kafka i problemy modernizma. (Franz Kafka und Probleme des Modernismus), Moskau 1972.

7. Georg Lukacs: Wider den mißverstandenen Realismus. Hamburg 1958.

8. Werner Hoffmann: Die Grundlagen der modernen Kunst. 3. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1987.

9. Wolfgang Rothe: Kafka in der Kunst. Stuttgart, Zürich 1970.

10. Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien: Zsolnay, 1987.

11. Heinz Ladendorf: Kafka und die Kunstgeschichte. In: Walleaf-Richartz-Jahrbuch (XXIII) 1961, S. 293 - 296; (XXV) 1963. S. 227 - 262.

12. Jiri Kotalik "Kafka und die bildende Kunst" In: Kafka und Prag. Hrsg. von Kurt Krolop und Hans D. Zimmermann. Berlin u.a. 1994. S. 67 - 81.

13. Kafka-Handbuch. Hrsg. von Hartmut Binder, Stuttgart 1979. Bd 2. S.562-568.

14. Hartmut Binder, Anschauung ersehnten Lebens. Kafkas Verständnis bildender Künstler und ihrer Werke. In: Was bleibt von Franz Kafka? Hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 1985. S. 33.

15. Viktor Zmegac: Der europäische Roman. Tübingen 1990.

16. Franz Kafka: Erzählungen. Frankfurt/Main 1983.

17. Beatrice Sandberg: "Schreiben oder Leben" und die Suche nach verbündeten. In: Franz Kafka: Eine ethische und ästhetische Rechtfertigung. Freiburg i. Br. 2002. S. 59 - 84.

18. Joseph P. Strelka: Der Parabolistiker Franz Kafka. Tübingen 2001.

19. Gerhard Neumann:"Eine höhere Art der Beobachtung". Wahrnehmung und Medialität in Kafkas Tagebüchern. In: Franz Kafka: Eine ethische und ästhetische Rechtfertigung. Freiburg i. Br. 2002. S. 33 - 58.

20. Wilhelm Emrich: Franz Kafka. Bonn 1961.

21. Franz Kafka: Gesammelte Werke in 12 Bdn. Frankfurt a.M. 2001. Bd. 6

22. Werner Hofmann: Malerei in der Nachfolge Christi. Hamburg 1993.

23. Claudia Emmer: Bühnenkompositionen und Gedichte von Wassily Kandinsky im Kontext eschatologischer Lehren seiner Zeit 1896 - 1914. Frankfurt a.M. 1998.

24. Rudolf Steiner: Die Erkenntnis der Seele und des Geistes. Dornbach 1965.

25. Gerhart Baumann: Kafkas "Schloß"-Roman: Das parasitäre Spiel der Zeichen. In: Franz Kafka. Schriftverkehr. Hrsg. von Gerhart Baumann und Wolf Kittler. Freiburg 1990, S. 199-221.


5.9. Austrian Writers and the Unifying Aspects of Cultures

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For quotation purposes:
Alexander W. Belobratow (Universität St. Petersburg): Kafka und die künstlerische Avantgarde. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_09/belobratow15.htm

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